Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Er steht da, ziem­lich si­cher noch auf den Bei­nen. »Fir­ma heißt?«

»Klemm­zig und Lan­ge«, sagt Ku­falt atem­los, wäh­rend der Krü­ger Adi mit ei­nem Stadt­plan grin­send im Hin­ter­grund auf­taucht.

»Klemm­zig«, sagt Bert­hold und macht einen Griff mit der Hand. »Klemmt sich was, siehs­te, Stroh­kopf? – Lan­ge …«, sagt Bert­hold und macht einen Griff mit der Hand. »Langt sich was, siehs­te, Idi­ot? Barm­beck – barmt sich was, hörs­te, Flach­kopf? Grüß die an­de­ren Trot­tel von mir, grüß sie schön, grüß sie vom Bert­hold …«

Ku­falt ist längst fort­ge­schos­sen, das Hirn er­leuch­tet von zehn­tau­send Ki­lo­watt Ker­zen.

9

Die sie­ben Rein­ge­leg­ten hat­ten einen ein­zi­gen Trost: die Abrech­nung mit Herrn Pat­zig am nächs­ten Tag. Um­sonst! Um­sonst! Kein Pat­zig ließ sich se­hen.

»Hat dei­ne Stel­le im Ex­port be­kom­men, tod­si­cher«, flüs­tert Ku­falt zu Maack.

»Da­rum hat er auch so an­ge­ge­ben, fei­ger Stub­ben der, fei­ger.«

»Den er­wi­schen wir doch noch mal«, sagt Jäns­ch zu den bei­den und streicht an ih­nen vor­bei zum Farb­band­kas­ten.

»Mein Farb­band wird auch so grau«, sagt Maack zu Ku­falt und streicht nach.

»Ich muss doch auch mal …«, sagt Ku­falt zu nie­man­dem als zu sich selbst und stellt sich zu de­nen.

»Vi­el­leicht hat er doch bei Jauch ge­quatscht«, sagt Jäns­ch zu Maack.

»Musst du auch hier ste­hen!« pro­tes­tiert Maack ge­gen Ku­falt. Und zu Jäns­ch: »Hof­fent­lich nicht. O Gott, nun kommt auch noch Deutsch­mann! Mensch, wenn Jauch uns hier zu­sam­men sieht …?«

»Farb­band ganz blass«, knurrt Deutsch­mann. »Und Jauch te­le­fo­niert end­los. Ich kann’s von mei­nem Platz durch die Tür hö­ren. We­gen ei­nem großen Auf­trag. Ich denk im­mer …«

»Genau wie ich«, un­ter­bricht ihn Maack. »Der Stub­ben, der Pat­zig, hat uns zu­erst gar nicht ver­koh­len wol­len. Mit dem Auf­trag auf Drei­hun­dert­tau­send, das stimmt, das geht in Ord­nung. Erst wie wir ihn dann so ge­bet­telt ha­ben we­gen der Adres­se, da ist er auf die Idee ge­kom­men, uns rein­zu­le­gen.«

»Das kann stim­men«, pflich­tet Ku­falt bei. »Vi­el­leicht reist er sel­ber auf die Tour mit dem großen Auf­trag?«

»Aber er kann ihn doch nicht al­lein ma­chen.«

»Wer weiß, mit wem er die Sa­che schie­ben will!«

»Wer will die Sa­che schie­ben …?!!« sagt di­rekt zwi­schen ih­nen Jauchs böse Stim­me. Die vier, in ih­rem Farb­band­ei­fer, sie ha­ben nicht die plötz­lich tie­fe, ne­ben­ge­räusch­freie, ar­beit­sam schmet­tern­de Stil­le der Schreib­stu­be be­ach­tet, auch nicht das war­nen­de Räus­pern Sa­gers.

Jauch steht un­ter ih­nen, rot an­ge­lau­fen, bei­na­he zit­ternd vor Wut. »Hier wird wohl ein Ver­bre­chen ver­ab­re­det, ja, mei­ne Her­ren? Hier rei­ßen ja Zu­stän­de ein, Zu­stän­de …«

Er stei­gert sich zum Schrei­en. Die Tür zum Ne­ben­zim­mer öff­net sich, die Köp­fe der bei­den nicht vor­be­straf­ten Mit­ar­bei­te­rin­nen er­schei­nen, die grö­ße­re, die Zib­be, sagt: »Nicht so laut, Herr Jauch. Es sitzt doch Kund­schaft in der Dik­tat­stu­be.«

Und sie schau­en un­ge­niert wei­ter der Sze­ne zu.

»Wir ha­ben«, sagt Maack, »über Herrn Pat­zig ge­spro­chen, wie der das wohl ge­scho­ben hat –: Die Aus­hilfs­stel­le im Ex­port soll­te ich doch krie­gen. – We­gen Ver­bre­chen und so aber wer­de ich mich bei Herrn Pas­tor Mar­ce­tus be­schwe­ren.«

Maack er­greift ein Farb­band und geht ru­he­voll an sei­nen Platz.

»Ich dito!« sagt Jäns­ch. »So was ha­ben Sie über­haupt nicht zu sa­gen, in Ge­gen­wart von de­nen …«

Kopf­be­we­gung zur Tür mit den Mäd­chen, und mit ei­nem Farb­band geht auch er.

»Ich wer­de Straf­an­trag ge­gen Sie stel­len, Herr Jauch«, sagt Deutsch­mann em­pört und ver­schwin­det an sei­nen Platz.

»Mei­ne Her­ren …«, sagt Jauch atem­los, hilf­los. Die gan­ze Schreib­stu­be glotzt auf ihn. Ku­falt will sich wort­los drücken.

»Das ist al­les, seit Sie hier sind, Herr Ku­falt«, brüllt Jauch in ei­nem neu­en Wu­t­an­fall. »Halt! Kom­men Sie mit! Kom­men Sie mit auf mein Zim­mer.«

»Lass dir nichts ge­fal­len von dem, Wil­li«, flüs­tert Maack ziem­lich deut­lich.

Und Ku­falt, ver­lo­ren, zer­fal­len – warum habe aus­ge­rech­net ich im­mer das Pech? –, und Ku­falt zot­telt brav hin­ter Jauch in sei­ne Stu­be, de­ren Tür er hin­ter dem Schreib­stu­ben­vor­ste­her höf­lich schließt.

Aber noch kommt nicht der ge­fürch­te­te Aus­bruch. Jauch zwar rennt auf und ab wie ein Stier, der sto­ßen möch­te. Aber schon geht er lang­sa­mer, hebt den Kopf, be­trach­tet ein­mal die Ge­stalt an der Tür, geht wei­ter, nimmt ein Blatt vom Schreib­tisch.

Und schließ­lich stellt er sich ans Fens­ter und sagt – zum Fens­ter, nicht zu Ku­falt: »Ban­kier Hop­pensaß be­kommt vie­le Bet­tel­brie­fe von Vor­be­straf­ten. Das hat sich her­um­ge­spro­chen, dass es sein Ste­cken­pferd ist, Vor­be­straf­ten zu hel­fen, ja.«

Er macht eine lan­ge Pau­se, Ku­falt war­tet.

»Ban­kier Hop­pensaß«, sagt Herr Schreib­stu­ben­vor­ste­her Jauch, nicht mehr zum Fens­ter, son­dern mehr ge­gen die Schreib­tisch­lam­pe hin, »Ban­kier Hop­pensaß hat eine Idee ge­habt, über die ich mir kein Ur­teil er­lau­be. Er will jetzt die Re­cher­chen, ob die sich an ihn wen­den­den Straf­ent­las­se­nen wür­dig oder un­wür­dig sind, durch einen Straf­ent­las­se­nen ma­chen las­sen. Er meint, der wüss­te am ers­ten Be­scheid. Ja.«

Ku­falt hält den nach­denk­lich be­trüb­ten Blick der bö­sen Schwe­in­s­äug­lein drü­ben aus. Wäre ein herr­li­cher Pos­ten für mich, ist sein ers­ter Ge­dan­ke. Krieg ich doch nie. Mit Speck fängt man Mäu­se, sein zwei­ter.

»Wir sol­len ihm also je­mand Ver­trau­ens­wür­di­gen emp­feh­len, ja, Herr Ku­falt …?«

Stil­le. – Lan­ge Stil­le.

Dann sagt Ku­falt, schlu­ckend, aber mit wil­der Ent­schlos­sen­heit: »Wir ha­ben wirk­lich nur dar­über ge­spro­chen, warum Pat­zig den Aus­hilfs­pos­ten im Ex­port be­kom­men hat. Pat­zig schreibt kaum bes­ser als ich.«

»So«, sagt Herr Jauch tro­cken. »Ihre An­sicht«, sagt Herr Jauch böse. »Ich will Ih­nen was sa­gen«, setzt Jauch an, kommt aber nicht zu dem, was er Ku­falt zu sa­gen hat, denn das Te­le­fon klin­gelt.

»Schreib­stu­be Pre­sto. – Ja, Herr Jauch ist sel­ber am Ap­pa­rat. – Wie? Wir müs­sen end­lich zum Ab­schluss kom­men? Ich soll mich ent­schei­den? – Aber na­tür­lich! Elf Mark ist schon sehr nied­rig. Nur weil es drei­hun­dert­tau­send sind, sonst im­mer zwölf. – Ihr Adres­sen­ma­te­ri­al schreibt sich glatt run­ter? Ja, da müss­te ich doch Ihr Adres­sen­ma­te­ri­al erst mal se­hen. – Schön, schön, wenn es sehr gut ist, viel­leicht noch eine hal­be Mark we­ni­ger, ich wür­de dann so­fort mit Herrn Pas­tor Mar­ce­tus spre­chen. – Nein, nein, Sie be­kämen heu­te Nach­mit­tag end­gül­ti­ge Nach­richt. – Na also, ich kom­me dann so­fort, in ei­ner Vier­tel­stun­de bin ich bei Ih­nen.«

Jauch hängt den Hö­rer an. Er hat Ku­falt ganz ver­ges­sen. Jetzt ent­deckt er ihn ne­ben der Tür, auf­merk­sam die Rück­en­ti­tel von Nien­kam­mers Gü­ter­adress­buch stu­die­rend.

»Ich habe jetzt kei­ne Zeit für Sie«, sagt er mür­risch. »Ich muss so­fort weg. Wir spre­chen uns aber noch nach­her.«

»Darf ich noch um et­was bit­ten?« fragt Ku­falt und ist von ei­ner un­ge­wohnt schmeich­le­ri­schen De­mut. »Ich habe so wahn­sin­ni­ge Zahn­schmer­zen. Darf ich nicht mal gleich zum Zahn­arzt?«

»Ich kann Ih­nen jetzt kei­nen Schein fürs Wohl­fahrt­samt aus­schrei­ben«, er­klärt Jauch. »Heu­te Mit­tag.«

»Ich geh von mei­nem Geld, Herr Jauch. Ich will Ih­nen doch kei­ne Sche­re­rei­en ma­chen.« Und ängst­lich: »Zahn­zie­hen kos­tet doch si­cher nicht mehr als an­dert­halb Mark?«

»Ich muss weg«, sagt Jauch.

»Ich mach auch ganz schnell«, er­klärt Ku­falt. »Ich hal­t’s wirk­lich nicht mehr aus.«

»Also mei­net­hal­ben«, sagt Jauch und rennt aus sei­nem Zim­mer.

10

Ku­falt huscht wie ein Wie­sel durch die Schreib­stu­be, im Vor­bei­lau­fen flüs­tert er Maack zu: »Hat doch nicht ge­lo­gen, der Pat­zig«, und ist schon aus der Tür. – Si­cher hat Maack sein has­ti­ges Flüs­tern gar nicht ver­stan­den.

Man­tel und Hut – was das al­les dau­ert! Jauchs Schritt ist schon nicht mehr auf der Trep­pe zu hö­ren, ach, al­les kommt dar­auf an, dass Jauch nicht fährt, dass er zu Fuß geht. Ku­falt kann nicht fah­ren, er kennt sei­nen Kas­sen­be­stand in der Ta­sche ge­nau: ein Gro­schen gleich drei Juno. (Lie­ber nicht mehr mit­neh­men, man kommt doch nur in Ver­su­chung, es aus­zu­ge­ben.)

Stra­ße. Blick nach rechts, Blick nach links: kein Jauch mehr. Un­schlüs­sig ste­hen hilft nichts, nach dem Stadt­in­nern zu? Nach den Vo­r­or­ten zu? Tex­til­haus – also ins Zen­trum! Ku­falt läuft.

An der nächs­ten Stra­ßen­e­cke sind es schon drei Mög­lich­kei­ten. Ku­falt rennt blind­lings rechts um die Ecke. Die rei­ne Wil­de-Gän­se-Jagd – es ist sinn­los.

Kein Jauch. Kein Jauch. So vie­le Men­schen. Kein Jauch. Um­keh­ren? Um­keh­ren!

Ku­falt läuft zu­rück, er kommt wie­der an die Kreu­zung, die Ver­kehrs­am­pel ist rot, aber hat er Zeit zu war­ten? Er hat kei­ne Zeit. Er stürzt zwi­schen Au­tos und Elek­tri­sche, ist plötz­lich ein­ge­keilt, ei­ner flucht, er drängt zu­rück, wie­der auf das alte Trot­toir – und, als er sich um­sieht, sie­he, wer kommt aus dem Eck­zi­gar­ren­ge­schäft, eine Zi­gar­re qual­mend? Nu, nu, der Herr Jauch!

»Na, Ku­falt, wo ge­hen Sie denn lang?«

»Hier rauf.« Er deu­tet. Er weiß ja kaum in Ham­burg Be­scheid, wenn der nach der Stra­ße und dem Na­men des Zahn­arz­tes fragt …!

 

Aber er fragt nicht.

»Ma­chen Sie nur schnell. Sie wis­sen, Sie ha­ben die­se Wo­che acht­zehn Mark zu schaf­fen. Mit oder ohne Zahn­schmer­zen. Sie ver­ste­hen mich doch? Ent­schul­di­gun­gen gib­t’s nicht.«

»Ja«, sagt Ku­falt de­mü­tig, zieht sei­nen Hut und bleibt zu­rück.

Dann schiebt er Jauch, ge­deckt von ei­nem Pär­chen, nach. Der wan­delt da­hin, mit dem fe­dern­den Ze­hen­spit­zen­schritt der Di­cken, wohl­ge­mut paf­fend, und wenn er sich ein­mal um­dreht, so si­cher nicht nach Ku­falt son­dern mehr nach den jun­gen Mäd­chen in ih­ren leich­ten Blu­sen, mit ih­ren blo­ßen Ar­men, auf ih­ren ra­schen Bei­nen.

»Pi­ckel­hengst, ver­damm­ter«, flüs­tert Ku­falt und en­tert si­cher­heits­hal­ber die an­de­re Stra­ßen­sei­te, um sich bes­ser zu ver­ber­gen.

Jauch en­tert sie eben­falls. Ku­falt wech­selt zu­rück und sieht Jauch um eine Ecke drü­ben ver­schwin­den. Ku­falt nach – oh, welch un­an­ge­nehm lee­re Stra­ße! Hier wird’s schwer. Er muss ziem­lich zu­rück­blei­ben. Jauch um die Ecke, Ku­falt Dau­er­lauf nach. Und Herr Jauch ist weg. Wie sagt man? Vom Erd­bo­den ver­schluckt!

Ku­falt steht keu­chend. Also war es doch um­sonst! Weg, end­gül­tig weg, in ei­nem die­ser Häu­ser.

Schließ­lich be­sinnt sich Ku­falt auf sei­nen Ver­stand und be­denkt, dass eine Tex­til­fir­ma einen La­den oder min­des­tens ein Schild an der Haus­tür hat, dass höchs­tens zehn, zwölf Häu­ser in Fra­ge kom­men – und er fängt an zu su­chen.

La­den? Nein, kei­ner. Und Fir­men – an fünf­zehn Häu­sern fin­den sich zwei Schil­der, die in Fra­ge kom­men: »Lem­cke & Mi­chel­sen, Kin­der­kon­fek­ti­on en gros« und »Emil Gnutz­mann, Stie­lings Nachf., Tex­til-Ver­sand«.

Al­les in But­ter, denkt Ku­falt er­leich­tert, fasst hin­ter ei­ner An­schlag­säu­le Po­sto und sieht rich­tig zwan­zig Mi­nu­ten spä­ter Herrn Jauch aus dem Haus tre­ten, ste­hen­blei­ben, ge­gen den Him­mel schau­en, eine Zi­gar­re aus der Ta­sche ho­len, sie ab­schnei­den, an­bren­nen, zur Stra­ßen­e­cke ge­hen, rum­steu­ern …

Und Herr Jauch macht kehrt, geht schlank auf Ku­falts An­schlag­säu­le zu, Ku­falt zir­ku­liert angst­voll, im­mer rum um die Säu­le. Von wel­cher Sei­te kommt er? Wenn ich ihm nun di­rekt vor den Bauch ren­ne?! Hat das Aas mich ge­se­hen – und schon ver­schwin­det Herr Jauch in ei­nem hüb­schen, klei­nen, ver­häng­ten Café, und Ku­falt be­greift plötz­lich: Jauch ist di­rekt vor dem Ab­schluss, er te­le­fo­niert nur noch Mar­ce­tus!

Ku­falt steht da, im­mer noch hin­ter der Lit­fass­säu­le, er denkt ganz schnell: Es geht uns weg, es geht uns weg! So ’ne schö­ne Chan­ce, solch großer Auf­trag kommt höchs­tens zwei­mal im Jahr … Ich müss­te rauf­ge­hen. In ei­ner Wo­che sit­ze ich doch auf der Stra­ße, acht­zehn schaf­fe ich nicht, so­lan­ge Lie­se … Wenn er da hin­ter den Gar­di­nen sitzt, kom­me ich nicht mal un­ge­se­hen über die Stra­ße. Es ist Wahn­sinn, ich gehe um die Ecke, ich gehe auf die Schreib­stu­be, Bert­hold müss­te hier sein, viel­leicht schaf­fe ich doch acht­zehn …

Und wagt es und läuft schon und steht im Ein­gang von Emil Gnutz­mann, Stie­lings Nach­fol­ger, und schielt nach dem Café, ob dort die Tür sich öff­net, ob hin­ter den Gar­di­nen Jauchs ver­flu­chen­de Faust er­scheint …

Lang­sam steigt Ku­falt die Trep­pe em­por. Be­ru­hi­gend ist es we­nigs­tens zu wis­sen, dass man einen ta­del­lo­sen An­zug trägt, den blau­en, mit den wei­ßen Na­del­strei­fen, dass man ein schickes Ober­hemd an­hat, dass man über­haupt nicht nach Vor­be­straf­t­heit riecht (wenn man sich nur rich­tig be­nimmt), son­dern dass man so aus­sieht, wie ein Ku­falt eben in sei­nen bes­ten Ta­gen aus­se­hen kann.

»Chef zu spre­chen?« fragt Ku­falt in dem ge­macht mun­te­ren Ton, den er vor man­chem Jahr auf man­chem Büro von man­chem Ge­schäfts­rei­sen­den ge­hört.

»Um was han­delt es sich denn, bit­te?« fragt das net­te blon­de Fräu­lein in der An­mel­dung mit je­nem ge­macht höf­li­chen Ton, der in je­dem Büro für je­den Uner­wünsch­ten von je­dem An­ge­stell­ten mü­he­los be­reit­ge­hal­ten wird.

»Um den Adres­sen­auf­trag«, sagt Ku­falt und horcht nach dem Trep­pen­haus, in dem ein Schritt hör­bar wird.

»Das be­ar­bei­tet Herr Bär«, sagt das Fräu­lein. »Aber ich glaub, der Auf­trag ist schon ver­ge­ben. Au­gen­blick mal. Wenn Sie so­lan­ge Platz neh­men wol­len?«

Der Schritt ist vor­bei­ge­gan­gen, aber des­we­gen wagt Ku­falt doch nicht, sich hin­zu­set­zen, je­den Au­gen­blick kann Jauch ein­tre­ten. Er geht auf und ab, sein Herz klopft ge­wis­ser­ma­ßen im Hal­se, der Mut der Fei­gen ist mal wie­der weg.

O Gott, in was habe ich mich da ein­ge­las­sen!

»Herr Bär lässt bit­ten«, sagt das Fräu­lein und geht Ku­falt vor­an. Die Tür der fa­ta­len An­mel­dung schließt sich hin­ter ihm, erst ein­mal ist Ku­falt si­cher.

»Sie wün­schen?« fragt Herr Bär kurz und schnei­dig.

Ku­falt ver­beugt sich. Er hat sich Herrn Bär als einen ält­li­chen, sor­gen­vol­len, di­cken Herrn vor­ge­stellt und fin­det einen jun­gen, gut­ge­pfleg­ten Sports­mann.

»Wir ha­ben ge­hört«, sagt Ku­falt, aus sei­ner Ver­beu­gung auf­tau­chend, »dass Sie einen grö­ße­ren Adres­sen­auf­trag zu ver­ge­ben ha­ben. Mei­ner Fir­ma wür­de sehr viel an die­sem Auf­tra­ge lie­gen. Wir sind eine ganz jun­ge Fir­ma, wir ma­chen Ih­nen da­her Kampf­prei­se, die von kei­ner Sei­te un­ter­bo­ten wer­den kön­nen.«

»Und die­se Prei­se …?«

»Wenn das Adres­sen­ma­te­ri­al ei­ni­ger­ma­ßen glatt zu schrei­ben ist, wür­den wir sa­gen: zehn Mark fürs Tau­send.«

Das Ge­sicht des jun­gen Herrn Bär ver­düs­tert sich. »Der Auf­trag ist so gut wie ver­ge­ben. Ich bin ge­wis­ser­ma­ßen im Wort.«

Er sieht Ku­falt fra­gend an.

»Nun«, sagt Ku­falt has­tig. »Wir wür­den es schließ­lich für neun Mark fünf­zig ma­chen.«

»Neun Mark«, sagt Herr Bär. »Und ich wür­de se­hen, dass ich aus mei­nem Wor­te kom­me.« Ku­falt zö­gert, und Bär er­klärt: »Wenn ich mir die Unan­nehm­lich­kei­ten schon ma­che, muss es sich we­nigs­tens loh­nen.«

»Neun Mark fünf­und­zwan­zig«, setzt Ku­falt an, als die Tür sich öff­net, die hüb­sche An­mel­de­da­me her­ein­schaut und sagt: »Herr Jauch ist jetzt da, Herr Bär.«

Ku­falt sieht fas­sungs­los zur Tür … gleich wird sie sich öff­nen … sein Schreib­stu­ben­vor­ste­her … und er in Kon­kur­renz mit ihm … er ist doch bloß ein ent­las­se­ner Straf­ge­fan­ge­ner … und au­ßer­dem ist er beim Zahn­arzt … Aber ge­setz­lich ist es ver­bo­ten, dass man je­man­dem öf­fent­lich vor­wirft, er ist vor­be­straft … oder ist es in so ei­nem Fal­le er­laubt …?

»Soll war­ten«, knurrt Herr Bär. Und zu Ku­falt: »Ihr Kon­kur­rent, wis­sen Sie. Der macht es für acht­ein­halb.«

»Nicht un­ter zehn­ein­halb«, sagt Ku­falt. »Den kenn ich doch.«

»So«, sagt Herr Bär. »Wie heißt üb­ri­gens Ihre Schreib­stu­be?«

Ku­falts Ge­hirn ver­sagt … schnell einen Na­men! Nur schnell einen Na­men!

»Cito … Pre­sto«, sagt er atem­los. Und ru­hi­ger, es war ge­wis­ser­ma­ßen ein Kurz­schluss in sei­nem Hirn: »Schreib­stu­be Cito-Pre­sto.«

»Ach nee!« lacht Herr Bär. »Sie über­bie­ten Ihre Kon­kur­renz dop­pelt. Na ja. Und wann könn­ten Sie an­fan­gen?«

»Mor­gen früh«, sagt Ku­falt und ihm schwin­delt. Kei­ne Schreib­ma­schi­nen – kein Ge­schäfts­lo­kal – und Te­le­fon müss­te ei­gent­lich auch sein.

»Und wie viel wür­den Sie täg­lich ab­lie­fern?«

»Zehn­tau­send.«

»Schön. Macht einen Mo­nat. Nee, noch fünf Tage drü­ber, wenn wir die Sonn­ta­ge ab­rech­nen.«

»Wir wür­den in ei­nem Mo­nat drei­hun­dert­tau­send lie­fern.«

»Sch-ö-n«, sagt Herr Bär nach­denk­lich und be­trach­tet Ku­falt, denkt da­bei aber sicht­lich an et­was an­de­res. »Sie kön­nen dann mor­gen früh Um­schlä­ge und Adres­sen­ma­te­ri­al ab­ho­len las­sen. Wo, sag­ten Sie, ist Ihr Ge­schäfts­lo­kal?«

»Wir sind ge­ra­de im Um­zug«, sagt Ku­falt has­tig. »Wir sind noch nicht dort und nicht mehr hier. So­bald wir über­ge­sie­delt sind, gebe ich Ih­nen un­se­re Adres­se.« Und denkt ver­zwei­felt: Welch ein Stuss, ich muss doch wis­sen, wo­hin wir zie­hen!

Aber Herr Bär ist noch im­mer mit sei­nen Ge­dan­ken an­ders­wo.

»Na schön«, sagt er ge­dan­ken­voll. Und plötz­lich leb­haft: »Wis­sen Sie, hö­ren Sie mal …« Er un­ter­bricht sich: »Ich weiß noch nicht mal Ihren Na­men, Herr …«

Es kann ja ir­gend­wie schief­ge­hen, wozu soll ich mir die Sa­che ans Bein bin­den? Drau­ßen sitzt Jauch …, denkt Ku­falt. Und sagt has­tig: »Mei­er­beer ist mein Name. Mei­er­beer!«

»Mit dem Kom­po­nis­ten ver­wandt? Oder hin­ten mit mir? Hähä!« Herr Bär lacht. »Also, Herr Mei­er­beer, wür­de es Ih­nen et­was aus­ma­chen, wenn ich Sie über den Lie­fe­ran­ten­aus­gang hin­auslie­ße? Sie wis­sen, Ihr Kon­kur­rent, Herr Jauch … ich bin da ge­wis­ser­ma­ßen im Wort … ich muss das ir­gend­wie dre­hen – Sie ver­ste­hen?«

»Aber ger­ne!« lacht Ku­falt er­leich­tert, und sein Herz be­ginnt ru­hi­ger zu klop­fen. Er be­greift plötz­lich, dass er heu­te sei­nen Glücks­tag hat. »Wäre mir ja auch pein­lich, wenn die Kon­kur­renz sähe, ich habe ihr den Auf­trag weg­ge­schnappt.«

»Na also!« sagt Bär. »Dann kom­men Sie man.«

»Wie viel Druck­sa­chen le­gen Sie denn über­haupt ein?« fragt Ku­falt plötz­lich.

»Ach, nicht schlimm«, trös­tet Herr Bär. »Ei­nen acht­sei­ti­gen Pro­spekt fal­zen und eine Be­stell­kar­te in den Falz.«

»Be­stell­kar­te ein­le­gen macht auch wie­der Ex­tra­ar­beit.«

»Ist ja nicht so schlimm«, trös­tet Herr Bär.

»Na, er­lau­ben Sie mal, bei drei­hun­dert­tau­send! Das sind min­des­tens vier, fünf Ar­beits­ta­ge ex­tra!«

»Also neun Mark«, sagt Herr Bär und hält die Hand hin. »Neun Mark fünf­zig ist das Äu­ßers­te«, sagt Ku­falt und ver­steckt die sei­ne.

Herr Bär ent­rüs­tet sich: »Er­lau­ben Sie mal, Sie ha­ben schon neun Mark fünf­und­zwan­zig ge­sagt.«

»Nicht mit ei­ner Ant­wort­post­kar­te«, sagt Ku­falt. Er steht auf der obers­ten Trep­pen­stu­fe, Herr Bär auf ei­nem Ab­satz vor der Tür.

»Also las­sen wir es«, sagt Herr Bär und nimmt sei­ne Hand wie­der an sich. »Herr Jauch war­tet.«

»Sie müs­sen uns auch le­ben las­sen«, sagt Ku­falt, si­cher, dass Jauch es nie für den Preis tut. »Und Sie be­kom­men von uns Adres­sen sau­ber wie von kei­ner Fir­ma.«

»Das sa­gen Sie alle!« grollt Herr Bär. »Nach­her kommt die Hälf­te un­be­stell­bar zu­rück.«

»Dann kann es nur am Adres­sen­ma­te­ri­al lie­gen.«

»Nicht bei uns, un­se­re Adres­sen stim­men alle.«

»Das sa­gen nun wie­der alle Adres­sen­auf­trag­ge­ber«, lä­chelt Ku­falt.

»Also sa­gen Sie ein ver­nünf­ti­ges Wort, Herr Mei­er­beer«, sagt Herr Bär und lä­chelt, von Neu­em be­zwun­gen durch den Na­men. »Schrei­ben Sie sich ei­gent­lich mit a-Um­laut wie ich?«

»Nein, mit Dop­pel-e«, er­klärt Ku­falt. »Neun fünf­zig.«

»Also sa­gen wir neun fünf­und­zwan­zig, hier ist mei­ne Hand.«

»Ich will ja auch nicht so sein«, be­sänf­tigt sich Ku­falt. »Neun vier­zig.«

»Herr Jauch sagt, er kann nicht län­ger war­ten«, er­klärt die An­mel­de­da­me.

»Herr Jauch kann mir …!« schreit Herr Bär wü­tend. Und ein­len­kend: »Nein, halt, nein, Fräu­lein, er kann nicht. Er soll nur noch drei Mi­nu­ten war­ten.« Bit­tend zu Ku­falt: »Neun drei­ßig.«

»Neun fünf­und­drei­ßig«, sagt Ku­falt. »Mei­net­hal­ben. Aber bar Kas­se alle Zehn­tau­send bei Ab­lie­fe­rung.«

»Ab­ge­macht«, sagt Bär. »Be­stä­ti­gen Sie mir das schrift­lich. Ich ge­gen­be­stä­ti­ge es Ih­nen dann.«

»Ge­macht«, sagt Ku­falt. Und nun tref­fen sich die Hän­de. »Also mor­gen früh …«

»Ich dan­ke auch na­mens mei­ner Fir­ma bes­tens für den Auf­trag«, sagt Ku­falt, plötz­lich wie­der sehr for­mell. Er schüt­telt noch­mals die Hand des an­de­ren. »Auf wei­te­re ge­deih­li­che Ge­schäfts­ver­bin­dung!«

Er steigt wür­dig trepp­ab, wäh­rend Herr Bär sich zö­gernd dem Fal­le Jauch und sei­nem zu dre­hen­den Wor­te zu­wen­det.