Es ist gegen zehn Uhr vormittags.
In der Schreibstube Cito-Presto stehen die sechs Schreibmaschinen schreibbereit. Neben jeder sind aufgehäuft Stöße von blauen Umschlägen; Kästen mit blauen, grünen, roten, gelben Kartothekkarten sind geöffnet, aus jedem ist eine Anzahl Blätter herausgenommen und liegt da, sich in Adressen zu verwandeln. Vor den Maschinen sitzen sechs Mann, die Hände ruhen noch tatenlos auf dem Tisch oder im Schoß.
An einem Ecktisch sitzen Kufalt und Monte, die Drucksachen sind aufgestapelt, die Karten sind noch säuberlich gebündelt, die Falzmesser liegen bereit.
Erwartungsvolle Stille herrscht.
Nun steht Maack auf, er schiebt die Brille zurecht, er setzt an: »Meine Herren …«
Schon hält er inne, er wird ein wenig rot, als er sich verbessert: »Kameraden!«
Er sieht sie alle der Reihe nach an, und der Reihe nach erwidern sie seinen Blick.
»Kameraden«, sagt Maack, und seine Stimme wird frischer, »gleich werden wir anfangen zu schreiben, was wir seit Jahr und Tag geschrieben haben: Adressen. Und doch gehen wir heute an eine neue hoffnungsvolle Arbeit: Wir arbeiten allein für uns selbst!«
Er macht eine Pause.
Er sagt: »Wenn wir erfüllen wollen, was wir übernommen haben, muss jeder von uns bei der Stange bleiben. Jeder von uns kann in diesem Monat viel Geld verdienen. Kameraden, spart es euch auf. Keine Mädchen, kein Kino, keine Trinkerei, diesen einen Monat lang. Vielleicht gelingt es uns dann.«
Wieder eine Pause …
Maack hält inne, lächelt, er sagt: »Wir haben gewissermaßen einen Monat Bewährungsfrist, es wird mit uns noch einmal versucht, wir versuchen es mit uns noch einmal …«
Er steht da und lächelt noch immer. Dann vergeht das Lächeln langsam, er sieht sich um, er sagt: »Ich denke, wir können mit Arbeiten anfangen.«
»Einen Augenblick, bitte«, ruft Jänsch. »Ich will einen Antrag stellen.«
»Ja?«
»Ich beantrage, dass wir für die eigentliche Arbeitszeit ein Sprechverbot einführen. Jede Übertretung wird mit einem Groschen Strafe zugunsten einer Gemeinschaftskasse belegt.«
Maack sieht sich fragend um. »Ich denke, das ist ein vernünftiger Vorschlag. Ist jemand dagegen?«
»Aber …«, sagt Monte.
»Du hältst den Mund, Monte, du hast hier gar nichts mitzureden«, sagt Jänsch.
»Wenn ich hier mitarbeiten soll, will ich auch mitreden«, sagt Monte trotzig.
»Klappe! sage ich dir«, sagt Jänsch drohend. »Oder …« Er hebt seine Hände.
»Ich stelle fest, dass der Antrag angenommen ist«, sagt Maack. »Noch etwas?«
»Ja«, sagt Deutschmann, »ich beantrage, dass unter denselben Bedingungen ein Rauchverbot erlassen wird.«
Betretenes Schweigen, denn fast alle sind leidenschaftliche Raucher.
»Rauchen kostet nur Geld«, sagt Deutschmann überredend, »hält in der Arbeit auf, und so groß ist der Raum auch nicht, dass acht Mann ununterbrochen qualmen können.«
»Das wird ja hier das reine Kittchen«, sagt Öser unzufrieden.
»Wenn ich nicht qualmen darf, macht mir der ganze Krempel keinen Spaß«, erklärt Fasse.
»Aber vernünftig ist es«, sagt Deutschmann.
»Finde ich auch«, sagt Maack. »Schließlich kann jeder, der will, eine auf dem Lokus stoßen.«
»Dann geht’s von der Arbeitszeit ab«, widerspricht Sager. »So kann man während der Arbeit rauchen.«
Verdrossenes Schweigen.
»Soll ich abstimmen lassen?« fragt Maack zögernd.
»Ich hab einen anderen Vorschlag«, sagt Kufalt eifrig, »alle zwei Stunden oder meinethalben alle anderthalb Stunden darf jeder eine Zigarette rauchen. Maack gibt das Signal. Dann freut man sich immer drauf und arbeitet umso schneller.«
»Gut, der Mann! Sehr gut!« lobt einer.
»Das ist vernünftig.«
»Besser noch alle Stunde!«
»Alle halbe Stunde!«
»Warum nicht alle zehn Minuten, du Dussel?«
»Ich denke also: alle anderthalb Stunden«, sagt Maack. »Wer dagegen ist, hebe die Hand. – Keiner. Der Vorschlag Deutschmann-Kufalt ist angenommen. Noch ein Vorschlag?«
Einen Augenblick Stille, dann sagt Jänsch: »Ich schlage vor, dass wir endlich mit der Arbeit anfangen. Es ist schon zehn Uhr zwanzig.«
»Los!« sagt Maack scharf. »An die Arbeit, Kameraden, an unsere Arbeit.«
Und im gleichen Augenblick ist der Raum erfüllt von dem scharfen, schmetternden Klappern der Maschinen, die Glöckchen klingeln, die Wagen rasseln, Umschlag um Umschlag, das fliegt!
Kufalt falzt und falzt. »Beste deutsche Qualitätsware aus der Firma Emil Gnutzmann – Stielings Nachfolger, Textil-Versand«, liest er auf dem Prospekt.
Ob ich je dazu kommen werde, den Inhalt zu lesen? – Der Monte falzt nicht schlecht, er macht es mindestens ebenso schnell wie ich – man muss eben erst warm werden und den Dreh heraushaben. – Fein habe ich das hingekriegt, eigentlich ist alles mein Werk, der Auftrag und die Maschinen. – Na, im schlimmsten Falle gebe ich die in einem Monat zurück …
Monte neigt sich zu ihm und flüstert: »Der hat aber angegeben, der Maack, für so ’ne Mistarbeit so ’ne Rede!«
»Maack«, sagt Kufalt laut, »der Monte will dir einen Groschen geben, wegen Flüstern …«
Monte will protestieren, aber Jänsch sagt: »Schnauze, du Aas!«
Worauf Maack sagt: »Jänsch, bitte auch einen Groschen.«
Gelächter. Weiter. Weiter. Die ersten Hunderte sind fertig. Kufalt holt sie, notiert sie für jeden (sie arbeiten jeder für sich im Akkord), das Einstecken der gefalzten Drucksachen fängt an. Erst liegt nur ein kleiner Haufen in der Zimmerecke, dann wächst er, wächst, breitet sich aus, türmt sich höher …
»Elf Uhr fünfzig«, sagt Maack. »Eine Zigarette.«
Und dann wieder Schmettern, Falzen, Schmettern, Einstecken. Draußen ist der Himmel blau. Und so viel Sonne … Sie sitzen in einer großen Dachkammer, es wird heiß und heißer. Wortlos macht Maack das Fenster auf, später öffnet Deutschmann die Tür. Jänsch zieht zuerst die Jacke aus, dann folgen ihm die anderen. Jänsch zieht zuerst Kragen und Schlips ab, dann folgen ihm die anderen. Jänsch zieht zuerst das Hemd aus und schreibt mit bloßem Oberkörper –: brüllendes Gelächter. Dann folgen ihm die anderen.
Und Schmettern, Falzen, Schmettern, Einstecken.
»Ein Uhr zwanzig«, sagt Maack. »Eine halbe Stunde Mittagspause. Sprechpause.«
Sie sind sehr aufgeregt, sie rechnen, wie viel sie geschafft haben, wie lange sie werden arbeiten müssen, um heute zehntausend zu schaffen.
»Zwölf wird’s wohl werden«, sagt Maack sorgenvoll.
»I wo«, antwortet Jänsch. »Man muss nur erst richtig reinkommen. Nicht später als elf.«
»Feine Bude«, lacht Deutschmann. »Das sollte Jauch sehen, uns nackte Männer.«
»Bekommt aber der Arbeit gut.«
»Kicks, Pupenjunge«, schreit Fasse.
»Ich verbitte mir das«, kreischt Monte.
»An die Arbeit«, ruft Maack. »Sprechsperre.« –
Um neun Uhr zwanzig sagt Kufalt feierlich: »Zehntausend Stück, meine Herren, die ersten Zehntausend.«
»Hurra!«
»Heil!«
Und die kreischende Stimme Montes: »Kufalt zahlt einen Groschen.«
»Tu ich. Mach ich«, sagt Kufalt. Und die Finger reckend: »O Kinder, bin ich glücklich!«
»Morgen früh um acht!« ruft Maack.
»Alles all right«, schreit Sager.
»Guten Abend, die Herren.«
»… Oberpiepenknorke …«
»Sie werden wohl unsolide, Herr Kufalt?« fragt Liese.
Sie steht auf dem dunklen Vorplatz, es ist zehn Uhr nachts, er ahnt ihr Gesicht mehr, als dass er es sieht. Deutlich aber hört er den Spott in ihrer Stimme.
»Ja«, sagt er kurz und geht in sein Zimmer.
»Sie sind wohl noch böse mit mir?« lacht sie und folgt ihm.
Er tritt ein, knipst das Licht an, legt seine Mappe auf einen Stuhl und zieht das Jackett aus.
»Ich bin müde, Fräulein Behn«, sagt er. »Ich möchte gleich schlafen gehen.«
Er wagt nicht mehr als einen flüchtigen Blick auf sie, die unter der Tür steht. Sicher hat sie schon im Bett gelegen, sie hat einen Bademantel an, ein helles, fröhliches Ding aus Weiß und Gelb, ihre Beine sind bloß, ihre Füße sind in kleinen blauen Schuhchen.
»Männer …«, sagt sie, »sind komisch. Sie denken, wenn sie einmal mit einer Frau geschlafen haben, haben sie das Recht auf immer.«
Ihm wird heiß. Er spürt es schon wieder wie eine glühende Wolke von ihr zu ihm. Aber er will nicht – wie hat Maack gesagt? Und einen Monat keine Mädchen. Einen Monat Bewährungsfrist. Und natürlich: Heute kommt sie, am ersten Tag dieses neuen Monats – Quälerin, die!
»Ich denke gar nichts«, sagt er böse. »Ich bin müde, ich habe den ganzen Tag schwer gearbeitet, ich will schlafen gehen – allein.« Er besinnt sich, will einhalten, und dann kommt doch wieder die rote Welle über ihn, er sieht sie an. »Außerdem haben Sie nicht mit mir geschlafen, sondern mit Beerboom.«
»Ziehen Sie sich ruhig aus«, sagt sie. »Sie werden sich doch nicht vor mir genieren?!«
»Nein«, sagt er und setzt sich in einen Stuhl am Fenster, sodass er sie nicht sieht.
Ja, Stille. Ja, nichts.
Draußen die Gleise glänzen im Licht, die Laternen sind da, bald rot, bald grün, die große Scheibe eines Vorsignals fällt mit einem leichten Klappen um, ein eiliger Zug fährt schlank, in seinen Kuppelungen klappernd, mit erhellten Fenstern vorbei. Ja, es ist Nacht, es ist weiche Sommernacht, da sind die Bäume unten, sie bersten vor Wachsen, alles treibt, wird voller, strömt über, als gäbe es nie Kälte, Verwelken, Ende – gibt es nicht ein Lied: »Dies ist die Nacht der Liebe …«?
Nein, nein, nein, nein, sie ist die Böse. Sie ist die Quälerin. Heute so und morgen anders. Und alle Zeit nicht zu halten … Ja, sie hat leise geraschelt, ein- oder zweimal, sicher ist sie weiter ins Zimmer gegangen – hat das sachte zugezogene Türschloss nicht geknackt? Vielleicht steht sie schon hinter ihm, vielleicht streckt sie schon ihre Hand nach seinem Haar aus, seinen Kopf zurückzubiegen zum Kuss, vielleicht kommt sie schon zu ihm – wo bleibt sie?
Diese Nacht, durch die immerzu Züge fahren, ist so still! Es ist, als hielte alles den Atem an, in einer großen Erwartung. Armes, irrendes, schwaches Herz – ein neues Leben? Warum auch war sie in jener Nacht in den Hammer Park gegangen, hatte auf derselben Bank mit ihm gesessen, bei einem anderen Mann?
Aber er war nicht zu ihr gegangen! Bei ganz jemand anders hatte er gemietet. Und dann wieder, in überstürzter Hast, bei ganz jemand anders. Und dort war sie gewesen – Zufall? Und entging man diesem Zufall, der so gut Fallen stellte, nie? War alles Wehren umsonst?
Stille, ruhige Zelle. Pensum stricken, Zusatznahrung, ein Topf mit Schmalz, ausgebraten von den Schneidern, zwei Bücher die Woche. Man könnte hinausgehen aus dem Zimmer, auf die Mönckebergstraße zum Beispiel, da ist immer Schupo, man könnte einen Schaukasten einschlagen, irgendetwas herausnehmen, eine Handtasche, einen Fotoapparat, man wurde gekitscht, und die gute große Ruhe kam, keine Probleme, keine Sorgen, kein Kampf mehr.
Rief sie nicht eben: Komm?
Nein, er kam nicht. Noch nicht, vielleicht nie.
Das hatten die anderen Menschen nicht, davon wussten sie nicht, dass es solch einen Ausweg gab. Sie machten den Gashahn auf, hängten sich in eine Seilschlinge, schluckten Gift und verreckten mit aufgetriebenen Bäuchen, verdrehten Augen, im eigenen Dreck – er ging einfach hin und klaute was, und schon war er in der Ruhe, in der ewigen Geduld, in der Windstille, auf der anderen Wetterseite des Lebens.
Maack wusste auch darum, Monte wusste darum, Jänsch, Öser, Deutschmann, Fasse – jeder von ihnen! Die anderen verstanden es nie. Die begriffen nicht, warum Bestrafte so waren, dass die Gefängnisluft sie verändert hatte, etwas war zersetzt in ihrem Blut, das Gehirn verändert. All das Leben hier draußen war eine Sache auf Widerruf – jede Sekunde konnte man widerrufen.
Man konnte die Liese totschlagen, oder auch ihre Mutter, für die anderen war so etwas unausdenkbar – aber wieso denn?! Aber warum denn?! –: Für ihn war es ganz in Ordnung. Er hatte fünf Jahre mit solchen gelebt, mit Zuhältern, Mördern, Dieben – er wusste, sehr gut war so etwas zu machen, es war nicht schwieriger als tausend andere Dinge im Leben, sicher war es leichter als Aufhängen.
Sie waren so komisch, diese Menschen draußen, irgendwie kapierten sie etwas nicht, von dem jeder Bestrafte wusste. Lebensuntüchtig, verkorkst, ein Schädling, Feind der Gesellschaft – nun ja. Nun ja. Hier saß er, Willi Kufalt, um die Dreißig, aber entschlossen wie ein Vierzehnjähriger in der Pubertät, vor jedem Problem Reißaus zu nehmen. War er so gewesen? Nein, so war er geworden, so war er gemacht worden! So hatten sie ihn fertiggemacht! Du spinnst ja, die kommt aus dem Kittchen, die Redensart, im Kittchen hatten sie wohl früher gesponnen. Sie hatten weiter nichts gemacht als Spinnen, eine Arbeit, eine ganz normale Handarbeit, wenn man sie nicht in der Kittchenluft macht, aber dort eben wurde daraus: Du spinnst ja. Bei ihm, bei Kufalt musste es heißen: Du strickst ja. Er hatte fünf Jahre gestrickt. Nun strickte er. Sein Leben lang. Sein – Leben – lang.
Hatte sie nicht eben geflüstert: Nun komm doch endlich …? Ja, schön, er würde kommen, oder er würde auch nicht kommen, aber natürlich würde er kommen. Er tat, was ihm begegnet, was man von ihm erwartete, er würde immer tun, was man von ihm verlangte. Das hatte man ihn gelehrt, das saß fest: »Geh durch die Tür … Schreib heute Brief …«
Schön, schön.
Aber jetzt saß er erst einmal hier, ganz behaglich untergebracht am Fenster. Mochte sie warten, auch er hatte warten müssen, erst fünf Jahre, dann dreieinehalbe und vier Wochen auf die junge Dame, die ihn in seinem Bett besuchte.
Rauch und Haar und Fleisch.
Gut. Rauch und Haar und Fleisch.
Es war Unsinn, das mit der eigenen Schreibstube, er hatte Maack herumgeredet, er konnte sich einen Schwung geben, dass er sechs Schreibmaschinenhändler nacheinander überredete, ihm je eine Schreibmaschine auf die einzige Sicherheit immer des gleichen polizeilichen Meldescheins auf Raten zu verkaufen – aber sich selbst konnte er nichts vormachen. Es saß in ihm. Man schrieb Doktor mit c, man müsste ein einfaches Mädchen haben, und man hängte sich an eine Liese …
»Du, Liese …«, sagt er.
Nichts.
Sicher war sie – wie damals – in sein Bett gekrochen, vielleicht schlief sie schon. Ach, der leichtgebogene Nacken, durch dessen Haut kaum merklich die Halswirbelknochen traten …
»Liese – liebste Liese …«
Er sieht sich um.
Natürlich, das Bett ist leer, das Zimmer ist leer, von außen wurde die Tür zugemacht.
Und er hat es gewusst, er hat es natürlich die ganze Zeit gewusst, er hat sich ein Theater vorgespielt. War es nicht beinahe sehr gut, dass sie gegangen war? Sehnsucht ist besser als Erfüllung – im Kittchen gelernt; ein Weib zu begehren ist besser, als es zu besitzen – im Kittchen gelernt; Erfüllung im Hirn ist besser als Erfüllung im Fleisch – dito Kittchen.
Einen Augenblick steht er entschlusslos in der Mitte des Zimmers, dann fängt er langsam an, sich auszuziehen. Er legt seine Wäsche säuberlich auf den Stuhl, hängt Jacke und Weste über den Bügel, macht die Hosen im Spanner fest. Er wäscht sich Gesicht und Hände, spült den Mund …
… Und er nimmt Decke und Kopfkissen aus dem Bett, mit nackten, leisen Füßen schleicht er auf den Vorplatz vor die Tür ihres Zimmers, dort legt er sein Bettzeug hin, geht noch einmal in sein Zimmer zurück, um das Licht zu löschen. Dann packt er sich hin vor ihre Türe, wickelt sich in seine Decke.
Es ist schon dunkel in ihrem Zimmer, kein Lichtschein dringt durch die Türritze, sie schläft wohl schon, kein Laut kommt aus dem Raum.
Da liegt er, er schläft nicht, durch sein Hirn und Herz geht es: Da liege ich, bitte, komm nicht, hebe mich nicht auf. Es ist so schön, vor dir zu liegen und verachtet zu sein …
Und schließlich schläft er dann wohl ein …
Er wacht auf von ihrem Blick. Sie kniet neben ihm, sie hat den Arm unter seinen Hals geschoben, den Kopf an ihre Brust gezogen.
»O mein Lieber«, flüstert sie. »Mein Lieber – ist es so schwer?«
»Süß ist es«, flüstert er, noch halb in Traum und Schlaf. »Sehr süß ist es.«
»Es ist schon so spät, Lieber«, flüstert sie. »Du musst gleich aufstehen. Und ich muss auch fort aufs Büro. – Aber heute Abend, nicht wahr, heute Abend …?!«
»Lass es so, Liese, lass es so, Quälerin.«
»Schön soll es sein«, flüstert sie wieder. »So schön will ich es für dich machen. Nicht wahr, du wirst früh hier sein. Ich warte auf dich.«
»Lass es so. Lass es so.«
»Wirst du früh kommen? Ganz früh?«
Oh, der gute Duft aus ihrer Brust!
»Ich will sehen … so früh es geht … so früh ich immer kann …«
»Oh, du mein Liebster!«
»Na, schön«, sagt Herr Bär, »na, ganz schön.«
Er macht Stichproben in der ersten Zehntausender-Ablieferung, nimmt hier, dort einen Umschlag aus den Stößen und prüft ihn.
»Wenn Sie so dabeibleiben, werden wir keinen Streit kriegen.«
Kufalt verbeugt sich und erklärt: »Das wird noch viel besser. Wir müssen uns nur erst richtig einschreiben.«
»Na, schön, Herr Meierbeer«, sagt Herr Bär noch einmal und sieht Kufalt freundlich an. »Dann also guten Morgen.«
Aber Kufalt weicht nicht, und auch Monte sieht ihn vorwurfsvoll an. »Ein bisschen Geld, Herr Bär, nur ’ne Kleinigkeit.«
»Schön, schön«, sagt Herr Bär. »Sie wollen also wirklich täglich Ihr Geld haben? Meinethalben. Wie viel macht es doch?«
»Dreiundneunzig fünfzig«, sagt Kufalt.
»Gut. Hier haben Sie eine Anweisung auf die Kasse. Lassen Sie sich das Geld geben. Guten Morgen.«
»Schönen Dank. Und guten Morgen.«
Sie wandern gemeinsam vergnügt aus dem Haus, macht pro Neese beinah zwölf Mark, o Junge, Junge, für einen einzigen Tag Arbeit …
»Halt! Da guckt wer um die Anschlagsäule! Los, lauf doch los, Monte!«
Sie laufen, sie umrunden die Anschlagsäule von beiden Seiten: nichts!
»Wie man sich irren kann. Ich hätte geschworen, der Jablonski, weißt du, der so ein bisschen hinkt, aus der Presto, linste nach uns.«
»Hast geträumt.«
»Scheint so. Komisch, wenn man ein schlechtes Gewissen hat, sieht man immer was. Und ich brauch doch gar kein schlechtes Gewissen zu haben, nicht wahr?«
Latrinenparolen gibt’s nicht nur beim Militär und im Kittchen: Als die beiden zurückkamen, war die Schreibstube voll davon, dass die Firma Gnutzmann nicht zahlen könnte, nicht zahlen wollte, dass der Kufalt ohne Geld, mit einem faulen Wechsel, einem ungedeckten Scheck, mit Vertröstungen, nein, mit Arbeitsabbruch zurückkäme.
Darüber hatten sie sich gestritten, ereifert, einander miesgemacht, trotz des Protestes von zweien oder dreien war das Sprechverbot aufgehoben gewesen. Es war geraucht worden, Jänsch hatte sich drei Flaschen Bier geholt, Öser eine saure Gurke, es waren keine tausend Adressen in der Zeit von acht bis halb elf geschrieben worden …
Und nun kam Kufalt mit Kasse, bar Kasse, mit Marie.
Es war beinahe eine Enttäuschung.
»Na also – wer hat denn nun den Mist wieder aufgebracht?!«
»Du doch selbst, Mensch, gib hier bloß nicht ’ne Stange an, von wegen Himmelblau!«
»Du hast gesagt, wenn die Brüder nun nicht zahlen …?«
»Ich …«
»Stille«, sagt Maack. »Jetzt wird losgeschrieben. Wir haben zwei Stunden aufzuholen, sonst wird es wieder zehn. Jänsch, weg mit deinem Bier. Sprechverbot!«
»Wenn ich Bier trinke, spreche ich doch nicht«, knurrt Jänsch, fängt aber an zu tippen.
Sie fangen alle an, manche zögern noch, trödeln einen Augenblick, aber der Rhythmus der anderen, die ewige Routine, das können sie ja nun, tippen und dabei denken, tippen und dabei sich fortträumen in eine Wunschwelt …
Auch beim Falzen lässt sich’s träumen, beim Kuvertieren, selbst beim Abzählen der Adressen. Kufalt träumt sich weit fort:
Dass es nur heute Abend nicht so spät wird! Sie wartet auf ihn – wie hat sie gesagt? Lieber? Liebster? Vielleicht wird noch alles gut, vielleicht ist es das, was seinem Leben in all den Jahren gefehlt hat: etwas, auf das man sich ein bisschen freuen kann!
Er freut sich auf den Abend, sie war so anders heute früh, ganz sanft. Sicher sitzt sie und wartet schon in seinem Zimmer auf ihn …
Wer aber auf ihn gewartet hat, wer sich im fast dunklen Zimmer in die Sofaecke gesetzt hat, wer nicht einmal aufsteht, sondern ihn nur ansieht, abends kurz vor zehn, das ist nicht Liese – Beerboom ist es!
Kufalt knipst das Licht an, er ist so wütend, dass er den Mann kaum ansieht im Sofa, er sagt nur: »Was wollen Sie hier? Ich will Sie hier nicht mehr haben!«
Denn Beerboom ist der böse Geist, er war der schwarze, schlimme Stern, der über der ersten Liebesnacht stand, kommt er nun auch – Geheimnis! – zu der zweiten? Denn schon öffnet sich die Tür.
Liese tritt ein. Sie trägt ein weißes Kleid, über das kleine, bunte Blümchen gestreut sind, sie sieht so fröhlich aus, sie bietet ihm frank und frei die Hand, sie sagt: »Guten Abend.«
»Guten Abend, Liese.«
Er denkt nur daran, dass der andere gehen soll, wäre er nicht hier, könnte er sie schon in seine Arme ziehen.
»Herr Beerboom hat gebeten, dass er hier warten darf. Es ist sehr wichtig, hat er gesagt.« Sie macht eine kleine Pause und setzt vorsichtig hinzu: »Ich hab ihn hier allein sitzen lassen. Sogar Licht zu machen habe ich vergessen.«
»Also, was ist denn, Beerboom?« fragt Kufalt.
»Ach nichts«, sagt Beerboom. »Ich gehe schon.«
Aber er bleibt sitzen.
Der Klang von Beerbooms Stimme ist so verändert, dass Kufalt sich seinen Klagebruder von dunnemals aufmerksam beschaut.
Beerboom hat immer eine fahle, lederartige Haut gehabt, aber heute scheint es, als brenne eine Glut hinter dieser Haut. Die Haare sind verklebt wie von Schweiß, die Augen flackern und glänzen …
Er kann die Hände nicht ruhig halten, sie fliegen immerzu hin und her, bald auf den Tisch, bald suchen sie in den Taschen herum, bald befingert er sein Gesicht, sucht etwas, was er nicht findet …
»Also, was ist?« fragt Kufalt. Und mit einem Blick auf die Uhr: »Du wirst zu spät ins Heim kommen, es ist gleich zehn.«
»Komme nicht zu spät ins Heim.«
»Wieso? Hast du etwa Schluss gemacht, da?«
»Schluss gemacht da? Rausgeschmissen bin ich!«
»Ach so«, sagt Kufalt gedehnt und fragt dann: »Deine Sachen?«
»Sind noch da. Ich erzähl dir doch, sie haben mich rausgeschmissen, zehn, zwölf Mann über mich her und rausgeschmissen.«
»Aber warum denn?« fragt Kufalt. »Wieso denn das? So sind die doch auch wieder nicht.«
»Hab die Schreibmaschine zerschlagen«, sagt Beerboom. »Konnte es nicht mehr sehen, das Dings, das mich anbleckt: Hundert Adressen, fünfhundert Adressen, tausend Adressen.« Er steht auf, sieht sich einen Augenblick um, setzt sich wieder hin, sagt: »Is ja alles egal. Was kommt, kommt.«
»Du, hör mal«, sagt Kufalt entschieden, »das stimmt nicht, was du erzählst. Das stimmt todsicher nicht, dass die anderen dich deswegen rausgeschmissen haben, weil du ’ne Schreibmaschine zerkloppt hast. Seidenzopf schon, aber die anderen nicht. – Womit hast du sie denn zerkloppt?«
»Mit ’nem Hammer.«
»Wo hast du denn den Hammer her?«
»Hab ich mir geklaut. Nee, hab ich mir gekauft.«
»Stimmt nicht«, sagt Kufalt. »Stimmt alles nicht. Die anderen freuen sich doch, wenn du den Speckjägern ’ne Schreibmaschine zerhaust. Dass Wolle-Teddy dich darum rausschmeißt, verstehe ich schon, aber die anderen dich darum verkeilen – ausgeschlossen!«
»Ich hab doch auch denen ihre Arbeit demoliert. Mit ’nem Minimax. Hab alles vollgespritzt. Da haben sie mich rausgeschmissen. Verdroschen und rausgeschmissen.«
»Und Vater Seidenzopf?«
»Den hab ich in die Fresse geschlagen.«
»Der lässt dich doch nicht so einfach gehen, nach so was. Der ruft doch die Polente.«
»Ruf man, da war ich schon weg.«
»Ach, du bist also nicht rausgeschmissen, du bist getürmt?«
»Is ja alles egal«, sagt Beerboom brummig, steht auf und geht ans offene Fenster. Plötzlich fragt er sehr lebhaft: »Ob man wohl tot ist, wenn man da runterhopst auf die Gleise?«
Und er setzt einen Fuß aufs Fensterbrett.
»Mach bloß keinen Quatsch«, sagt Kufalt. »Ich will keine Scherereien haben deinetwegen.«
Er hält Beerboom fest. Aber wenn der ernstlich wollte, nützte Festhalten gar nichts. Liese ist es, die ihn zurückhält. Mit ihrer leichten Hand.
»Warum haben Sie denn das alles auf der Schreibstube gemacht, Herr Beerboom?« fragt sie.
»Hat den wilden Mann markiert, kenn ich aus dem Kittchen«, erklärt Kufalt.
»Hat mich alles angekotzt«, sagt Beerboom, sieht das junge Mädchen an und tritt wieder so weit zurück in diese Welt, dass er das Bein vom Fensterbrett nimmt. »Immer schreiben, schreiben, schreiben, und da drinnen verdreht es sich immer mehr.«
»Aber«, sagt Liese, »das hat Sie doch schon lange angekotzt? Warum jetzt plötzlich?«
»Weil es soweit ist, Fräulein«, erklärt Beerboom. »Einmal hat man den Mumm, dann ist es soweit.«
»Was ist soweit?«
»Ach«, sagt Beerboom böse, »Sie wollen ja doch nicht davon hören, Fräulein. Sie schreien ja doch bloß wieder: Mörder.«
Ziemlich lange Stille.
Dann sagt er: »Ich hab gedacht, die bringen mich in ’ne Klapsmühle, aber die haben bloß das Überfallkommando angerufen. Da hab ich gedacht: geh stiften.« Er lacht plötzlich schallend. »Der Minna an der Tür hab ich eine auf die Nase gesetzt, das Nasenbein ist bestimmt hin.«
Liese ist etwas von ihm weggegangen, sie steht unter der Tür, wie fertig zur Flucht, aber sie nimmt keinen Blick von ihm.
Kufalt steht ziemlich nahe bei ihm, der noch immer am Fensterkreuz lehnt.
»Und was machen wir nun mit dir?«
»Ach …«, sagt Beerboom gedehnt, »vielleicht da runter?«
Er beugt sich sehr weit hinaus.
»Halt!« ruft Kufalt.
Aber er braucht sich wirklich keine Sorgen zu machen. Beerboom kommt mit dem Kopf zurück ins Zimmer. Er grinst. »Das könnte denen so passen, allen denen, die mich fertiggemacht haben; meinen Eltern und den Richtern und den Staatsanwälten und den Pfaffen und den Bullen im Kittchen, dass ich so bequem für die abhaue! Das glaub ich! Das möchten die. Nee …« Und er ereifert sich. »Einen Riesenstunk will ich erst mal machen, ich will denen schon was weisen. Fertigmachen, schön – aber dann will ich wenigstens ’ne große Gerichtsverhandlung haben, mit zwei Spalten jeden Tag in jeder Zeitung, und es denen zeigen … Fliegen sollen sie alle, die Speckjäger! Und der Wolle-Teddy zuerst!« Er fängt plötzlich wieder an zu lachen, es schüttelt ihn dabei wie ein Krampf. »Dem hab ich den halben Bart ausgerissen, hat der geschrien, wie ’ne Katze …!«
Die beiden sehen den dritten ernst an, missbilligend. Aber dem ist aller Ernst und alle Missbilligung jetzt gänzlich schnuppe. »Hast ’ne Zigarette für mich, Willi?« fragt er. »Ich hab nichts mehr. Keinen Pfennig. Gar nichts.«
Kufalt gibt ihm eine Zigarette. »Und was denkst du, was nun wird?« fragt er.
»Findet sich alles«, sagt Beerboom und raucht mit Begeisterung.
»Hören Sie einmal zu, Herr Beerboom«, sagt nach einer Weile Liese.
»Ja?« sagt Beerboom, sieht sie an und grinst böse. »Sie sind auch nur ein Fetzen Fleisch, wenn Sie sich schon jeden Tag waschen, Fräulein. Sie stinken auch.«
Liese will nichts gehört haben. »Sie haben doch vorhin was gesagt, Sie hätten gedacht, die würden Sie in ’ne Irrenanstalt bringen? – Gehen Sie doch freiwillig dahin!«
»Das ist nicht schlecht, Beerboom«, lobt Kufalt.
Beerboom denkt nach, ziemlich lange. »Wenn mich die nun nicht nehmen, wenn die mich einfach der Polizei übergeben?« Und hartnäckig: »Wenn ich doch auf die Polizei soll, dann mache ich vorher eine ganz große Sache. Drei Monate wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung ist nichts.«
»Wir könnten’s gut hindeichseln«, sagt der plänereiche Kufalt. »Wir sagen, du wohnst bei uns, du hast ’nen Tobsuchtsanfall gehabt, bist auf uns losgegangen. Jetzt bist du ruhig, aber du hast Angst, es kann wieder losgehen. Sie sollen dich nur ein, zwei Tage behalten.«