Hans Fallada – Gesammelte Werke

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4

»Habe eben an dich ge­dacht, Batz­ke«, be­rich­te­te Ku­falt.

»Dann geht’s dir mies«, stell­te Batz­ke fest.

»Und dir?« frag­te Ku­falt.

»Dito, dan­ke, dito«, ant­wor­te­te Batz­ke.

Eine klei­ne Pau­se ent­stand, dann rück­te Batz­ke so auf der Bank hin und her, als woll­te er auf­ste­hen. Und dar­um frag­te Ku­falt has­tig: »Ist denn gar nichts zu ma­chen, Batz­ke?«

»Zu ma­chen ist im­mer was«, er­klär­te der große Batz­ke.

»Aber was?«

»Ach, du denkst, ich bal­do­we­re für dich?«

Ziem­lich lan­ge Stil­le.

»Wa­rum bist du denn da­mals nicht un­ter den Pfer­de­schwanz ge­kom­men?« fing Ku­falt wie­der an.

»Ach, quatsch bloß nicht, Mensch«, ant­wor­te­te Batz­ke.

»Du warst wohl bei dei­ner Schiffs­ree­der­wit­we in Har­ve­ste­hu­de?« er­kun­dig­te sich Ku­falt wei­ter.

»Ach, hör bloß auf, Wil­li«, sag­te Batz­ke. »Hast du was zu rau­chen?«

»Nee.«

»Ich auch nicht.«

Sie grins­ten sich bei­de an.

»Has­te Geld?« frag­te Batz­ke wie­der.

»Nee.«

»Und was zu ver­scheu­ern?«

»Auch nicht.«

»Also fah­ren wir nach Ohls­dorf.«

Und Batz­ke stand auf und dehn­te sei­ne pfer­de­st­ar­ken Kno­chen, dass sie knack­ten.

Ku­falt blieb sit­zen. »Was tu ich denn in Ohls­dorf?«

»In Ohls­dorf«, er­klär­te Batz­ke, »ist der mo­d­erns­te Kirch­hof von der Welt.«

»Was geht der mich an?« frag­te Ku­falt. »Be­gra­ben lass ich mich noch lan­ge nicht«

Bei­de grins­ten wie­der.

»Also, komm schon, Mensch«, dräng­te Batz­ke.

»Aber was soll ich da?«

»Ich den­ke, du willst ein Ding dre­hen mit mir?«

»Aber wie­so auf dem mo­d­erns­ten Kirch­hof von der Welt?«

»Das wirst du schon al­les se­hen.«

»Fahr­geld zahl ich je­den­falls nicht für dich«, sag­te Ku­falt un­schlüs­sig.

»Wer hat dich dar­um ge­be­ten, du Pen­ner? Die paar Gro­schen habe ich noch.«

Und sie gin­gen los, zum Haupt­bahn­hof.

Hier, am Schal­ter, trotz­dem das gan­ze Fahr­geld mit ein paar Ni­ckeln ab­ge­tan war, sah Ku­falt, dass Batz­kes gan­ze Brief­ta­sche voll­ge­pfropft war mit Zwan­zig- und Fünf­zig­mark­schei­nen. Aber wenn Batz­ke auch dar­an ge­le­gen zu sein schi­en, dass sein neu­er Kum­pel von die­ser Tat­sa­che Kennt­nis nahm, so hü­te­te er sich doch, für Ku­falt zu zah­len, er be­gnüg­te sich mit dem fas­sungs­lo­sen Aus­druck auf des­sen Ge­sicht.

Der Zug war zu voll, da konn­te man nicht dar­über re­den. Aber kaum wa­ren sie aus dem Ohls­dor­fer Bahn­hof her­aus, da sag­te Ku­falt: »Mensch, Batz­ke, du hast aber einen Hau­fen Kies!«

»Na ja«, sag­te Batz­ke. »Das muss auch so sein. – Da drü­ben liegt der Kirch­hof.«

»Ja«, sag­te Ku­falt. Der Kirch­hof in­ter­es­sier­te ihn nicht. Er fühl­te sich ge­bor­ge­ner. Zwan­zig Mark muss­te sich Batz­ke ab­pum­pen las­sen. Das wa­ren vier­tau­send Adres­sen. Und ein gu­tes Stück wei­ter in der Si­cher­heit. Be­reit also, sich Batz­ke völ­lig un­ter­zu­ord­nen, frag­te er: »Ge­hen wir jetzt rauf auf den Kirch­hof?«

»Willst du?«

»Wenn du meinst?«

»Ob du willst, fra­ge ich.«

»Ich kann mir den Kirch­hof ja mal an­se­hen.«

»Ach«, sag­te der große Ga­no­ve Batz­ke, »mir liegt ei­gent­lich an Kirch­hö­fen nichts.«

»Also ge­hen wir wo­an­ders­hin.«

Und Batz­ke schlug einen Weg ein, der vom Kirch­hof fort­führ­te.

»Wo ge­hen wir denn nun hin?«

»Du musst auch nicht al­les wis­sen.«

»Hör mal, Batz­ke«, bat Ku­falt. »Kauf ein paar Zi­ga­ret­ten, was?«

»I wo …«, fing Batz­ke an und be­sann sich. Dann: »Ich hab kein Klein­geld.«

»Aber du hast doch ge­nug Zwan­zig­mark­schei­ne«, sag­te Ku­falt.

»Ich mag jetzt nicht wech­seln. Hol du sie. Ich geb dir das Geld heu­te Abend wie­der.«

»Schön«, sag­te Ku­falt und sah sich nach ei­nem La­den um.

Er ent­deck­te einen und woll­te rein.

»Halt«, rief Batz­ke und nahm einen Schein aus der Brief­ta­sche. »Hier hast du zwan­zig Mark. Hol gleich fünf­zig Stück. Juno. Ich geh lang­sam vor­aus. Da run­ter.«

»Schön«, sag­te Ku­falt wie­der.

Die La­den­bim­mel in die­sem Vor­stadt­ge­schäft­chen klin­gel­te ziem­lich lan­ge, aber kei­ner kam. Ku­falt hät­te sich aus den auf­ge­bau­ten Pa­ckun­gen ganz hübsch Zi­ga­ret­ten in die Ta­sche ste­cken kön­nen, aber so was tat er nun wie­der nicht. Es lohn­te nicht das Ri­si­ko.

Ku­falt ging von Neu­em zur La­den­tür, öff­ne­te und schloss sie noch ein­mal, wo­bei er die Klin­gel lan­ge lär­men ließ. Als noch nie­mand kam, rief er mehr­mals laut: »Hal­lo.«

Schließ­lich kam ein ver­schrum­pel­tes Weib­lein mit auf­ge­krem­pel­ten Är­meln in ei­ner blau­en Schür­ze aus dem Hin­ter­zim­mer.

»Ent­schul­di­gen Sie bloß, lie­ber Herr«, sag­te sie mit ih­rer hel­len Alt­wei­ber­stim­me. »Ich hab ge­scheu­ert, da hört man die Klin­gel schlecht.«

»Ja«, sag­te Ku­falt. »Ich möch­te fünf­zig Ari­ston.«

»Ari­ston?« frag­te die Alte. »Ich weiß nicht, ob wir die ha­ben.« Sie sah zwei­felnd die Re­ga­le an. »Wis­sen Sie, lie­ber Herr, was mei­ne Toch­ter ist, die hat ge­ra­de ein Kind ge­kriegt, heu­te Nacht, ich mach es nur zur Aus­hil­fe hier im La­den.«

»Also ge­ben Sie mir eine zu fünf«, sag­te Ku­falt gott­er­ge­ben. »Ma­chen Sie ein biss­chen schnell. Ich muss wei­ter.«

»Ja, ja, lie­ber Herr, ich ver­ste­he ja.«

Und sie fisch­te eine Zi­ga­ret­te aus ei­ner Pa­ckung und hielt sie ihm hin.

»Fünf­zig hab ich ge­sagt«, sag­te Ku­falt wü­tend.

»Sie ha­ben doch eine zu fünf ge­sagt«, sag­te das alte Weib.

»Also ge­ben Sie mir schon fünf­zig. Ja, lie­ber Gott, von de­nen!«

»So be­die­nen ist schwer«, seufz­te die alte Frau. »Und die Leu­te sind im­mer so un­ge­dul­dig. Hier!« und sie reich­te ihm die fünf­zig Stück.

»Hier«, sag­te Ku­falt und reich­te ihr das Geld.

Sie be­sah sich weit­sich­tig den Schein. »Zwan­zig Mark?« frag­te die Alte. »Ha­ben Sie’s nicht klei­ner?«

»Nein«, sag­te Ku­falt dick­köp­fig.

»Ich weiß nicht, ob wir so viel da­ha­ben.« Und sie ging in das Hin­ter­zim­mer.

»Ma­chen Sie bloß schnell!« rief Ku­falt ihr nach und war­te­te wei­ter.

Aber dann kam sie doch. Drei Fünf­mark­stücke, ein Zwei­mark­stück, ein Fünf­zi­ger –: »Ist es recht so, lie­ber Herr?«

»Ja, ja«, sag­te Ku­falt und rann­te ei­lig los.

Von Batz­ke war nichts mehr auf der Stra­ße zu se­hen, so­weit Ku­falt auch den ihm be­zeich­ne­ten Weg hin­auf­lief. Nichts war zu mer­ken von Batz­ke – dann kam er ganz über­ra­schend aus ei­ner Ne­ben­stra­ße.

»Ge­hen wir hier wei­ter«, sag­te er. »Na, hast du die Zi­ga­ret­ten?«

»Hier«, ant­wor­te­te Ku­falt. »Und hier ist auch das Geld.«

»Geht in Ord­nung«, sag­te Batz­ke. »Hier hast du zehn Zi­ga­ret­ten für dich.«

»Dan­ke schön«, sag­te Ku­falt.

»Wer war denn im La­den?« frag­te Batz­ke im Wei­ter­ge­hen.

»’ne alte Frau«, sag­te Ku­falt, »wie­so?«

»Weil’s so lan­ge ge­dau­ert hat.«

»Ach so«, sag­te Ku­falt. »Ja, lan­ge hat’s ge­dau­ert, sie wuss­te mit nichts Be­scheid.«

»Nein«, be­stä­tig­te Batz­ke.

»Wie­so?« frag­te wie­der Ku­falt.

»Weil’s so lan­ge ge­dau­ert hat«, lach­te Batz­ke.

»Ich fin­de, du bist ko­misch, Batz­ke«, sag­te Ku­falt arg­wöh­nisch. »Ist was?«

»Was soll denn sein?« lach­te Batz­ke wei­ter. »Weißt du auch, wo­hin wir ge­hen?«

»Nein«, sag­te Ku­falt, »kei­ne Ah­nung.«

»Dann wirst du’s ja gleich se­hen«, sag­te Batz­ke.

Und so gin­gen sie denn bei­de wei­ter, schwei­gend und rau­chend. Der Platz, an den Ku­falt von Batz­ke ge­führt wur­de, war mit ei­nem großen Haus be­baut, mit ei­nem gan­zen Kom­plex aus Back­stein­zin­nen, Ze­ment­wän­den, ho­hen Mau­ern, klei­nen recht­e­cki­gen Fens­ter­lö­chern, mit Git­tern da­vor …

»Das ist ja ein Bun­ker«, sag­te Ku­falt ent­täuscht.

»Das ist Fuhls­büt­tel«, er­klär­te Batz­ke fast fei­er­lich, mit ganz an­de­rer Stim­me. »Da drin habe ich sie­ben Jah­re ab­ge­ris­sen.«

»Und dar­um sind wir hier raus­ge­fah­ren, dass du dir dein Kitt­chen an­siehst«, frag­te Ku­falt halb em­pört und halb ent­täuscht.

»Woll­te den al­ten Bau mal wie­der­se­hen«, sag­te Batz­ke un­ge­rührt. »War ’ne schö­ne Zeit drin, nich so mies wie heu­te …«

»Na, weißt du, du magst es aber tun: so­viel Ma­rie und denn noch stöh­nen …«

»Komm auf die an­de­re Sei­te rum. Ich zeig dir die Tisch­le­rei, wo ich da­mals drin ge­ar­bei­tet habe.«

Ku­falt ging mit.

»Siehst du da­hin­ten? Das ist sie! Aber eine fei­ne Tisch­le­rei, sage ich dir, ein­fach Klas­se, nicht sol­che Bruch­din­ger wie bei den Preu­ßen.«

Ku­falt hör­te zu.

»Roll­ja­lou­sie­schrän­ke habe ich ge­macht«, sag­te Batz­ke träu­me­risch und be­trach­te­te sei­ne Pran­ken, jetzt ge­pflegt, jetzt ma­ni­kürt, »weißt du, das gibt Spaß, Wil­li, wenn man das so hin­kriegt, dass die Stä­be nicht klem­men, rumplumplum und auf ist der La­den, ratsch­bumm und zu ist er!«

Ku­falt lauscht. Batz­ke ist in sei­ne Erin­ne­run­gen ver­lo­ren. »Und dann ha­ben wir mal für den Di­rek­tor ein­ge­bau­te Schrän­ke ge­macht – ich hab im­mer in sei­ne Vil­la kom­men dür­fen. War­te, wir ge­hen rum, ich zei­ge sie dir.«

Sie ge­hen rum.

»Na ja«, sagt Batz­ke un­zu­frie­den. »Von au­ßen kannst du die Schrän­ke nicht se­hen, aber schnaf­te, sage ich dir, wie das so ging. Und alte Mö­bel hat er sich ge­kauft, der Di­rek­tor, da hat­te er einen Nar­ren dar­an ge­fres­sen, weißt du. – ›Kom­men Sie mal wie­der rü­ber, Batz­ke‹, hat er zu mir ge­sagt. ›Se­hen Sie sich mal an, was ich da wie­der für einen Bruch ge­kauft habe, ob Sie den zu­recht­krie­gen.‹«

 

Und mit ei­nem tie­fen Au­fat­men: »Ich hab’s im­mer wie­der zu­recht­ge­kriegt. Ein­le­ge­ar­bei­ten, die ka­putt wa­ren, ur­al­te Din­ger, ich hab sie hin­ge­kriegt, Jun­ge, ein­fach groß­ar­tig!«

»Na – und?« fragt Ku­falt miss­bil­li­gend. »Da kannst du doch im­mer wie­der rein, wenn’s so schön war. Die fah­ren dich von der Da­vids­wa­che gra­tis raus, da hät­ten wir kein Fahr­geld aus­zu­ge­ben brau­chen.«

»So?« sagt Batz­ke und sieht Ku­falt böse fun­kelnd an. »So? Meinst du das? Ich will dir was sa­gen, Ku­falt, du bist ein­fach doof!«

Und da­mit dreht sich Batz­ke um und fängt an, ei­lig aus­zu­schrei­ten. Er um­run­det den gan­zen Bau, ein­mal, zwei­mal, und schwei­gend läuft Ku­falt ne­ben ihm her, zit­ternd, dass er sich die Gunst ei­nes so mäch­ti­gen Geld­ge­bers ver­scherzt hat.

»Du kannst ja schließ­lich ma­chen, was du willst«, sagt plötz­lich Batz­ke. »Ich hab heu­te wei­ter nichts vor. Ich lat­sche nach Haus.«

»Ich auch«, sagt Ku­falt eif­rig. »Ich auch.«

Und so wan­dern sie denn den lan­gen Weg ne­ben­ein­an­der­her, und so war Batz­ke ja nun auch wie­der nicht, dass er den gan­zen Weg ge­muckscht hät­te, nein, eine ganz ver­nünf­ti­ge Un­ter­hal­tung kam zu­stan­de. Sie hat­ten ja so ei­ni­ge ge­mein­sa­me Erin­ne­run­gen, und man konn­te herr­lich la­chen, wenn man sich all die Doofen ins Ge­dächt­nis zu­rück­rief, die man rein­ge­legt hat­te, Wacht­meis­ter wie Straf­ge­fan­ge­ne.

Und als die zehn Zi­ga­ret­ten von Ku­falt alle wa­ren, spen­dier­te ihm Batz­ke noch ein­mal fünf. »Da­mit musst du nun aber aus­kom­men.«

Als sie dann in der Stadt wa­ren, stand Batz­ke einen Au­gen­blick zö­gernd vor ei­nem Lo­kal und sag­te schließ­lich: »Na, komm mal mit rein, ich zah­le dir ein Abend­brot.«

»Ich dan­ke dir auch schön, Batz­ke«, sag­te Ku­falt.

Es war kein sehr be­rühm­tes Lo­kal, in dem sie dann sa­ßen, eher eine ver­räu­cher­te, ver­schmutz­te Stam­pe. Das Gän­ge­vier­tel dich­te bei. Aber das Es­sen schmeck­te, das Bier schmeck­te, und schließ­lich frag­te Batz­ke: »Willst du wirk­lich was an­fas­sen, Wil­li?«

»Kommt drauf an«, sag­te Ku­falt, der erst ein­mal satt war.

»Ich hab was aus­bal­do­wert«, sag­te Batz­ke.

»Ja?« frag­te Ku­falt.

»Auf dem Post­scheckamt«, sag­te Batz­ke.

»Da ist ohne Ka­no­ne nichts zu ma­chen«, sag­te Ku­falt sach­ver­stän­dig.

»Du bist wohl blöd? Über­fall!« em­pör­te sich Batz­ke.

»Was denn sonst?« frag­te Ku­falt.

»Da kommt«, flüs­ter­te Batz­ke und sah sich um, »je­den Mitt­woch und Sonn­abend so ’ne olle Schach­tel und holt im­mer sechs-, acht­hun­dert ab. Da­mit rennt sie durch die hal­be Stadt, bis in ein Ge­schäft an der Wands­be­ker Chaus­see.« – Pau­se. »Na, was meinst du?«

Ku­falt zog ein Ge­sicht. »Das ist nicht so ein­fach.«

»Ganz ein­fach ist das«, er­klärt Batz­ke. »Beim Lü­becker Tor gibt ihr ei­ner von uns bei­den was über die Rübe, der an­de­re reißt ihr die Ta­sche weg, ei­ner rechts, der an­de­re links …«

Das ist doch nichts, denkt Ku­falt. Der haut mit der Ma­rie ab, und mich neh­men sie hops.

Und laut: »Ich ver­ste­he dich nicht, Batz­ke, wo du die gan­ze Ta­sche voll Ma­rie hast.«

»Ach, höre doch bloß auf mit mei­nem Geld!« schreit Batz­ke wü­tend. Und ru­hi­ger: »Also willst du, oder willst du nicht? Es gibt ja noch mehr, die mit­ma­chen.«

»Das muss man sich über­le­gen«, er­klärt Ku­falt.

»Mor­gen ist Sonn­abend«, sagt Batz­ke.

»Ja, ja«, sagt Ku­falt nach­denk­lich.

»Also nein?« fragt Batz­ke.

»Ich weiß nicht«, sagt Ku­falt zö­gernd. »Ein biss­chen doof kommt es mir vor.«

»Wie­so doof? Ohne Ri­si­ko is nichts.«

»Aber nicht so viel Ri­si­ko für so we­nig Geld. Ich will nicht schon wie­der Knast schie­ben.«

»Den schiebst du so und so«, sagt Batz­ke nach­denk­lich. Er pau­siert und setzt dazu: »Wenn ich näm­lich will.«

»Wie­so?« fragt Ku­falt ver­blüfft.

»Fin­dest du nicht, der Kell­ner sieht mäch­tig blöd aus«, fragt Batz­ke ab­len­kend.

»Wie­so muss ich Knast schie­ben, wenn du willst?« fragt Ku­falt hart­nä­ckig.

»Willst du dem Kell­ner nicht die Ze­che be­zah­len?« lacht Batz­ke plötz­lich. »Ich geb dir auch einen von mei­nen Schei­nen.«

»Von – dei­nen – Schei­nen …?«

Ku­falt glotzt.

»O Mensch, hast du’s noch im­mer nicht ka­piert?!« platzt Batz­ke los. »Lin­ke Ma­rie ist das, In­fla­ti­ons­geld ist das! Und geht hin und kauft fünf­zig Zi­ga­ret­ten da­mit!«

Plötz­lich steht vor Ku­falts Auge die Sze­ne vom Vor­mit­tag: die runz­li­ge, ver­wirr­te Alte mit der hel­len Stim­me, im Hin­ter­zim­mer die Frau, die ge­ra­de ein Kind be­kom­men hat, viel­leicht de­ren letz­tes Geld – und in wel­cher Ge­fahr war er ge­we­sen? Der Batz­ke hat­te sich schön in eine Sei­ten­stra­ße ge­drückt, der Lump, der Elen­de! Und wenn nun ein Ver­käu­fer im La­den ge­we­sen wäre, ir­gend­ei­ner, der nur ein biss­chen wa­cher war, dann hät­te Ku­falt um die­se Stun­de schon wie­der auf der Po­li­zei ge­ses­sen, mit ei­nem hüb­schen, lan­gen Knast vor sich …

Aber der Batz­ke lacht ihm ins Ge­sicht, die­ser elen­de Kerl, der steckt das Wech­sel­geld ein und macht nicht ein­mal Kip­pe …

»Batz­ke!« schreit Ku­falt. »Ich will jetzt so­fort …«

»Ober, mein Freund zahlt!« schreit Batz­ke, greift sei­nen Hut, und ehe noch Ku­falt pro­tes­tie­ren kann, ist er aus dem Lo­kal.

Ku­falt zahlt drei Mark acht­zig.

Blieb Rest sie­ben Mark fünf­zehn.

5

An die­sem er­eig­nis­rei­chen, schick­sals­vol­len Sonn­abend wach­te Ku­falt früh auf, ganz früh. Er lag in sei­nem Bett und grü­bel­te. Dach­te nach in dem schmut­zi­gen, ver­kom­me­nen Zim­mer mit dem knol­li­gen Fe­der­bett, das Hun­der­te vor ihm be­schla­fen ha­ben moch­ten, mit oder ohne ihr Mäd­chen, denn die olle Dü­bel war nicht so – nein, so was mach­te ihr Lau­ne. Er sah ge­gen die Fens­ter, es muss­te nun hell wer­den, aber in die­sen klei­nen Hof von ein paar Ge­viert­me­tern drang kaum Licht. Plötz­lich hat­te er das Ge­fühl, drau­ßen schi­en Son­ne. Er sah sie nicht, aber er ahn­te sie.

Er stand lang­sam auf, wusch sich viel und mit Gründ­lich­keit, ra­sier­te sich sorg­fäl­tig, zog fri­sche Wä­sche an, sei­nen bes­ten An­zug – und mit der ge­lieb­ten Mer­ce­des un­ter der Wachs­tuch­kap­pe ging er los. Drau­ßen schi­en wirk­lich die Son­ne.

Die ers­te Ent­täu­schung war die, dass die Leih­häu­ser erst um neun auf­mach­ten. Kein Mensch konn­te ah­nen, wann die­se alte Zie­ge aufs Post­scheckamt ging. Er stand un­ter der Rei­he der War­ten­den, man­che tru­gen Fe­der­bet­ten, ei­ner hat­te einen Re­gu­la­tor un­ter dem Arm. Die Leu­te stan­den still, ohne zu spre­chen, sie sa­hen alle vor sich hin, je­der war mit sich al­lein, ge­wis­ser­ma­ßen häus­lich in sei­nen Sor­gen ein­ge­rich­tet. Nur wenn je­mand Fri­sches sich an die Rei­he der an­de­ren an­stell­te, war­fen sie einen ra­schen Blick auf ihn, um zu se­hen, was er wohl zum Ver­satz bräch­te. Dann sa­hen sie wie­der vor sich hin.

Als die Tür ge­öff­net wur­de – end­lich, end­lich! –, ging al­les ganz schnell.

»Drei­und­zwan­zig Mark«, sag­te der Be­am­te, und als Ku­falt in Ge­dan­ken an sei­ne hun­dert­fünf­zig zö­ger­te, sag­te er auch schon: »Bit­te wei­ter­ge­hen!«

»Nein, nein«, sag­te Ku­falt, »ge­ben Sie schon her.«

Eine Wei­le muss­te er noch an der Kas­se war­ten, dann hat­te er das Geld und lief mehr, als er ging, zu ei­nem Fahr­r­ad­ver­lei­her, den er sich schon am Abend vor­her aus­ge­sucht. Auch hier gab es Schwie­rig­kei­ten. Zwan­zig Mark schie­nen dem Ver­lei­her zu we­nig als Si­cher­heit für ein na­gel­neu­es Renn­rad. Ku­falt re­de­te end­los auf ihn ein. Schließ­lich hin­ter­leg­te er noch sei­nen Mel­de­schein, hin­ter­leg­te er noch den Pfand­schein, und dann fuhr er los.

Es war gar nicht so ein­fach, so gut er frü­her ge­ra­delt hat­te, nach net­to sechs Jah­ren im mo­der­nen Stra­ßen­ver­kehr zu­recht­zu­kom­men. Und er muss­te gut zu­recht­kom­men. Heu­te kam al­les auf Schnel­lig­keit, ra­schen Ent­schluss, Geis­tes­ge­gen­wart an.

Das Lü­becker Tor (das kein Tor mehr ist, son­dern ein Platz) ist eine un­über­sicht­li­che Ge­schich­te. Vie­le Stra­ßen mün­den dort ein, die Fuß­gän­ger lau­fen von hier und nach dort, man muss­te im­mer den Kopf dre­hen. Und dann sind da Bu­den, die den Über­blick er­schwe­ren, die Elek­tri­schen fah­ren vor­bei und ver­de­cken die Passan­ten auf der an­de­ren Sei­te.

Plötz­lich aber sah Ku­falt – und er ging blitz­schnell in De­ckung mit sei­nem Rad – aus der Be­dürf­nis­an­stalt drü­ben auf der an­de­ren Sei­te ein Ge­sicht her­aus­schau­en, ein be­kann­tes Ge­sicht. Und nun wuss­te er, dass er, trotz­dem die Uhr elf Uhr fünf­zehn zeig­te, nicht zu spät ge­kom­men war.

Hier stand er. Vi­el­leicht dach­te er an al­les Mög­li­che, viel­leicht so­gar an die Zeit, da er ein Kind ge­we­sen war, und sei­ne Mut­ter war nach dem Abendes­sen in sein dunkles Schlaf­zim­mer ge­kom­men, hat­te sich über sein Bett ge­beugt und ge­sagt: »Träu­me gut. Aber gleich ein­schla­fen!«

Hier stand er, und die Leu­te lie­fen, und si­cher war in ihm das gan­ze Ge­fäng­nis wach, er hat­te die Brücken ab­ge­bro­chen, er wuss­te: Ein­mal bin ich wie­der dort. Wann? Heu­te Mit­tag schon? Oder erst in fünf Jah­ren?

Batz­kes Kopf tauch­te im­mer wie­der auf, spä­hend wie ein Fuchs sah das har­te, böse Ge­sicht, die blin­zeln­den Au­gen über die Stra­ße, dann war es wie­der fort, und man hat­te von Neu­em die Mög­lich­keit, sich auf das Rad zu set­zen und heim­zu­fah­ren. Wozu heim­fah­ren? Ehr­lich und an­stän­dig un­ter­krie­chen, sich de­mü­ti­gen, bet­teln und doch ver­re­cken!

Ku­falt fass­te die Lenk­stan­ge fes­ter – wie soll­te er wis­sen, wie die­se ält­li­che Buch­hal­te­rin aus­sah?

Er wuss­te es. Da kam sie, mit ei­nem tro­ckenen Schritt, der brau­ne Rock war ziem­lich lang, die Füße setz­te sie ein­wärts, ihr Ge­sicht war ält­lich, sehr weiß, von dem kran­ken Weiß der Bü­ro­stu­ben. Un­ter ei­nem klei­nen Filz­hut her­vor hing grau­es, zum Bu­bi­kopf ge­schnit­te­nes Haar.

Sie kam, und sein Herz klopf­te im­mer schnel­ler, und es fleh­te in ihm: Wenn er es doch nicht wagt, ich könn­te heim­fah­ren, wenn er doch den Mut ver­lö­re!

Es fiel über­haupt nicht auf im ers­ten Au­gen­blick. Batz­ke war hin­ter ihr, er schi­en sie zu strei­fen, als er rasch vor­bei­ging, so wie sich eben Passan­ten auf der Stra­ße strei­fen, dann kam es ganz lei­se wie ein un­ter­drück­ter, ver­blüff­ter Schrei her­über zu Ku­falt.

Die brau­ne Ak­ten­ta­sche in der Hand, lief Batz­ke in eine Qu­er­stra­ße hin­ein, und plötz­lich schrie sie ganz laut drü­ben. Leu­te lie­fen zu­sam­men. Schon sah Ku­falt nur den Auf­lauf, er sah Batz­ke nicht mehr, und dann – wie schwer wur­de der Ent­schluss, saß er auf sei­nem Rad, die Pfei­fe ei­nes Schu­pos tril­ler­te, Au­tos hiel­ten an, eine Elek­tri­sche stock­te so jäh, dass die Schie­nen auf­schri­en, er tram­pel­te an ihr vor­über, in die Qu­er­stra­ße hin­ein, kein Batz­ke, in die nächs­te Qu­er­stra­ße, ge­ra­de­aus, kein Batz­ke – al­les um­sonst? Al­les ver­geb­lich?

Es war sinn­los, so wei­ter­zu­fah­ren. Er müss­te Batz­ke längst ge­se­hen ha­ben! Ver­lo­ren! Und doch fuhr er wei­ter.

Es durf­te nicht ver­lo­ren sein, es durf­te nicht um­sonst sein. Plötz­lich wuss­te Ku­falt, das, was er heu­te früh ge­wollt hat­te, war nicht der An­fang zu ei­ner Ga­no­ven­lauf­bahn ge­we­sen, es war der An­fang ge­we­sen zu ei­nem ehr­li­chen, stil­len, klei­nen Da­sein, un­ter­ge­kro­chen in der win­zi­gen Stadt dort hin­ten, viel­leicht mit ei­nem gu­ten Mäd­chen, mit dem man Kin­der ha­ben wür­de. Nur das biss­chen Be­triebs­ka­pi­tal für den An­fang – da­für hat­te es der An­fang sein sol­len! Es durf­te nicht um­sonst ge­we­sen sein.

Hier ste­hen Vil­len und Miets­häu­ser durch­ein­an­der, der Lärm vom Lü­becker Tor ist längst ver­k­lun­gen. Hier heißt es Ma­x­stra­ße, Eil­be­cker Rie­de. Und nun kommt er wie­der hin­aus auf eine große, brei­te Stra­ße. Es ist die Wands­be­ker Chaus­see, es ist eine Vier­tel­stun­de spä­ter. Kaum fünf Mi­nu­ten ist er ent­fernt vom Lü­becker Tor. Und dort, wo sich die Wands­be­ker Chaus­see und der Eil­be­cker Weg ga­beln, dort, wo eine klei­ne Ver­kehrs­in­sel ist, ein Häu­schen mit ei­ner Po­li­zei­wa­che steht dar­auf, es ist ru­hig dort, still, dort sieht er den Batz­ke, sieht er ihn wirk­lich und bremst und steigt ab und sieht ihn von fern an und sagt sich: Al­les Un­sinn. Ich habe ja Angst vor ihm.

 

Ein Schu­po geht in die Wa­che, sein Blick fällt flüch­tig auf Batz­ke, aber Batz­ke stört das nicht: Darf man hier etwa nicht ste­hen und auf sein Mäd­chen war­ten, eine Ak­ten­ta­sche in der Hand?

Ku­falt lehnt sein Rad lang­sam und ge­dan­ken­voll an einen Baum, er lässt es da ste­hen, ver­lo­ren ist doch ver­lo­ren, und geht es gut, kommt es dar­auf nicht an.

Der Batz­ke sieht nach ei­ner an­de­ren Rich­tung. Ku­falt kommt bis auf ei­ni­ge Schrit­te an ihn her­an, dann wen­det der Gro­ße, Schwar­ze den Kopf und sieht den Kum­pel von ges­tern. Ohls­dor­fer Fried­hof, die lin­ke Ma­rie, die Ze­che von ges­tern Abend.

Batz­ke zieht die Brau­en zu­sam­men, sein Ge­sicht sieht sehr fins­ter aus, zum Fürch­ten. Und Ku­falt fürch­tet sich auch.

Trotz­dem weiß er, jetzt hängt al­les vom Ton sei­ner Stim­me ab, von sei­nem Auf­tre­ten, von dem, was Batz­ke über ihn denkt.

Er sagt, er wirft da­bei einen Blick auf das Fens­ter der Wa­che, hin­ter dem man einen Schu­po sieht: »Kip­pe oder Lam­pen!«

Batz­ke sieht Ku­falt an. Er sagt kein Wort. Ku­falt merkt, wie sei­ne rech­te, freie, un­ge­heu­re Tisch­ler­pran­ke sich an­hebt – und dann sieht er et­was in Batz­kes Ge­sicht, was ihm ein biss­chen Mut macht: Un­schlüs­sig­keit.

»Al­ter Jun­ge«, sagt er. Er sagt es ganz freund­schaft­lich. Plötz­lich fühlt er, sie bei­de ste­hen auf glei­chem Fuß. End­lich ein­mal nach Jah­ren der Be­kannt­schaft wirk­lich auf du und du. Er hat den Batz­ke an­ge­schis­sen. Der Batz­ke ist na­tür­lich wü­tend, aber Ga­no­ven fres­sen ein­an­der auf, es ge­hört zum Ge­schäft. Es ist ein Na­tur­er­eig­nis: Was kannst du da schon ma­chen!

Batz­ke sagt, und auch er sieht da­bei nach dem Fens­ter von der Po­li­zei­wa­che: »Aber doch nicht hier!«

»Gera­de hier«, sagt Ku­falt.

Batz­ke steht un­ent­schlos­sen.

Ein Po­li­zeif­lit­zer kommt die Wands­be­ker Chaus­see vom Lü­becker Tor her an­ge­rast, hält vor der Wa­che, ein Be­am­ter springt her­aus, er sieht die bei­den gar nicht an: Wel­cher Ga­no­ve stellt sich denn ge­ra­de un­ter den Schutz ei­ner Po­li­zei­wa­che?! Der Batz­ke ist eben doch ein schlau­es Aas!

Das be­weist er auch da­durch, dass er jetzt ohne Wei­te­res die Ta­sche öff­net, hin­ein­greift, blind kramt sei­ne Hand dar­in her­um, knüllt was zu­sam­men, gibt es Ku­falt.

Aber Ku­falt ge­niert sich nicht mehr. Er macht die Schei­ne wie­der glatt, zählt sie, sechs Fünf­zi­ger, und er sagt mit mil­der Ge­las­sen­heit: »Kip­pe habe ich ge­sagt! Lass mich mal in die Map­pe se­hen.«

Batz­ke zö­gert wie­der. Dann aber greift sei­ne Hand noch ein­mal in die Ta­sche. Noch ein­mal bringt sie ein Pa­ket­chen her­vor, dies­mal sind es acht Fünf­zi­ger. Er gibt sie Ku­falt und sagt: »Nun aber Schluss, Wil­li, sonst schmeiß ich den gan­zen Kram hin, hier vor der Wa­che. Aber vor­her rich­te ich dich noch so zu, dass dich dei­ne ei­ge­ne Mut­ter nicht wie­der­er­kennt.«

Jetzt ist es mit der Un­ent­schlos­sen­heit an Ku­falt. Ei­nen Au­gen­blick steht er so da, sieht Batz­ke an, der die Ta­sche wie­der schließt, sieht Batz­ke an, steckt die Schei­ne in sein Jackett, er sagt und lacht da­bei: »Die drei Mark acht­zig Ze­che von ges­tern Abend bleibst du mir aber noch schul­dig, Batz­ke!«

»Tjüs«, sagt Batz­ke.

»Tjüs«, sagt Wil­li Ku­falt.

Und sie ge­hen aus­ein­an­der. Je­der in an­de­rer Rich­tung über den Damm, Ku­falt sei­nem Rade zu, das wahr­haf­tig noch da­steht.

»Hal­lo«, ruft es plötz­lich, »hal­lo, Wil­li.«

Sie ge­hen wie­der auf­ein­an­der zu.

Batz­ke fasst den Ku­falt bei der Schul­ter, fasst ihn schmerz­haft fest und sagt: »Läufst du mir aber in nächs­ter Zeit über den Weg …«

Ku­falt macht sei­ne Schul­ter frei. »Also auf Wie­der­se­hen im Bun­ker, Batz­ke«, sagt er und lacht.

Dann geht er zu sei­nem Rad, setzt sich dar­auf und fährt los. Er hat es sehr ei­lig. In spä­tes­tens zwei Stun­den muss er mit all sei­nem Kram aus Ham­burg sein: Batz­ke könn­te sich den Fall doch noch ein­mal über­le­gen. Ku­falt ist po­li­zei­lich ge­mel­det, und die Hin­ter­häu­ser in den Ra­boi­sen küm­mern sich nicht viel dar­um, ob ge­ra­de mal ei­ner schreit.

Er tritt mit al­ler Wucht auf die Pe­da­le.