Hans Fallada – Gesammelte Werke

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»Und dann?«

»Bis da­hin hast du mit dem Ober­mucker­muck von den Ärz­ten ge­spro­chen, und das sieht ja wohl je­der Dümms­te ein, dass du völ­lig me­schug­ge bist, wenn du ihm al­les ge­nau er­zählst. Du musst na­ment­lich das mit dei­ner Schwes­ter er­zäh­len.«

Blick nach Lie­se.

Auch ein Blick Beer­booms zu Lie­se.

Sie steht da, hell, blond, so ein zar­tes, weiß und ro­si­ges Ge­sicht, ein Kind …

»Das soll ich auch er­zäh­len?« fragt Beer­boom.

»Das ge­ra­de. Be­son­ders das.«

»Fin­dest du denn das so me­schug­ge?«

»Also ge­hen wir schon«, drängt Ku­falt. »Hier kannst du die Nacht nicht blei­ben. Ich will auch kei­ne Unan­nehm­lich­kei­ten mit der Po­li­zei ha­ben. – Wel­che ist die nächs­te, Lie­se?«

»Fried­richs­berg«, sagt sie halb flüs­ternd, »ihr habt gar nicht weit zu ge­hen.«

»Hö­ren Sie, Fräu­lein«, sagt Beer­boom, »ich geh nur in die Klaps­müh­le, wenn Sie mich hin­brin­gen.« Er schreit plötz­lich: »So wahr mir Gott hel­fe, ich blei­be hier sit­zen, wenn Sie mich nicht hin­brin­gen.«

Ku­falt und Lie­se Behn se­hen sich an.

»Also schön«, sagt Lie­se. »Ich geh mit. Aber Sie ver­spre­chen mir, dass Sie auch be­stimmt in die An­stalt ge­hen?«

»Hör mal, Ku­falt«, sagt Beer­boom, »pump mir zwan­zig Mark, und ich hau so ab. Has­te kei­ne Sche­re­rei­en, kannst mit dei­ner gleich in die Bet­ten ge­hen.«

»Ers­tens habe ich kei­ne zwan­zig Mark«, sagt Ku­falt böse, »und zwei­tens wür­de ich sie dir nie pum­pen. Nach­her be­säufst du dich und frisst was aus im Suff, und ich sit­ze drin, weil ich dir das Geld ge­ge­ben habe.«

»Also schön«, sagt Beer­boom, »ge­hen wir. Wo­hin, weiß ich noch nicht. Vi­el­leicht so­gar wirk­lich in die Klaps­müh­le.«

9

»Hör mal, al­ter Jun­ge …«, fängt Beer­boom in ei­nem ganz an­de­ren Ton auf der Stra­ße an.

Also es ist wirk­lich gut, dass man nun mit ihm auf der Stra­ße ist. Hier weht ein Wind, Leu­te ge­hen, die Lam­pen bren­nen, es ist al­les plötz­lich wirk­li­cher ge­wor­den, nor­ma­les, rich­ti­ges Le­ben, und un­wirk­lich ist ge­wor­den, was da oben ge­sch­ah und be­spro­chen wur­de, in je­nem halb­dunklen Zim­mer, das nun im­mer wei­ter zu­rück­bleibt.

Lie­se hat sich bei Ku­falt ein­ge­hängt. Sie ge­hen wie ein rich­ti­ges Lie­bes­paar, die Hän­de mit den Fin­gern in­ein­an­der ver­schränkt.

Beer­boom zot­telt ne­ben­her. Da oben war Beer­boom schlimm – was ist hier un­ten Beer­boom? Man kann ein Auto ru­fen und ihn ste­hen­las­sen, man kann an einen Schu­po her­an­ge­hen, und er türmt – Beer­boom muss nicht sein, Beer­boom ist ein Zu­fall, ein häss­li­cher, ver­dreh­ter Mensch, dem die Haft nicht gut be­kom­men ist … man wird ihn schon los­wer­den. Und dann sind sie bei­de al­lein. Und Lie­be und Ar­beit, und Ar­beit und Lie­be …

Auch Beer­boom be­kommt die Stra­ße ganz gut. In ei­nem ganz an­de­ren Ton hat er an­ge­fan­gen: »Hör mal, al­ter Jun­ge, mit dir ist aber auch was nicht in Ord­nung. Dich ha­ben sie auch auf dem Kie­ker. Heu­te früh wa­ren der Mar­ce­tus und der Jauch im Frie­dens­heim und ha­ben eine große Be­ra­tung mit Wol­le-Ted­dy ge­habt, und von dir war haupt­säch­lich die Rede …«

»Wo­her weißt du denn das?« fragt Ku­falt.

»Weil ich ge­lauscht habe«, sagt Beer­boom stolz. »Bin aufs Klo ge­gan­gen und hab dann an der Tür von Sei­den­zop­fens Zim­mer ge­lauscht. Aber die ha­ben ja so ’nen Arg­wohn, kei­ne drei Mi­nu­ten, und sie ha­ben mir die Tür an den Kopf ge­schla­gen.«

»Na, und dann …?«

»Dann sind sie alle über mich her­ge­fal­len und ha­ben mich nie­der­ge­brüllt, ei­ner nach dem an­de­ren – dar­um habe ich ja heu­te Nach­mit­tag auch sol­chen Ro­chus ge­habt!«

»Und was ha­ben sie ge­sagt von mir?«

Beer­boom denkt nach. Dann ganz rasch: »Gibst du mir zwan­zig Mark, wenn ich dir das er­zäh­le?«

»Kei­ne fünf­zig Pfen­nig«, lacht Ku­falt. »Geh du man lie­ber nach Fried­richs­berg, statt dich zu be­sau­fen.«

»Aber du gehst be­stimmt hoch, wenn ich dir nicht er­zäh­le, was sie vor­ha­ben. Sie ha­ben auch von Po­len­te ge­spro­chen.«

»Weiß ich al­les«, lacht Ku­falt. »Kann ich mir al­les den­ken. Ich habe näm­lich auf Pre­sto Schluss ge­macht.«

»Na, und …?«

»Du weißt doch al­les, den­ke ich. Gar nichts kön­nen mir die Brü­der wol­len, nicht einen Dreck.«

»Na, denn nicht!« sagt Beer­boom pat­zig und ver­fällt wie­der in sein al­tes, bö­ses Schwei­gen.

»Was machst du denn nun, wenn es auf der Schreib­stu­be alle ist?« fragt Lie­se.

»Ich hab schon wie­der neue Ar­beit, viel bes­se­re Ar­beit«, flüs­tert Ku­falt.

»Bei Kutz­mann oder so«, sagt Beer­boom.

»Wie?!« fragt Ku­falt und ist hell­wach, »was weißt du denn von Gnutz­mann?«

»Zwan­zig Eier«, sagt Beer­boom.

»Ich tue es nicht, und ich tue es nicht«, sagt Ku­falt. »Nicht nur, weil zwan­zig eine Mas­se Geld sind, son­dern ge­ra­de weil du dann Dumm­hei­ten machst, und ich hän­ge drin.«

»Ich ma­che viel­leicht auch so Dumm­hei­ten«, sagt Beer­boom.

»Aber dann kön­nen sie mich nicht kap­pen. – Bit­te, Beer­boom, tu mir den Ge­fal­len, er­zähl, was die ge­re­det ha­ben!«

»Sie brauch­ten doch un­ter Kol­le­gen nicht so zu sein«, sagt auch Lie­se. »Wil­li hilft Ih­nen doch auch.«

Wil­li, denkt Ku­falt frohlo­ckend.

»Schö­ne Hil­fe, wenn mich ei­ner in die Klaps­müh­le bringt. Schö­ner Kol­le­ge so was. Nee, ich sage nichts.«

»Dann lässt du es eben!« sagt Ku­falt wü­tend.

Und über­legt halb­laut: »Und wenn sie’s auch wis­sen, sie kön­nen uns gar nichts wol­len! Kon­kur­renz, da gibt es kein Ge­setz da­ge­gen, und auch der Herr Bär ist nicht so. Wenn wir ihn sehr bit­ten, lässt er uns die Ar­beit, auch wenn wir vor­be­straft sind.«

»Da ist schon Fried­richs­berg«, sagt Lie­se.

Sie sind das längs­te Stück durch An­la­gen ge­gan­gen, Ge­büsch, schö­ne Ra­sen­flä­chen, Ro­sen­bee­te. Ein Wäs­ser­chen.

Sie ist still und sanft, die Nacht, auf al­len Bän­ken sit­zen die Pär­chen. Und es ist ein Flüs­tern zwi­schen den Zwei­gen, ein Geräusch, ein Ge­summ, mit klarglän­zen­den Trop­fen von Frucht­bar­keit weht es durch die Luft …

Aber drü­ben liegt nied­rig und dun­kel das Por­tal­ge­bäu­de der Ir­ren­an­stalt Fried­richs­berg. Kein Licht.

»Die schla­fen ja alle«, sagt Beer­boom und bleibt ste­hen. »Also gib mir we­nigs­tens fünf Mark.«

»In ei­ner Ir­ren­an­stalt ist im­mer eine Nacht­wa­che, ge­nau wie im Kitt­chen. Komm schon«, sagt Ku­falt.

»Und drin ist’s auch ge­nau wie im Kitt­chen«, sagt Beer­boom höh­nisch. »Fräu­lein, schen­ken Sie mir drei Mark. Ge­ben Sie mir zwei Mark, ge­ben Sie mir we­nigs­tens eine Mark.«

Aber Ku­falt wird plötz­lich wü­tend: »Däm­li­cher Hund, du, im­mer an­de­ren Ma­le­sche ma­chen! Mir den gan­zen Abend ver­kork­sen. Kommst du mit, oder kommst du nicht mit?!«

Er fasst ihn am Arm und zerrt ihn ge­gen das Por­tal.

»Doch nicht so!« warnt Lie­se er­schro­cken. »Doch nicht so!«

Aber Beer­boom ist plötz­lich ganz fried­fer­tig, er lacht so­gar. »Halt mich lie­ber nicht fest, Wil­li, wenn ich wirk­lich mal haue, dann liegst du da …« Er hat sich los­ge­macht, er steht mit dem Rücken zum Por­tal von Fried­richs­berg, er sieht in die An­la­gen mit den Bän­ken.

»Da sit­zen sie«, sagt er, »die knut­schen sich ab und wer­den satt, aber un­serei­ner …« Er macht eine Be­we­gung auf Ku­falt zu. »Wird denn der satt, Fräu­lein? Er gibt im­mer so an, aber wird der denn satt?«

»Red kei­nen Un­sinn«, sagt Ku­falt. »Kommst du, oder kommst du nicht? Wir ge­hen sonst nach Haus.«

»Na­tür­lich komm ich«, sagt Beer­boom plötz­lich wei­ner­lich. »Was soll ich denn sonst ma­chen? Wo ihr mir kein Geld gebt!«

Aber er steht wie­der still. Nur, dass er dies­mal nicht in den Park sieht, auch nicht in die Ge­sich­ter der bei­den. Son­dern er sucht. Sei­ne Hän­de fah­ren an sei­nem Kör­per her­um, sie füh­len vor­sich­tig, und sie brin­gen her­vor – Lie­se schreit lei­se auf –, sie brin­gen her­vor ein Mes­ser, ein of­fe­nes Ra­sier­mes­ser.

Beer­boom hält es in der Hand, er hält es et­was hoch, es klappt nicht zu­sam­men, er hat es wohl ir­gend­wie um­wi­ckelt, und …

Und die bei­den se­hen ihn an, die­ses alte, böse, trot­zi­ge Kin­der­ge­sicht, das den Ku­chen nicht be­kom­men soll, mit dem dunklen Haar, den bu­schi­gen Brau­en …

»Weg da­mit«, sagt Beer­boom plötz­lich und wirft das Mes­ser weit von sich in ein Ge­büsch. Es blitzt auf, es ist wie ein sil­ber­ner hel­ler Streif durch die Nacht. Dann hört man es fal­len.

»Schlapp«, sagt Beer­boom auf­at­mend. »Hab ge­dacht, ich könn­te es. Aber selbst da­für ha­ben sie mich fer­tig­ge­macht. Also kommt.«

Sie ge­hen schwei­gend ge­gen das Ge­bäu­de hin, Lie­se dicht ein­ge­hängt bei Ku­falt. Er spürt, wie schwer sie ist, wie sie in­ner­lich bebt vor Angst und Hin­ga­be.

Na­tür­lich gibt es eine Nacht­glo­cke. Sie klin­geln. Es bleibt dun­kel. Sie klin­geln noch ein­mal, es bleibt dun­kel …

Aber Beer­boom sagt nicht noch ein­mal, dass sie ge­hen wol­len, dass er Geld ha­ben möch­te, er war­tet ganz ge­dul­dig.

Nach dem drit­ten Klin­geln wird es hell, ein ver­schla­fe­ner Wär­ter schlurft her­an und spricht durchs Tür­git­ter: »Was ist denn?«

»Ent­schul­di­gen Sie bit­te«, sagt Ku­falt has­tig. »Mein Schwa­ger hier, der hat heu­te Abend einen Tob­suchts­an­fall be­kom­men. Al­les hat er zer­schla­gen, und uns woll­te er auch tot­schla­gen. Jetzt ist er ru­hig, aber er hat so ein Ge­fühl, dass es wie­der­kom­men kann – ob Sie ihn nicht auf eine Nacht be­hal­ten wol­len? Bit­te schön?«

 

Der Wär­ter hin­ter der Tür ist ein lan­ger, schlenk­ri­ger, blas­ser Mann, mit ei­nem Kopf fast ohne Fleisch, Haut und Kno­chen – ei­gent­lich sieht er aus, als könn­te er ganz gut ein Kran­ker der An­stalt sein.

»Ge­ben Sie ihm nichts mehr zu trin­ken«, sagt er nach kur­z­em Über­le­gen. »Las­sen Sie ihn sei­nen Rausch aus­schla­fen.«

»Er hat nichts ge­trun­ken«, sagt Ku­falt. »Er hat so ge­tobt, ganz plötz­lich.«

Beer­boom steht im­mer schwei­gend da­bei.

»Bei wel­chem Arzt war er denn in Be­hand­lung?« fragt der Wär­ter arg­wöh­nisch.

»Bei kei­nem noch«, er­klärt Ku­falt eif­rig. »Ich er­zäh­le Ih­nen doch, es hat ganz plötz­lich an­ge­fan­gen.«

»Das gibt es gar nicht«, sagt der Wär­ter. »Was ist denn der Herr?«

»Jetzt – ar­beits­los«, sagt Ku­falt.

»Gu­ten Abend«, sagt Beer­boom ganz ru­hig und ge­las­sen und be­ginnt zu ge­hen.

Der Wäch­ter sieht ihm nach, ge­spannt, durch die Git­ter­tür.

»Lie­ber Herr«, sagt er zu Ku­falt, »ich glaub ja, Sie mei­nen’s gut mit dem Herrn, aber wenn Sie wüss­ten, wie viel Ar­beits­lo­se zu uns kom­men und den­ken, sie krie­gen Es­sen und ein gu­tes Bett, wenn sie den wil­den Mann spie­len … Was macht der denn da? Was sucht der denn da?«

»O Gott«, sagt Ku­falt und fährt her­um. »Wär­ter, kom­men Sie schnell, hel­fen Sie, er sucht sein Mes­ser, er hat’s vor­hin weg­ge­wor­fen …«

»Ma­chen Sie doch schnell …«, schreit Lie­se.

Zö­gernd sagt der: »Ich darf doch nicht aus dem Tor, ich bin doch Nacht­wa­che …«

Und schließt schon. Die bei­den an­de­ren lau­fen, Ku­falt spricht, zu wem spricht er? –: »Er hat elf Jah­re Zet ge­habt oder wie viel, was weiß ich, er ist erst ein hal­b­es Jahr raus … er ist wahn­sin­nig …«

Der dunkle Schat­ten vor ih­nen läuft schon über einen Ra­sen, huscht um ein Ge­büsch …

»Lauf doch schnel­ler, Lie­se! Wo ist denn der Wär­ter? Der weiß doch mit Ver­rück­ten um­zu­ge­hen …«

»Ren­nen Sie, Herr, se­hen Sie, dass Sie einen Schu­po er­wi­schen. Ich darf doch nicht weg von der Pfor­te, die Pfor­te steht ja auf …«

Sie kom­men auf einen Weg. Hier sitzt ein Paar …

»Ist hier ei­ner lang­ge­lau­fen?«

Die fah­ren aus­ein­an­der … »Wie …? Was …?«

In die­sem Au­gen­blick hö­ren sie den Schrei. Es ist ein wahn­sin­nig ho­her, schril­ler Schrei, der plötz­lich ab­bricht, und ein tie­fes, wie er­stick­tes Gur­geln …

»Dor­thin! Dor­thin! Dor­thin!«

Es ist ein Ge­büsch – selbst in die­ser Nacht, in die­ser Se­kun­de duf­tet der Gar­ten …

Sie bie­gen die Zwei­ge aus­ein­an­der …

Es ist et­was Wei­ßes, was da liegt, ein wei­ßes Klei­der­bün­del, so weiß, so weiß … Und es wird dun­kel dar­über, vom Kopf her, vom Hals her wird es dun­kel, strö­men­des Dun­kel, dickes kleb­ri­ges Blut, großer Fleck, grö­ße­rer Fleck, wird es dun­kel, dun­kel … Und es gur­gelt so selt­sam …

»Schu­po! Hil­fe! Po­li­zei!« ruft grell eine Stim­me.

Und Ku­falt sieht das Ge­sicht von Lie­se Behn, von der Ste­no­ty­pis­tin Lie­se Behn, den at­mend ge­öff­ne­ten Mund, den zu­rück­ge­lehn­ten Kopf …

Ein Grau­en er­fasst ihn, das Le­ben, o die­ses Le­ben …

»Schnell weg«, flüs­tert er. »Schnell weg! Wir dür­fen kei­ne Zeu­gen wer­den in die­ser Sa­che …«

»Lass mich se­hen … lass mich doch se­hen …«, flüs­tert sie atem­los.

Er reißt sie mit sich durch die Men­schen, die über­all her­an­lau­fen.

10

Es gibt Glücks­ta­ge, und es gibt Un­glücks­ta­ge in je­dem Le­ben – je­der weiß es. Auch Ku­falt wuss­te es. Er hat­te das Ge­fühl, dass die­ser sech­zehn­te Au­gust ein schlim­mer, ein düs­te­rer Tag für ihn war – was al­les barg er in sei­nem Schoß …?

Zu­erst ein­mal hat­te er so­fort der Lie­se ge­sagt, dass er aus­zie­hen wür­de, spä­tes­tens zum Ers­ten –: Er konn­te nicht ihr Ge­sicht ver­ges­sen, die­ses hol­de Ge­sicht mit dem at­mend ge­öff­ne­ten Mund, dem zu­rück­ge­lehn­ten Kopf – und so gie­rig!

»So«, hat­te Lie­se ge­sagt. Und noch ein­mal: »So.« Und dann nach ei­ner Pau­se: »Von mir aus …!«

Sie war aus sei­nem Zim­mer ge­gan­gen, die Tür war zu­ge­fal­len: Schluss, Ende, nichts mehr von sol­cher Lie­be! Si­cher hat­te sie mit ihm schla­fen wol­len, un­ter dem Ehren­pro­tek­to­rat von Herrn Lust­mör­der Beer­boom – dan­ke schön.

Vor­bei … vor­bei …

Und dann hat­te Ku­falt sich eine Zei­tung ge­kauft, auf dem Wege zur Schreib­stu­be, ein Mor­gen­blatt, und da hat­te er al­ler­dings den Fall des Man­nes Beer­boom in al­ler Aus­führ­lich­keit ge­fun­den. Dazu man­cher­lei An­lass zum Lä­cheln, zum Bei­spiel den, dass Beer­boom nun wirk­lich in Fried­richs­berg un­ter­ge­bracht war (»vor­läu­fig, da er auf ra­sche­s­tem Wege der em­pör­ten Be­völ­ke­rung, die ihn lyn­chen woll­te, ent­zo­gen wer­den muss­te«), in je­nem Fried­richs­berg also, in das ihn auf­zu­neh­men Ku­falt so ver­geb­lich ge­fleht hat­te …

»Und da wird er ja nun wohl auch blei­ben – für sein Le­ben«, stell­te Ku­falt fest.

Wei­ter aber fand Ku­falt die No­tiz, dass das Op­fer (»in der Nacht noch ge­stor­ben«) des Beer­boom eine sie­ben­und­drei­ßig­jäh­ri­ge Nä­he­rin sei, ein al­tes Mäd­chen also, das viel­leicht nur dar­um nächt­lich in die An­la­gen am Fried­richs­berg ge­gan­gen war, um im An­blick der küs­sen­den Paa­re je­nen An­teil Lie­be ab­zu­be­kom­men, um den auch Beer­boom sich so be­müht hat­te …

Ach, der große, böse, wil­de Lust­mör­der Beer­boom!

Nein, die­ser Un­glück­se­li­ge, zu ewi­gem Schei­tern ver­damm­te Beer­boom, die­ser aber­wit­zi­ge Töl­pel, der von der Mor­gen­zei­tung zu ei­nem bes­tia­lisch-dä­mo­ni­schen Mör­der auf­ge­bla­sen wur­de – die­ser ewi­ge Miss­wuchs auf der Schat­ten­sei­te des Le­bens …!

Da hat­ten sie nun die­sen Pu­ber­täts­nar­ren von sei­nem Schwes­ter­chen ge­trennt, da hat­ten sie ihn durch elf Jah­re zu ei­nem Mönch wi­der Wil­len ge­macht, in dem sich alle Trie­be ver­kehrt hat­ten und in dem nur das Fleisch brann­te, da war er nun her­aus­ge­kom­men, un­fä­hig, bei ei­ner Frau zu schla­fen und sich zu be­frei­en, den Schä­del voll von wil­den Fan­tasi­en, da hat­te er sich ein­ge­spon­nen in ein ir­res Ver­lan­gen nach Mäd­chen, Kin­dern, in Träu­me von nack­ten Kin­der­lei­bern … da war er wil­lens ge­we­sen, zu ver­zich­ten, wie­der un­ter­zu­krie­chen mit sei­nen nie er­füll­ten Fan­tasi­en in ei­ner Klaps­müh­le, in ei­ner Zel­le, ohne Er­fül­lung, ohne jede Aus­sicht auf Er­fül­lung in sei­nem gan­zen Le­ben …

Und da war er zu­rück­ge­wie­sen wor­den und, ge­gen sei­nen Wil­len bei­na­he, in die Aus­sichts­lo­sig­keit ei­nes Le­bens, das kein Nacht­quar­tier, kei­ne Ar­beit, kein Es­sen, kei­ner­lei Glücks­mög­lich­kei­ten, kein gu­tes Wort und kei­nen gu­ten Freund und über­haupt kei­nen Platz für ihn hat­te …

War er da los­ge­rannt, mit dem Mes­ser in der Hand, sich die eine, eine üb­rig­ge­blie­be­ne Er­fül­lung sei­nes Le­bens zu ho­len …

Und er war an sein Ge­gen­stück ge­ra­ten, an kein Mä­del­kind, son­dern an eine halb­ver­trock­ne­te alte Jung­fer, sei­nen Ab­klatsch ins Weib­li­che …

Und Ku­falt hat­te sich vor­ge­stellt, wie die­ser Narr Beer­boom, die­ser Flach­kopf, den Rest sei­nes lan­gen oder kur­z­en Le­bens in ei­ner Zel­le mit Git­tern und Stein­wän­den ver­brin­gen und im­mer wie­der um die­sen einen Punkt krei­sen wür­de: Hät­te ich doch da­mals we­nigs­tens et­was Jun­ges … wäre in je­ner Nacht nur ein Kind … hät­te ich doch ein­mal in mei­nem Le­ben Glück ge­habt! Glück – und Ku­falt hat­te in der hel­len Au­gust­son­ne, auf sei­nem Wege in die Schreib­stu­be Cito-Pre­sto, ge­schau­dert … Glück, was so die Men­schen ihr Glück nen­nen, was wirk­lich so der Men­schen Glück ist …

Glück: statt sie­ben­und­drei­ßig Jah­re elf oder neun, ein klei­nes Mäd­chen mit Wa­den­st­rümp­fen …

Wahr­haf­tig: Glück!

11

Auf Cito-Pre­sto je­den­falls wuss­te noch kei­ner was von der Ge­schich­te. Sich Zei­tun­gen zu hal­ten ge­hör­te nicht zu den Le­bens­be­dürf­nis­sen Ent­las­se­ner, und selbst bei den ver­lo­ckends­ten Schlag­zei­len zehn Pfen­nig für ein Mor­gen­blatt aus­zu­ge­ben, zehn Pfen­nig, für die man schon drei Zi­ga­ret­ten be­kam – also das kam gar nicht in Fra­ge!

»Packt das Fer­ti­ge zu­sam­men und lie­fert ab«, sag­te Maack zu Ku­falt und Mon­te.

»Und bringt nicht wie­der Zwan­zig­mark­schei­ne mit – wie soll man denn das Geld tei­len?!« ver­lang­te Jäns­ch.

»Nee, wir brin­gen es in Tau­send­mark­schei­nen«, sag­te Mon­te, und dann zo­gen die bei­den los, je­der kräf­tig schlep­pend an fünf­tau­send Adres­sen.

»Also, Fräu­lein«, sagt Ku­falt, »hier sind wie­der die nächs­ten Zehn­tau­send. Herrn Bär brau­chen wir wohl gar nicht zu stö­ren, ist al­les ta­del­los in Ord­nung. Nur ’ne klei­ne An­wei­sung, wenn wir bit­ten dürf­ten, für die Kas­se.«

»Nein, Herr Bär möch­te Sie spre­chen, Herr Mei­er­beer«, sagt das Fräu­lein. »Die Adres­sen kön­nen Sie hier­las­sen, und der an­de­re Herr kann auch hier­blei­ben. Sie möch­te Herr Bär spre­chen. Sie wis­sen ja den Weg.«

Ja, Ku­falt weiß ihn, und er geht ihn et­was schwe­ren Her­zens.

Ja­blon­ski ges­tern – viel­leicht war es also wirk­lich Ja­blon­ski ge­we­sen, und das Ge­schwätz von Beer­boom über das, was er er­lauscht hat­te – viel­leicht hät­te man ihm doch die zwan­zig Mark ge­ben sol­len? Oh, oh, oh – soll man denn nie zur Ruhe kom­men?!

Herr Bär sitzt an sei­nem Tisch, raucht eine Zi­gar­re und blät­tert in Brie­fen, er sieht nicht auf, als Ku­falt ein­tritt und höf­lich gu­ten Mor­gen sagt.

Ja, er be­ant­wor­tet die­sen Gruß nicht ein­mal.

Doch, schließ­lich be­ant­wor­tet er ihn. »Gu­ten Mor­gen, Herr Mei­er­beer. Sie hei­ßen doch Mei­er­beer?« fragt er.

Ku­falt steht stumm. (Also doch, also doch!)

Bär sieht ein­mal flüch­tig sei­nen Be­su­cher an. »Sie hei­ßen doch Mei­er­beer, nicht wahr?« sagt er, und er sagt es bei­na­he dro­hend.

»Ja«, ant­wor­tet Ku­falt ge­hor­sam.

»Und mit Vor­na­men?«

»Wil­li.«

»Also, Wil­li Mei­er­beer, nicht Gia­co­mo. Also – schön.«

Herr Bär be­trach­tet ge­dan­ken­voll sei­ne Zi­gar­re, streicht et­was Asche ab, fragt: »Und wenn ich Sie recht ver­stan­den habe, sind Sie er­werbs­los.« Er ver­bes­sert sich: »Wa­ren Sie er­werbs­los, ehe Sie hier die Ar­beit bei uns be­ka­men?«

»Ja­wohl.«

Dies­mal eine ganz lan­ge, ge­dan­ken­vol­le Pau­se.

»Und sonst nichts? – Wei­ter nichts wie er­werbs­los?« fragt Herr Bär plötz­lich.

»Wei­ter nichts«, ant­wor­tet Ku­falt ge­hor­sam.

Es ist eine treff­li­che Ein­rich­tung, dass Men­schen hin­ter Schreib­ti­schen sit­zen und fra­gen dür­fen, Men­schen vor Schreib­ti­schen zu ste­hen und zu ant­wor­ten ha­ben. Der Ge­dan­ke ist voll­stän­dig sinn­los, dass Ku­falt nun etwa mit Fra­gen an­fin­ge, wie­so der Herr Bär dazu käme und warum und wes­halb – sinn­los!

Er hat zu ste­hen und zu war­ten, bis Herr Bär sich den Ku­falt von oben bis un­ten an­ge­se­hen hat und wei­ter­fragt: »Es stimmt doch auch al­les, was Sie mir er­zählt ha­ben, Herr Mei­er­beer?«

Ku­falt steht einen Au­gen­blick stumm. Er über­legt – aber was hät­ten Ge­ständ­nis­se für einen Sinn? Ge­ständ­nis­se ha­ben nie einen Sinn, das weiß ein al­ter Ga­no­ve von je­der Ver­neh­mung vor den Krim­schen ganz gut.

»Al­les stimmt, Herr Bär«, sagt also Ku­falt.

»Schön, schön«, ant­wor­tet Herr Bär und nimmt die Be­schäf­ti­gung mit sei­nen Brie­fen wie­der auf. »Es stimmt also al­les. Es ist al­les, wie Sie mir ge­sagt ha­ben. Und sonst ist nichts, weiß ich von nichts.«

»Nein«, sagt Ku­falt. »Sonst ist gar nichts.«

»Also gut. Ich dan­ke Ih­nen schön. Das Geld krie­gen Sie an der Kas­se, Fräu­lein Be­cker hat die An­wei­sung. Gu­ten Mor­gen, Herr Ku­falt.«

Erst als die Tür längst zu, Ku­falt zehn Schrit­te wei­ter ist, merkt er, dass Herr Bär zu Herrn Mei­er­beer Herr Ku­falt ge­sagt hat. Aber – was soll man da­bei ma­chen? Vi­el­leicht hat es so­gar Herr Bär sehr nett ge­meint, eine War­nung ge­wis­ser­ma­ßen. Jetzt heißt es die Ohren steif­hal­ten, die Bom­be ist am Plat­zen, aber wol­len, wol­len kön­nen die uns gar nichts!

Das Schlimms­te ist nur, dass man mit Mon­te kein Wort über die­se Din­ge spre­chen kann. Da zot­telt er ne­ben­her, ei­gent­lich ein hüb­scher Mensch mit sei­nem ge­well­ten, blon­den Haar, aber nichts im Schä­del als sei­ne Schwei­ne­rei­en. Er nimmt an nichts An­teil, er hasst re­gel­mä­ßi­ge Ar­beit, er sucht im­mer nach ir­gend­ei­nem Grun­de, ab­zu­hau­en … Ku­falt schlot­tert ne­ben ihm her: Un­glücks­tag, fins­te­rer Tag – was bringst du noch?

 

Und er ist doch ver­blüfft, als er die Tür zur Schreib­stu­be öff­net – und wer steht da, in der Mit­te des Raums, um­tost von schmet­tern­den Ma­schi­nen?

Wer an­ders als Herr Haus­va­ter Sei­den­zopf, un­ser lie­ber Wol­le-Ted­dy …?!!

Der fährt her­um, als die bei­den her­ein­kom­men. »Ah, sieh da, mein lie­ber Ku­falt, Sie hat­te ich doch längst ver­misst.«

Er stürzt auf Ku­falt zu, die Hand herz­lich aus­ge­streckt.

Aber: »Gib dem Mann kei­ne Hand, Wil­li!« ruft Jäns­ch.

»Sprech­ver­bot«, mahnt Maack.

Ku­falt kann ge­ra­de noch sei­ne Hand, die fast schon die Fin­ger­spit­zen Sei­den­zopfs streif­te, zu­rück­zie­hen. Er geht mit Mon­te an sei­nen Platz, er setzt sich, ohne hoch­zu­se­hen, und fängt an zu pa­cken.

Los – los – los – wei­ter …

»Mei­ne lie­ben jun­gen Freun­de«, fängt Wol­le-Ted­dy an und steht gar nicht ent­mu­tigt in der Mit­te des Rau­mes …

Und die Schreib­ma­schi­nen klap­pern und klin­geln, und Jäns­ch hat mal wie­der we­der Rock noch Wes­te, noch Hemd an …

»Mei­ne lie­ben jun­gen Freun­de, ich fin­de es ja al­ler Ehre wert, dass Sie sich mit sol­chem Ei­fer acht­ba­rer Ar­beit wid­men – es war da ein bö­ser Ver­dacht aus­ge­spro­chen, ge­ra­de ge­gen Sie, mein lie­ber Ku­falt … Aber da­mit ist es ja nun nichts, Gott sei ge­lobt, die­ser Ver­dacht ist nicht ein­ge­trof­fen, da­mit ist nun nichts …«

Va­ter Sei­den­zopf steht in der Mit­te des Rau­mes und reibt sich lang­sam und ge­nie­ße­risch die Hän­de. Er schaut da­bei um sich, ob ihn viel­leicht ei­ner an­sieht, aber das tut kei­ner. Sie tip­pen und pa­cken.

Der Herr vom Haus Frie­dens­heim macht ein paar Schrit­te und kommt hin­ter einen der Schrei­ber zu ste­hen. Er sieht über des­sen Schul­ter auf die Ma­schi­ne, die Ty­pen­he­bel ma­chen »Klapp-Klapp-Klapp«, Sei­den­zopf sagt ge­dan­ken­voll: »Al­les neue Ma­schi­nen. Schö­ne neue Ma­schi­nen … Mer­ce­des … Ad­ler … Un­der­wood … AEG … Re­ming­ton … Smith Pre­mier … Da­mit lässt es sich schon schrei­ben. – Ein Wun­der, ein Wun­der …«

Die Bli­cke von Ku­falt und Maack be­geg­nen sich einen Au­gen­blick. Schon spricht Sei­den­zopf wei­ter: »Drei­hun­dert­tau­send Adres­sen – ein schö­ner Pos­ten Ar­beit – lan­ge Ar­beit, an­dert­halb Mo­na­te schät­ze ich – und was dann?«

Kei­ner ant­wor­tet.

»In Ham­burg gibt es solch einen Pos­ten Ar­beit zwei­mal, drei­mal im Jah­re – und die an­de­re Zeit? Oh, mei­ne jun­gen Freun­de …« Sei­ne Stim­me schwillt an, läu­tet wie eine Glo­cke, sein schwar­zer Bart ist in lau­ter Löck­chen ge­sträubt … »Oh, mei­ne jun­gen Freun­de, wir von Frie­dens­heim, wir von Pre­sto ha­ben Sie auf­ge­nom­men, als Sie aus den Straf­an­stal­ten ka­men, als Sie rat­los und ver­zwei­felt und fast ohne Geld wa­ren. Wir ha­ben Ih­nen zu es­sen ge­ge­ben, eine gute reich­li­che Haus­manns­kost, ein Dach über den Kopf, ein ge­re­gel­tes Le­ben.«

Ge­stei­gert: »Wir von Frie­dens­heim ha­ben Sie erst ar­bei­ten ge­lehrt, wir ha­ben Ih­nen mit un­er­müd­li­cher Ge­duld wie­der re­gel­mä­ßi­ge Ar­beit bei­ge­bracht – und nun dan­ken Sie es uns so?«

Er ist sehr kum­mer­voll, auf­ge­regt und kum­mer­voll, weiß Gott, viel­leicht glaubt die­ses pha­ri­säi­sche Schwein in die­ser Mi­nu­te wirk­lich an das, was er sagt.

Sei­den­zopf macht eine Pau­se. Und als er neu zu spre­chen be­ginnt, er­füllt tie­fe, ehr­li­che Em­pö­rung sein Herz. »Und zu wel­chem Preis wer­den Sie die­se Ar­beit über­nom­men ha­ben, ich fra­ge Sie, zu wel­chem Preis?! Sie wer­den gan­ze zehn Mark be­kom­men ha­ben, viel­leicht nur neun fünf­zig, viel­leicht nur …«

Er be­ob­ach­tet die Ge­sich­ter: »… viel­leicht nur neun Mark – und wir hät­ten zwei Mark mehr er­zielt. Sechs­hun­dert Mark mehr Ar­beits­ver­dienst: weg­ge­wor­fen, von un­kun­di­gen Men­schen ab­ge­schlos­sen. Ich wer­fe es Ih­nen nicht vor, aber welch ein Jam­mer, die Prei­se wer­den auf Jah­re hin­aus ge­drückt sein!«

Die Schreib­stu­be ist un­ru­hig, aber Sei­den­zopf fährt un­be­irr­bar fort: »Und was wird aus Ih­nen selbst nach die­sen an­dert­halb Mo­na­ten? Kei­ne Ar­beit – und die Für­sor­ge-Ver­bän­de, nun, die Wohl­fahrt­säm­ter und Hei­me, das sind wir ja, mit den Her­ren ar­bei­ten wir ja, mit de­nen spre­chen wir ja zu­erst. Aus­künf­te, Re­cher­chen, Nach­fra­gen …«

Er schüt­telt den Kopf, plötz­lich brüllt er los wie ein wü­ten­der Löwe: »An­ge­win­selt wer­den Sie zu uns kom­men, auf den Kni­en wer­den Sie ge­rutscht kom­men zu uns: Ge­ben Sie uns doch ein Dach, Va­ter Sei­den­zopf, ge­ben Sie uns ein war­mes Es­sen! Um Got­tes wil­len, hel­fen Sie uns, Va­ter Sei­den­zopf, wir kön­nen doch nicht ver­re­cken! – Aber dann wer­den wir …«

Was wir tun wer­den, geht in ei­nem all­ge­mei­nen Tu­mult un­ter. Fast alle sind auf­ge­sprun­gen von ih­rer Ar­beit, sie schrei­en mit zu­cken­den Lip­pen, sie wer­fen ihm ihre Be­schul­di­gun­gen ins Ge­sicht.

»Speck­jä­ger, dich mä­s­ten an uns!«

»Vier Mark fünf­zig zahlst du uns fürs Tau­send!«

»Wenn es euch nicht passt, schmeiß ich euch raus, es gibt ja so vie­le Ar­beits­lo­se!«

»Schlagt dem Schlei­cher doch in die Fres­se!« (Jäns­ch.)

»Hängt ihn an den Bei­nen zum Dach­fens­ter hin­aus!« (Öser.)

»Rich­tig, da wird er schon win­seln!« (Ku­falt.)

»Ruhe!« schreit Maack. Und dann noch ein paar­mal: »Ruhe!«

Er durch­dringt die Grup­pe, die wild ges­ti­ku­lie­rend sich um den blei­chen, aber nicht sehr ver­ängs­tig­ten Sei­den­zopf ge­ballt hat, und sagt: »Herr Sei­den­zopf, jetzt ge­hen Sie!«

»Aber gar nicht gehe ich!« brüllt Wol­le-Ted­dy. »Euch muss man ins Ge­wis­sen re­den! Ihr müsst es ein­se­hen: Kehrt zu­rück zu uns, und al­les ist ver­ge­ben …«

»Los!« sagt Maack zu Jäns­ch.

Und sie fas­sen Va­ter Sei­den­zopf je­der an ei­nem Arm und füh­ren ihn ge­gen die Tür. Sei­den­zopf aber schreit wei­ter: »Wer in­ner­halb drei Stun­den zu uns zu­rück­kehrt, wird ohne Wei­te­res wie­der auf­ge­nom­men. Wer als Ers­ter kommt, wird Schreib­stu­ben­hilfs­vor­ste­her bei Herrn Jauch!«

Die Tür fällt zu, man hört nur noch Ge­schrei auf der Trep­pe. Dann kom­men Maack und Jäns­ch wie­der zu­rück.

»So«, sagt Maack, und sein wei­ßes Ge­sicht zuckt. »So.« Er sieht sich um, er sagt: »An die Ar­beit. Wir müs­sen un­se­re Zehn­tau­send schaf­fen. Jetzt ge­ra­de! Sprech­ver­bot.«

Er sieht alle noch ein­mal an. Er sieht Jäns­ch an und nickt ihm zu. Er sagt lei­se, aber dro­hend: »Oder will je­mand das An­ge­bot von Herrn Sei­den­zopf an­neh­men? Bit­te schön! Dann aber gleich.«

Alle ge­hen an ihre Ar­beit.