»Und dann?«
»Bis dahin hast du mit dem Obermuckermuck von den Ärzten gesprochen, und das sieht ja wohl jeder Dümmste ein, dass du völlig meschugge bist, wenn du ihm alles genau erzählst. Du musst namentlich das mit deiner Schwester erzählen.«
Blick nach Liese.
Auch ein Blick Beerbooms zu Liese.
Sie steht da, hell, blond, so ein zartes, weiß und rosiges Gesicht, ein Kind …
»Das soll ich auch erzählen?« fragt Beerboom.
»Das gerade. Besonders das.«
»Findest du denn das so meschugge?«
»Also gehen wir schon«, drängt Kufalt. »Hier kannst du die Nacht nicht bleiben. Ich will auch keine Unannehmlichkeiten mit der Polizei haben. – Welche ist die nächste, Liese?«
»Friedrichsberg«, sagt sie halb flüsternd, »ihr habt gar nicht weit zu gehen.«
»Hören Sie, Fräulein«, sagt Beerboom, »ich geh nur in die Klapsmühle, wenn Sie mich hinbringen.« Er schreit plötzlich: »So wahr mir Gott helfe, ich bleibe hier sitzen, wenn Sie mich nicht hinbringen.«
Kufalt und Liese Behn sehen sich an.
»Also schön«, sagt Liese. »Ich geh mit. Aber Sie versprechen mir, dass Sie auch bestimmt in die Anstalt gehen?«
»Hör mal, Kufalt«, sagt Beerboom, »pump mir zwanzig Mark, und ich hau so ab. Haste keine Scherereien, kannst mit deiner gleich in die Betten gehen.«
»Erstens habe ich keine zwanzig Mark«, sagt Kufalt böse, »und zweitens würde ich sie dir nie pumpen. Nachher besäufst du dich und frisst was aus im Suff, und ich sitze drin, weil ich dir das Geld gegeben habe.«
»Also schön«, sagt Beerboom, »gehen wir. Wohin, weiß ich noch nicht. Vielleicht sogar wirklich in die Klapsmühle.«
»Hör mal, alter Junge …«, fängt Beerboom in einem ganz anderen Ton auf der Straße an.
Also es ist wirklich gut, dass man nun mit ihm auf der Straße ist. Hier weht ein Wind, Leute gehen, die Lampen brennen, es ist alles plötzlich wirklicher geworden, normales, richtiges Leben, und unwirklich ist geworden, was da oben geschah und besprochen wurde, in jenem halbdunklen Zimmer, das nun immer weiter zurückbleibt.
Liese hat sich bei Kufalt eingehängt. Sie gehen wie ein richtiges Liebespaar, die Hände mit den Fingern ineinander verschränkt.
Beerboom zottelt nebenher. Da oben war Beerboom schlimm – was ist hier unten Beerboom? Man kann ein Auto rufen und ihn stehenlassen, man kann an einen Schupo herangehen, und er türmt – Beerboom muss nicht sein, Beerboom ist ein Zufall, ein hässlicher, verdrehter Mensch, dem die Haft nicht gut bekommen ist … man wird ihn schon loswerden. Und dann sind sie beide allein. Und Liebe und Arbeit, und Arbeit und Liebe …
Auch Beerboom bekommt die Straße ganz gut. In einem ganz anderen Ton hat er angefangen: »Hör mal, alter Junge, mit dir ist aber auch was nicht in Ordnung. Dich haben sie auch auf dem Kieker. Heute früh waren der Marcetus und der Jauch im Friedensheim und haben eine große Beratung mit Wolle-Teddy gehabt, und von dir war hauptsächlich die Rede …«
»Woher weißt du denn das?« fragt Kufalt.
»Weil ich gelauscht habe«, sagt Beerboom stolz. »Bin aufs Klo gegangen und hab dann an der Tür von Seidenzopfens Zimmer gelauscht. Aber die haben ja so ’nen Argwohn, keine drei Minuten, und sie haben mir die Tür an den Kopf geschlagen.«
»Na, und dann …?«
»Dann sind sie alle über mich hergefallen und haben mich niedergebrüllt, einer nach dem anderen – darum habe ich ja heute Nachmittag auch solchen Rochus gehabt!«
»Und was haben sie gesagt von mir?«
Beerboom denkt nach. Dann ganz rasch: »Gibst du mir zwanzig Mark, wenn ich dir das erzähle?«
»Keine fünfzig Pfennig«, lacht Kufalt. »Geh du man lieber nach Friedrichsberg, statt dich zu besaufen.«
»Aber du gehst bestimmt hoch, wenn ich dir nicht erzähle, was sie vorhaben. Sie haben auch von Polente gesprochen.«
»Weiß ich alles«, lacht Kufalt. »Kann ich mir alles denken. Ich habe nämlich auf Presto Schluss gemacht.«
»Na, und …?«
»Du weißt doch alles, denke ich. Gar nichts können mir die Brüder wollen, nicht einen Dreck.«
»Na, denn nicht!« sagt Beerboom patzig und verfällt wieder in sein altes, böses Schweigen.
»Was machst du denn nun, wenn es auf der Schreibstube alle ist?« fragt Liese.
»Ich hab schon wieder neue Arbeit, viel bessere Arbeit«, flüstert Kufalt.
»Bei Kutzmann oder so«, sagt Beerboom.
»Wie?!« fragt Kufalt und ist hellwach, »was weißt du denn von Gnutzmann?«
»Zwanzig Eier«, sagt Beerboom.
»Ich tue es nicht, und ich tue es nicht«, sagt Kufalt. »Nicht nur, weil zwanzig eine Masse Geld sind, sondern gerade weil du dann Dummheiten machst, und ich hänge drin.«
»Ich mache vielleicht auch so Dummheiten«, sagt Beerboom.
»Aber dann können sie mich nicht kappen. – Bitte, Beerboom, tu mir den Gefallen, erzähl, was die geredet haben!«
»Sie brauchten doch unter Kollegen nicht so zu sein«, sagt auch Liese. »Willi hilft Ihnen doch auch.«
Willi, denkt Kufalt frohlockend.
»Schöne Hilfe, wenn mich einer in die Klapsmühle bringt. Schöner Kollege so was. Nee, ich sage nichts.«
»Dann lässt du es eben!« sagt Kufalt wütend.
Und überlegt halblaut: »Und wenn sie’s auch wissen, sie können uns gar nichts wollen! Konkurrenz, da gibt es kein Gesetz dagegen, und auch der Herr Bär ist nicht so. Wenn wir ihn sehr bitten, lässt er uns die Arbeit, auch wenn wir vorbestraft sind.«
»Da ist schon Friedrichsberg«, sagt Liese.
Sie sind das längste Stück durch Anlagen gegangen, Gebüsch, schöne Rasenflächen, Rosenbeete. Ein Wässerchen.
Sie ist still und sanft, die Nacht, auf allen Bänken sitzen die Pärchen. Und es ist ein Flüstern zwischen den Zweigen, ein Geräusch, ein Gesumm, mit klarglänzenden Tropfen von Fruchtbarkeit weht es durch die Luft …
Aber drüben liegt niedrig und dunkel das Portalgebäude der Irrenanstalt Friedrichsberg. Kein Licht.
»Die schlafen ja alle«, sagt Beerboom und bleibt stehen. »Also gib mir wenigstens fünf Mark.«
»In einer Irrenanstalt ist immer eine Nachtwache, genau wie im Kittchen. Komm schon«, sagt Kufalt.
»Und drin ist’s auch genau wie im Kittchen«, sagt Beerboom höhnisch. »Fräulein, schenken Sie mir drei Mark. Geben Sie mir zwei Mark, geben Sie mir wenigstens eine Mark.«
Aber Kufalt wird plötzlich wütend: »Dämlicher Hund, du, immer anderen Malesche machen! Mir den ganzen Abend verkorksen. Kommst du mit, oder kommst du nicht mit?!«
Er fasst ihn am Arm und zerrt ihn gegen das Portal.
»Doch nicht so!« warnt Liese erschrocken. »Doch nicht so!«
Aber Beerboom ist plötzlich ganz friedfertig, er lacht sogar. »Halt mich lieber nicht fest, Willi, wenn ich wirklich mal haue, dann liegst du da …« Er hat sich losgemacht, er steht mit dem Rücken zum Portal von Friedrichsberg, er sieht in die Anlagen mit den Bänken.
»Da sitzen sie«, sagt er, »die knutschen sich ab und werden satt, aber unsereiner …« Er macht eine Bewegung auf Kufalt zu. »Wird denn der satt, Fräulein? Er gibt immer so an, aber wird der denn satt?«
»Red keinen Unsinn«, sagt Kufalt. »Kommst du, oder kommst du nicht? Wir gehen sonst nach Haus.«
»Natürlich komm ich«, sagt Beerboom plötzlich weinerlich. »Was soll ich denn sonst machen? Wo ihr mir kein Geld gebt!«
Aber er steht wieder still. Nur, dass er diesmal nicht in den Park sieht, auch nicht in die Gesichter der beiden. Sondern er sucht. Seine Hände fahren an seinem Körper herum, sie fühlen vorsichtig, und sie bringen hervor – Liese schreit leise auf –, sie bringen hervor ein Messer, ein offenes Rasiermesser.
Beerboom hält es in der Hand, er hält es etwas hoch, es klappt nicht zusammen, er hat es wohl irgendwie umwickelt, und …
Und die beiden sehen ihn an, dieses alte, böse, trotzige Kindergesicht, das den Kuchen nicht bekommen soll, mit dem dunklen Haar, den buschigen Brauen …
»Weg damit«, sagt Beerboom plötzlich und wirft das Messer weit von sich in ein Gebüsch. Es blitzt auf, es ist wie ein silberner heller Streif durch die Nacht. Dann hört man es fallen.
»Schlapp«, sagt Beerboom aufatmend. »Hab gedacht, ich könnte es. Aber selbst dafür haben sie mich fertiggemacht. Also kommt.«
Sie gehen schweigend gegen das Gebäude hin, Liese dicht eingehängt bei Kufalt. Er spürt, wie schwer sie ist, wie sie innerlich bebt vor Angst und Hingabe.
Natürlich gibt es eine Nachtglocke. Sie klingeln. Es bleibt dunkel. Sie klingeln noch einmal, es bleibt dunkel …
Aber Beerboom sagt nicht noch einmal, dass sie gehen wollen, dass er Geld haben möchte, er wartet ganz geduldig.
Nach dem dritten Klingeln wird es hell, ein verschlafener Wärter schlurft heran und spricht durchs Türgitter: »Was ist denn?«
»Entschuldigen Sie bitte«, sagt Kufalt hastig. »Mein Schwager hier, der hat heute Abend einen Tobsuchtsanfall bekommen. Alles hat er zerschlagen, und uns wollte er auch totschlagen. Jetzt ist er ruhig, aber er hat so ein Gefühl, dass es wiederkommen kann – ob Sie ihn nicht auf eine Nacht behalten wollen? Bitte schön?«
Der Wärter hinter der Tür ist ein langer, schlenkriger, blasser Mann, mit einem Kopf fast ohne Fleisch, Haut und Knochen – eigentlich sieht er aus, als könnte er ganz gut ein Kranker der Anstalt sein.
»Geben Sie ihm nichts mehr zu trinken«, sagt er nach kurzem Überlegen. »Lassen Sie ihn seinen Rausch ausschlafen.«
»Er hat nichts getrunken«, sagt Kufalt. »Er hat so getobt, ganz plötzlich.«
Beerboom steht immer schweigend dabei.
»Bei welchem Arzt war er denn in Behandlung?« fragt der Wärter argwöhnisch.
»Bei keinem noch«, erklärt Kufalt eifrig. »Ich erzähle Ihnen doch, es hat ganz plötzlich angefangen.«
»Das gibt es gar nicht«, sagt der Wärter. »Was ist denn der Herr?«
»Jetzt – arbeitslos«, sagt Kufalt.
»Guten Abend«, sagt Beerboom ganz ruhig und gelassen und beginnt zu gehen.
Der Wächter sieht ihm nach, gespannt, durch die Gittertür.
»Lieber Herr«, sagt er zu Kufalt, »ich glaub ja, Sie meinen’s gut mit dem Herrn, aber wenn Sie wüssten, wie viel Arbeitslose zu uns kommen und denken, sie kriegen Essen und ein gutes Bett, wenn sie den wilden Mann spielen … Was macht der denn da? Was sucht der denn da?«
»O Gott«, sagt Kufalt und fährt herum. »Wärter, kommen Sie schnell, helfen Sie, er sucht sein Messer, er hat’s vorhin weggeworfen …«
»Machen Sie doch schnell …«, schreit Liese.
Zögernd sagt der: »Ich darf doch nicht aus dem Tor, ich bin doch Nachtwache …«
Und schließt schon. Die beiden anderen laufen, Kufalt spricht, zu wem spricht er? –: »Er hat elf Jahre Zet gehabt oder wie viel, was weiß ich, er ist erst ein halbes Jahr raus … er ist wahnsinnig …«
Der dunkle Schatten vor ihnen läuft schon über einen Rasen, huscht um ein Gebüsch …
»Lauf doch schneller, Liese! Wo ist denn der Wärter? Der weiß doch mit Verrückten umzugehen …«
»Rennen Sie, Herr, sehen Sie, dass Sie einen Schupo erwischen. Ich darf doch nicht weg von der Pforte, die Pforte steht ja auf …«
Sie kommen auf einen Weg. Hier sitzt ein Paar …
»Ist hier einer langgelaufen?«
Die fahren auseinander … »Wie …? Was …?«
In diesem Augenblick hören sie den Schrei. Es ist ein wahnsinnig hoher, schriller Schrei, der plötzlich abbricht, und ein tiefes, wie ersticktes Gurgeln …
»Dorthin! Dorthin! Dorthin!«
Es ist ein Gebüsch – selbst in dieser Nacht, in dieser Sekunde duftet der Garten …
Sie biegen die Zweige auseinander …
Es ist etwas Weißes, was da liegt, ein weißes Kleiderbündel, so weiß, so weiß … Und es wird dunkel darüber, vom Kopf her, vom Hals her wird es dunkel, strömendes Dunkel, dickes klebriges Blut, großer Fleck, größerer Fleck, wird es dunkel, dunkel … Und es gurgelt so seltsam …
»Schupo! Hilfe! Polizei!« ruft grell eine Stimme.
Und Kufalt sieht das Gesicht von Liese Behn, von der Stenotypistin Liese Behn, den atmend geöffneten Mund, den zurückgelehnten Kopf …
Ein Grauen erfasst ihn, das Leben, o dieses Leben …
»Schnell weg«, flüstert er. »Schnell weg! Wir dürfen keine Zeugen werden in dieser Sache …«
»Lass mich sehen … lass mich doch sehen …«, flüstert sie atemlos.
Er reißt sie mit sich durch die Menschen, die überall heranlaufen.
Es gibt Glückstage, und es gibt Unglückstage in jedem Leben – jeder weiß es. Auch Kufalt wusste es. Er hatte das Gefühl, dass dieser sechzehnte August ein schlimmer, ein düsterer Tag für ihn war – was alles barg er in seinem Schoß …?
Zuerst einmal hatte er sofort der Liese gesagt, dass er ausziehen würde, spätestens zum Ersten –: Er konnte nicht ihr Gesicht vergessen, dieses holde Gesicht mit dem atmend geöffneten Mund, dem zurückgelehnten Kopf – und so gierig!
»So«, hatte Liese gesagt. Und noch einmal: »So.« Und dann nach einer Pause: »Von mir aus …!«
Sie war aus seinem Zimmer gegangen, die Tür war zugefallen: Schluss, Ende, nichts mehr von solcher Liebe! Sicher hatte sie mit ihm schlafen wollen, unter dem Ehrenprotektorat von Herrn Lustmörder Beerboom – danke schön.
Vorbei … vorbei …
Und dann hatte Kufalt sich eine Zeitung gekauft, auf dem Wege zur Schreibstube, ein Morgenblatt, und da hatte er allerdings den Fall des Mannes Beerboom in aller Ausführlichkeit gefunden. Dazu mancherlei Anlass zum Lächeln, zum Beispiel den, dass Beerboom nun wirklich in Friedrichsberg untergebracht war (»vorläufig, da er auf raschestem Wege der empörten Bevölkerung, die ihn lynchen wollte, entzogen werden musste«), in jenem Friedrichsberg also, in das ihn aufzunehmen Kufalt so vergeblich gefleht hatte …
»Und da wird er ja nun wohl auch bleiben – für sein Leben«, stellte Kufalt fest.
Weiter aber fand Kufalt die Notiz, dass das Opfer (»in der Nacht noch gestorben«) des Beerboom eine siebenunddreißigjährige Näherin sei, ein altes Mädchen also, das vielleicht nur darum nächtlich in die Anlagen am Friedrichsberg gegangen war, um im Anblick der küssenden Paare jenen Anteil Liebe abzubekommen, um den auch Beerboom sich so bemüht hatte …
Ach, der große, böse, wilde Lustmörder Beerboom!
Nein, dieser Unglückselige, zu ewigem Scheitern verdammte Beerboom, dieser aberwitzige Tölpel, der von der Morgenzeitung zu einem bestialisch-dämonischen Mörder aufgeblasen wurde – dieser ewige Misswuchs auf der Schattenseite des Lebens …!
Da hatten sie nun diesen Pubertätsnarren von seinem Schwesterchen getrennt, da hatten sie ihn durch elf Jahre zu einem Mönch wider Willen gemacht, in dem sich alle Triebe verkehrt hatten und in dem nur das Fleisch brannte, da war er nun herausgekommen, unfähig, bei einer Frau zu schlafen und sich zu befreien, den Schädel voll von wilden Fantasien, da hatte er sich eingesponnen in ein irres Verlangen nach Mädchen, Kindern, in Träume von nackten Kinderleibern … da war er willens gewesen, zu verzichten, wieder unterzukriechen mit seinen nie erfüllten Fantasien in einer Klapsmühle, in einer Zelle, ohne Erfüllung, ohne jede Aussicht auf Erfüllung in seinem ganzen Leben …
Und da war er zurückgewiesen worden und, gegen seinen Willen beinahe, in die Aussichtslosigkeit eines Lebens, das kein Nachtquartier, keine Arbeit, kein Essen, keinerlei Glücksmöglichkeiten, kein gutes Wort und keinen guten Freund und überhaupt keinen Platz für ihn hatte …
War er da losgerannt, mit dem Messer in der Hand, sich die eine, eine übriggebliebene Erfüllung seines Lebens zu holen …
Und er war an sein Gegenstück geraten, an kein Mädelkind, sondern an eine halbvertrocknete alte Jungfer, seinen Abklatsch ins Weibliche …
Und Kufalt hatte sich vorgestellt, wie dieser Narr Beerboom, dieser Flachkopf, den Rest seines langen oder kurzen Lebens in einer Zelle mit Gittern und Steinwänden verbringen und immer wieder um diesen einen Punkt kreisen würde: Hätte ich doch damals wenigstens etwas Junges … wäre in jener Nacht nur ein Kind … hätte ich doch einmal in meinem Leben Glück gehabt! Glück – und Kufalt hatte in der hellen Augustsonne, auf seinem Wege in die Schreibstube Cito-Presto, geschaudert … Glück, was so die Menschen ihr Glück nennen, was wirklich so der Menschen Glück ist …
Glück: statt siebenunddreißig Jahre elf oder neun, ein kleines Mädchen mit Wadenstrümpfen …
Wahrhaftig: Glück!
Auf Cito-Presto jedenfalls wusste noch keiner was von der Geschichte. Sich Zeitungen zu halten gehörte nicht zu den Lebensbedürfnissen Entlassener, und selbst bei den verlockendsten Schlagzeilen zehn Pfennig für ein Morgenblatt auszugeben, zehn Pfennig, für die man schon drei Zigaretten bekam – also das kam gar nicht in Frage!
»Packt das Fertige zusammen und liefert ab«, sagte Maack zu Kufalt und Monte.
»Und bringt nicht wieder Zwanzigmarkscheine mit – wie soll man denn das Geld teilen?!« verlangte Jänsch.
»Nee, wir bringen es in Tausendmarkscheinen«, sagte Monte, und dann zogen die beiden los, jeder kräftig schleppend an fünftausend Adressen.
»Also, Fräulein«, sagt Kufalt, »hier sind wieder die nächsten Zehntausend. Herrn Bär brauchen wir wohl gar nicht zu stören, ist alles tadellos in Ordnung. Nur ’ne kleine Anweisung, wenn wir bitten dürften, für die Kasse.«
»Nein, Herr Bär möchte Sie sprechen, Herr Meierbeer«, sagt das Fräulein. »Die Adressen können Sie hierlassen, und der andere Herr kann auch hierbleiben. Sie möchte Herr Bär sprechen. Sie wissen ja den Weg.«
Ja, Kufalt weiß ihn, und er geht ihn etwas schweren Herzens.
Jablonski gestern – vielleicht war es also wirklich Jablonski gewesen, und das Geschwätz von Beerboom über das, was er erlauscht hatte – vielleicht hätte man ihm doch die zwanzig Mark geben sollen? Oh, oh, oh – soll man denn nie zur Ruhe kommen?!
Herr Bär sitzt an seinem Tisch, raucht eine Zigarre und blättert in Briefen, er sieht nicht auf, als Kufalt eintritt und höflich guten Morgen sagt.
Ja, er beantwortet diesen Gruß nicht einmal.
Doch, schließlich beantwortet er ihn. »Guten Morgen, Herr Meierbeer. Sie heißen doch Meierbeer?« fragt er.
Kufalt steht stumm. (Also doch, also doch!)
Bär sieht einmal flüchtig seinen Besucher an. »Sie heißen doch Meierbeer, nicht wahr?« sagt er, und er sagt es beinahe drohend.
»Ja«, antwortet Kufalt gehorsam.
»Und mit Vornamen?«
»Willi.«
»Also, Willi Meierbeer, nicht Giacomo. Also – schön.«
Herr Bär betrachtet gedankenvoll seine Zigarre, streicht etwas Asche ab, fragt: »Und wenn ich Sie recht verstanden habe, sind Sie erwerbslos.« Er verbessert sich: »Waren Sie erwerbslos, ehe Sie hier die Arbeit bei uns bekamen?«
»Jawohl.«
Diesmal eine ganz lange, gedankenvolle Pause.
»Und sonst nichts? – Weiter nichts wie erwerbslos?« fragt Herr Bär plötzlich.
»Weiter nichts«, antwortet Kufalt gehorsam.
Es ist eine treffliche Einrichtung, dass Menschen hinter Schreibtischen sitzen und fragen dürfen, Menschen vor Schreibtischen zu stehen und zu antworten haben. Der Gedanke ist vollständig sinnlos, dass Kufalt nun etwa mit Fragen anfinge, wieso der Herr Bär dazu käme und warum und weshalb – sinnlos!
Er hat zu stehen und zu warten, bis Herr Bär sich den Kufalt von oben bis unten angesehen hat und weiterfragt: »Es stimmt doch auch alles, was Sie mir erzählt haben, Herr Meierbeer?«
Kufalt steht einen Augenblick stumm. Er überlegt – aber was hätten Geständnisse für einen Sinn? Geständnisse haben nie einen Sinn, das weiß ein alter Ganove von jeder Vernehmung vor den Krimschen ganz gut.
»Alles stimmt, Herr Bär«, sagt also Kufalt.
»Schön, schön«, antwortet Herr Bär und nimmt die Beschäftigung mit seinen Briefen wieder auf. »Es stimmt also alles. Es ist alles, wie Sie mir gesagt haben. Und sonst ist nichts, weiß ich von nichts.«
»Nein«, sagt Kufalt. »Sonst ist gar nichts.«
»Also gut. Ich danke Ihnen schön. Das Geld kriegen Sie an der Kasse, Fräulein Becker hat die Anweisung. Guten Morgen, Herr Kufalt.«
Erst als die Tür längst zu, Kufalt zehn Schritte weiter ist, merkt er, dass Herr Bär zu Herrn Meierbeer Herr Kufalt gesagt hat. Aber – was soll man dabei machen? Vielleicht hat es sogar Herr Bär sehr nett gemeint, eine Warnung gewissermaßen. Jetzt heißt es die Ohren steifhalten, die Bombe ist am Platzen, aber wollen, wollen können die uns gar nichts!
Das Schlimmste ist nur, dass man mit Monte kein Wort über diese Dinge sprechen kann. Da zottelt er nebenher, eigentlich ein hübscher Mensch mit seinem gewellten, blonden Haar, aber nichts im Schädel als seine Schweinereien. Er nimmt an nichts Anteil, er hasst regelmäßige Arbeit, er sucht immer nach irgendeinem Grunde, abzuhauen … Kufalt schlottert neben ihm her: Unglückstag, finsterer Tag – was bringst du noch?
Und er ist doch verblüfft, als er die Tür zur Schreibstube öffnet – und wer steht da, in der Mitte des Raums, umtost von schmetternden Maschinen?
Wer anders als Herr Hausvater Seidenzopf, unser lieber Wolle-Teddy …?!!
Der fährt herum, als die beiden hereinkommen. »Ah, sieh da, mein lieber Kufalt, Sie hatte ich doch längst vermisst.«
Er stürzt auf Kufalt zu, die Hand herzlich ausgestreckt.
Aber: »Gib dem Mann keine Hand, Willi!« ruft Jänsch.
»Sprechverbot«, mahnt Maack.
Kufalt kann gerade noch seine Hand, die fast schon die Fingerspitzen Seidenzopfs streifte, zurückziehen. Er geht mit Monte an seinen Platz, er setzt sich, ohne hochzusehen, und fängt an zu packen.
Los – los – los – weiter …
»Meine lieben jungen Freunde«, fängt Wolle-Teddy an und steht gar nicht entmutigt in der Mitte des Raumes …
Und die Schreibmaschinen klappern und klingeln, und Jänsch hat mal wieder weder Rock noch Weste, noch Hemd an …
»Meine lieben jungen Freunde, ich finde es ja aller Ehre wert, dass Sie sich mit solchem Eifer achtbarer Arbeit widmen – es war da ein böser Verdacht ausgesprochen, gerade gegen Sie, mein lieber Kufalt … Aber damit ist es ja nun nichts, Gott sei gelobt, dieser Verdacht ist nicht eingetroffen, damit ist nun nichts …«
Vater Seidenzopf steht in der Mitte des Raumes und reibt sich langsam und genießerisch die Hände. Er schaut dabei um sich, ob ihn vielleicht einer ansieht, aber das tut keiner. Sie tippen und packen.
Der Herr vom Haus Friedensheim macht ein paar Schritte und kommt hinter einen der Schreiber zu stehen. Er sieht über dessen Schulter auf die Maschine, die Typenhebel machen »Klapp-Klapp-Klapp«, Seidenzopf sagt gedankenvoll: »Alles neue Maschinen. Schöne neue Maschinen … Mercedes … Adler … Underwood … AEG … Remington … Smith Premier … Damit lässt es sich schon schreiben. – Ein Wunder, ein Wunder …«
Die Blicke von Kufalt und Maack begegnen sich einen Augenblick. Schon spricht Seidenzopf weiter: »Dreihunderttausend Adressen – ein schöner Posten Arbeit – lange Arbeit, anderthalb Monate schätze ich – und was dann?«
Keiner antwortet.
»In Hamburg gibt es solch einen Posten Arbeit zweimal, dreimal im Jahre – und die andere Zeit? Oh, meine jungen Freunde …« Seine Stimme schwillt an, läutet wie eine Glocke, sein schwarzer Bart ist in lauter Löckchen gesträubt … »Oh, meine jungen Freunde, wir von Friedensheim, wir von Presto haben Sie aufgenommen, als Sie aus den Strafanstalten kamen, als Sie ratlos und verzweifelt und fast ohne Geld waren. Wir haben Ihnen zu essen gegeben, eine gute reichliche Hausmannskost, ein Dach über den Kopf, ein geregeltes Leben.«
Gesteigert: »Wir von Friedensheim haben Sie erst arbeiten gelehrt, wir haben Ihnen mit unermüdlicher Geduld wieder regelmäßige Arbeit beigebracht – und nun danken Sie es uns so?«
Er ist sehr kummervoll, aufgeregt und kummervoll, weiß Gott, vielleicht glaubt dieses pharisäische Schwein in dieser Minute wirklich an das, was er sagt.
Seidenzopf macht eine Pause. Und als er neu zu sprechen beginnt, erfüllt tiefe, ehrliche Empörung sein Herz. »Und zu welchem Preis werden Sie diese Arbeit übernommen haben, ich frage Sie, zu welchem Preis?! Sie werden ganze zehn Mark bekommen haben, vielleicht nur neun fünfzig, vielleicht nur …«
Er beobachtet die Gesichter: »… vielleicht nur neun Mark – und wir hätten zwei Mark mehr erzielt. Sechshundert Mark mehr Arbeitsverdienst: weggeworfen, von unkundigen Menschen abgeschlossen. Ich werfe es Ihnen nicht vor, aber welch ein Jammer, die Preise werden auf Jahre hinaus gedrückt sein!«
Die Schreibstube ist unruhig, aber Seidenzopf fährt unbeirrbar fort: »Und was wird aus Ihnen selbst nach diesen anderthalb Monaten? Keine Arbeit – und die Fürsorge-Verbände, nun, die Wohlfahrtsämter und Heime, das sind wir ja, mit den Herren arbeiten wir ja, mit denen sprechen wir ja zuerst. Auskünfte, Recherchen, Nachfragen …«
Er schüttelt den Kopf, plötzlich brüllt er los wie ein wütender Löwe: »Angewinselt werden Sie zu uns kommen, auf den Knien werden Sie gerutscht kommen zu uns: Geben Sie uns doch ein Dach, Vater Seidenzopf, geben Sie uns ein warmes Essen! Um Gottes willen, helfen Sie uns, Vater Seidenzopf, wir können doch nicht verrecken! – Aber dann werden wir …«
Was wir tun werden, geht in einem allgemeinen Tumult unter. Fast alle sind aufgesprungen von ihrer Arbeit, sie schreien mit zuckenden Lippen, sie werfen ihm ihre Beschuldigungen ins Gesicht.
»Speckjäger, dich mästen an uns!«
»Vier Mark fünfzig zahlst du uns fürs Tausend!«
»Wenn es euch nicht passt, schmeiß ich euch raus, es gibt ja so viele Arbeitslose!«
»Schlagt dem Schleicher doch in die Fresse!« (Jänsch.)
»Hängt ihn an den Beinen zum Dachfenster hinaus!« (Öser.)
»Richtig, da wird er schon winseln!« (Kufalt.)
»Ruhe!« schreit Maack. Und dann noch ein paarmal: »Ruhe!«
Er durchdringt die Gruppe, die wild gestikulierend sich um den bleichen, aber nicht sehr verängstigten Seidenzopf geballt hat, und sagt: »Herr Seidenzopf, jetzt gehen Sie!«
»Aber gar nicht gehe ich!« brüllt Wolle-Teddy. »Euch muss man ins Gewissen reden! Ihr müsst es einsehen: Kehrt zurück zu uns, und alles ist vergeben …«
»Los!« sagt Maack zu Jänsch.
Und sie fassen Vater Seidenzopf jeder an einem Arm und führen ihn gegen die Tür. Seidenzopf aber schreit weiter: »Wer innerhalb drei Stunden zu uns zurückkehrt, wird ohne Weiteres wieder aufgenommen. Wer als Erster kommt, wird Schreibstubenhilfsvorsteher bei Herrn Jauch!«
Die Tür fällt zu, man hört nur noch Geschrei auf der Treppe. Dann kommen Maack und Jänsch wieder zurück.
»So«, sagt Maack, und sein weißes Gesicht zuckt. »So.« Er sieht sich um, er sagt: »An die Arbeit. Wir müssen unsere Zehntausend schaffen. Jetzt gerade! Sprechverbot.«
Er sieht alle noch einmal an. Er sieht Jänsch an und nickt ihm zu. Er sagt leise, aber drohend: »Oder will jemand das Angebot von Herrn Seidenzopf annehmen? Bitte schön! Dann aber gleich.«
Alle gehen an ihre Arbeit.