Einfach geh'n: Stefan Wiebels Lebensreise

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Kapitel I: Nichts versäumen


Kapitel I: Nichts versäumen


Das Ziel stets klar vor Augen.

Es geht nicht um Rekorde, es geht um Erleben, in der Natur. Still und sanft. Ruhe aufsaugend, Spannung haltend, Langsamkeit spürend. Körperlich wie seelisch, physisch wie psychisch. Gedankenfrei, wenn möglich. So inspirierend. Stefan braucht das, immer stärker. Immer intensiver. Immer impulsiver, die Kopfgeburt. Das Kribbeln, das Sprudeln in der Magengegend, die Vorfreude, das warme Wohlgefühl des auferlegten Ziels stets vor Augen. Und die Neugierde, den Pulsschlag, das Pochen, das Wissenwollen. Es geht nicht um Rekorde. Nie.

Monatelange Vorbereitungen. „Denke ich an alles? Bloß nichts übersehen. Was kommt auf mich zu?“ Stefan läuft auf und ab, im Haus. Aufgeregt. Das ausladende Erdgeschoss, die liebevoll her- und eingerichtete Wohnung voller Reiseaccessoires im Reichenhaller Talkessel, reichlich Platz zum Sinnieren. Der Zeigefinger streift am Keramik-Schachbrett entlang, das er in Mexiko beim Spiel gegen Jesus, dem Bruder von Miguel, dem Spezl, gewonnen hatte. „Die müssen dort immer gleich um etwas spielen. Hätte ich verloren, hätte ich nicht gewusst, was ich hätte hergeben können.“ Die frühwinterliche Nachmittagssonne blinzelt durchs Fenster und belichtet ein paar Staubkörner, die tanzend der Schwerkraft trotzen. Stefan ist mit seinen Gedanken ganz weit weg. Im Norden Europas, in Lappland. Bedächtige Schritte. Grübeln. „Was ist noch zu tun?“ Standard-Telefonklingelton. Er muss eine Kundin an einen Kollegen vertrösten. Sie darf seine Empfehlung ruhig verraten, beim konkurrierenden Tandempiloten. Der angefragte Gleitschirmflug im April, wenn die Aufwinde hier in den Voralpen perfekt sind: unmöglich. Warum? Es geht nach Skandinavien. Einmal mehr. Die nächste Tour, der nächste Trip, das nächste Erleben. Der nächste Vortrag, der zweite, ist schon im Kopf, wenngleich noch ohne Drehbuch oder echte Bilder. Bewegte wie starre. Wie sie aussehen könnten, das weiß er bereits vorher. Stefans Vorstellungskraft ist enorm.


Stefan Wiebel in seinem Element, hier am Rasmustinden (1.224 Meter) über dem Balsfjord in den Lyngenalpen.

Die Ausrüstung, jene, die „seine“ Bilder produziert und das bereits geschulte Fotografenauge mittels unfassbarer Technik so sagenhaft unterstützt, wurde ausgebaut, sukzessive. „Ich habe mich aus dem Fenster gelehnt. Weit, sehr weit“, seufzt Stefan, der Ungewissheit bewusst. „Lohnt sich das? Das alles?“ Kommt hinten raus ein Plus? Muss es überhaupt ein Plus sein? Er muss es tun, ohnehin. „Ich kann nicht mehr anders.“ Das Kamera-Equipment darf und soll Profi-Ansprüchen genügen. Erst recht bei bis zu minus 20 Grad, bei Eis und Schnee, bei Regen und Wind und zuletzt einem Sturm. Einem Sturm, seinem Leben gleich.


Stefan gelang es, Chileflamingos am Chiemsee zu fotografieren.

Viel zu lange spielte die Fotografie eine untergeordnete Rolle: „Damit hab ich mich nie umfassend beschäftigt. Digital schon gar nicht.“ Jetzt bereiten Stefan feinste Pixel und Kontrast aufnahmefähige Sensoren richtig Spaß. Und Unbehagen: „Habe ich alles zusammen, habe ich die für meine Ansprüche bestmögliche Ausrüstung dabei?“ Fotografen-Kollegen verstehen: Hundertprozentig zufrieden sind sie mit ihrer Ausstattung samt Zubehör nie. Stefans Ergebnisse können sich sehen lassen, mehr als das.

Es gelang ihm, fast als Einzigem vom Wasser aus (= hervorragende Perspektiven), vier Chileflamingos zu fotografieren. Ausgebüchst und mehr Rot als Rosa. Mitten in Oberbayern. Sie kommen zurecht, in „seinem“ Revier am Bayerischen Meer, dem Chiemsee. Ansonsten gehört die Saalach oder der Luftraum über dem Berchtesgadener und Salzburger Land zu seinen Kamera-Jagdgebieten.


Stefan hat sich mit der Zeit zu einem echten Profi an der Kamera entwickelt …


Das Unterwegssein stachelt an, so stark, so unverzeihlich, so bebend. Vom „höher, schneller, weiter“ längst getrennt. „Was bringt mir das?“ Die Fragen wiederholen sich. Er will erleben, nicht hetzen, will sehen und nichts versäumen, von den Großartigkeiten der verschwenderisch-verführenden, der faszinationsschwangeren Landschaften. Immer wieder, immer mehr. Er denkt nicht an Rekorde. Körperlich stehenbleiben ja, geistig nie. Gehen, einfach geh’n … Vorankommen. In klarer Luft. Einatmen. Für ewig abgespeichert. So tief. Die Kraft der smogfreien Polarluft. Aufsaugen. Und mit nach Hause nehmen. Die Inspiration, das Schweben auf Wasser, das Gleiten auf Schnee, die unfassbare Stille. Das Knirschen der Schneeschuhe auf Eisboden, der eigene Atem, das Außer-Atem-Sein, die Erschöpfung – die am Ende ein so wohliges Gefühl vom Kopf bis in alle zehn Zehenspitzen zaubert. Letztlich wieder Wärme. Er paddelt, er zeltet und steigt auf (Schnee-)Berge, mit Skiern, fährt wieder elegant ab, klettert, auch mal im Eis. Und er fliegt, immer noch … – all das hat er längst und das andere vorerst für sich entdeckt.

Früher bewegte sich Stefan im Spitzensportbereich: Einmal Deutscher Meister, zu zweit an 20 neonbunten Nylonschnüren hängend, unter einem 26-Quadratmeter-Schirm. Sechsmal beim Dolomiten-Mann dabei, in Lienz, Osttirol, westliches Österreich. Als Paraglider, als Gleitschirmstürmer. Genuss war’s keiner, eher eine Hatz, eine gefährliche. Wie so oft. Das Vergnügen kam danach, am Siegerpodest, zu kurz: zweimal Zweiter mit jenem Schirm, einmal Gesamtdritter im Zwei-Disziplinen-Team, mit Anderl Hartmann, dem inspirierenden Freund und hilfreichen Ideengeber, dem seit 2013 Profi-Mountainbiker, der gute, der immer besser werdende … – von nebenan, aus Bad Reichenhall. Mit ihm er trainiert schon mal, am Hochschwarzeck, Berchtesgadener Land, in tiefen Tälern und auf hohen Bergen.


Profi-Mountainbiker Anderl Hartmann (rechts mit der Startnummer 20).

Kapitel II: Der Wegbleiber


Die Lyngenalpen.

Kapitel II: Der Wegbleiber

Er wollte es schon immer: Unterwegs sein. Es lag im Blut. Stefan musste immer früh raus, nicht erst beim ersten Sonnenstrahl, denn da ist er längst da. Auch der letzte hat seinen ganz besonderen Reiz für ihn, er bleibt bis zum Schluss des Tages, bis zum letzten Lichtschein. Aber er kommt wieder. Zurück, nach Hause, ins Gewohnte, scheinbar Sichere, Geborgene und Warme.


Stefan, gerade fünf geworden.

Hügelig ist’s dort, wo er diese Erde betrat. Maingegend, Weingegend, Fachwerkgegend. Würzburg ganz nah. Karlstadt-Wiesenfeld, der Main gleich nebenan. Unterfranken, Bayern, gerade noch. Heimat der Mutter. Und mal Soldaten-Station des Vaters. Die lernten sich beim Klettern kennen und bald lieben. Aber es ging rasch zurück in die nähere Heimat von Papa Willi, der in Rankham bei Bad Endorf zur Welt kam und später am Bodensee lebte. Sein Vater war schon bei der Bundeswehr und wurde viel versetzt. Über Reit im Winkl und den Chiemsee, dort verbrachte Willi Wiebel den Großteil seiner Jugend, erreichten sie später Bad Reichenhall. Hier kam knapp ein Jahr nach der Geburt Stefans, also im Juni 1971, seine Schwester Simone zur Welt. Beide wuchsen in der Kurstadt auf, im „richtigen Bayern“, wie Stefan sagt. In Oberbayern, mehr Freistaat geht nicht. Richtige Berge, nicht nur Hügel wie am Main, die Felsen schroff und steil, so imposant, so hell der Kalkstein. Er fand das alles immer faszinierend und anziehend. Von Anfang an. Es lag im Blut. Sein Vater war bis 1980 Heeresbergführer bei den Gebirgsjägern, stationiert in der deutschen Hauptstadt des Salzes. Stefan ist ein Reichenhaller: „Ja, ich fühl' mich so, ohne Wenn und Aber“. Seine Schwester Simone lebt heute in Berchtesgaden.


Klettern war schon immer seine Sache.

Die Schule war ihm immer ein Dorn im Auge: „der blanke Horror“. Zwischen den Bänken saß er und schaute aus dem Fenster, träumte von fernen Ländern. Und vom Ende der letzten Stunde: War die geschafft, ging’s sofort raus in die Natur, zum „Staffabrucka Stoabruch“, gefährliche Kletterspiele über der Saalach, zum Streunen und Lausbuben-Geschichten aushecken, im Wald über dem Strailach-Weg – und mit erst zwölf Jahren und Papa Willi das erste Mal durch die berüchtigte Watzmann-Ostwand. Dort, wo Jahr für Jahr mindestens ein Kletterer sein Leben lässt. Nicht nur in der Göll-Westwand ging’s später ordentlich zur Sache, die Schwierigkeitsgrade stiegen. An den Gleitschirm hingen sie ihn (zu) früh, 14 oder 15 war er gerade einmal: Am Haiderhof bei Schneizlreuth landete Stefan prompt in einem Apfelbaum. Das erschreckte ihn und seine Eltern. Aber nur kurz. Er wurde aufs Leben vorbereitet, mit allen „Aufs und Abs“.

 

Aufklärende Lieder


Als 14-Jähriger einen Sommer am Berg.

Die kompletten Sommerferien 1984 verbrachte Stefan in primitivsten Verhältnissen: Ferienjob auf 2.941 Metern, in einer Biwakschachtel am Hochkönig. Das heutige Franz-Eduard-Matras-Haus wurde gebaut, denn das Schutzhaus, bereits 1898 errichtet, fiel am 4. Mai 1982 einem Brand zum Opfer. Das Wiedereröffnungsfest stieg am 1. September 1985. Stefan half Hüttenwirt Hermann Hinterhölzl und den Handwerkern, die sich die Bergklinke in die Hand gaben: Maurer, Installateure, Dachdecker, Maler. Er kochte: „Na ja, ich wärmte Dosenfutter auf, jeden Tag die gleiche Pampe mit Tomaten, Reis, Paprika und Hackfleisch“, schmunzelt er heute. Es gab eine spezielle Dosenpresse, das erleichterte die Sache ein wenig. Stefan putzte die Unterkunft und wusch die Wäsche der Arbeiter. Erstaunliches Selbstbewusstsein, erstaunliche Selbstständigkeit, erstaunliches Durchsetzungs- und Durchhaltevermögen eines Jungen, der schon immer wusste, was er wollte, was er tat, und der seine Ziele anpackte ohne vorab großartig zu lamentieren. Am Hochkönig genoss Stefan schon damals, als Heranwachsender, den Ausblick auf über 200 Dreitausender, vom Toten Gebirge über den Großglockner bis zur Zugspitze, erlebte sagenhafte Sonnenauf- und -untergänge. Er fühlte sich von Anfang an gut dort oben aufgehoben. Am Abend sangen sie Lieder, die handwerkenden Feuchtfröhlichen. Keineswegs jugendfreie Songs. „Da ging’s irgendwie immer um Frauen und ihre ‚Ausstattung‘ – das war ziemlich heftig“, lacht Stefan heute. „Ich glaube, ich wurde damals aufgeklärt, ziemlich unbewusst“.

Ein anderer Ferienjob brachte das Kontrastprogramm: Jeden Samstag um halb drei Uhr nachts aufstehen, um eine halbe Stunde später bei einem Bäcker ganz in der Nähe auszuhelfen: Semmeln und Brezen sortieren und fürs Liefern herrichten, ausfahren, putzen und was sonst noch so alles anfiel. Am Abend stand er dann auf einer großen Matte in Gelb, Rot und Blau und hat gekämpft. Beim Athletikclub Bad Reichenhall, als Schüler- und später als Jugend-Ringer. Einmal, da war er erst 14 oder 15, sogar gegen Olympia-Medaillengewinner Markus Scherer: „Der hat sich in der ersten Runde mit mir gespielt, danach hob er mich aus und feierte seinen üblichen Schultersieg. Der hatte wenig Fingerspitzengefühl, gegen einen Grünschnabel wie mich“, ärgert sich der Wiebei noch heute darüber, wenn er sich erinnert. Er musste aushelfen, weil die leichteste Gewichtsklasse bis 48 Kilogramm für die meisten Erwachsenen „zu leicht“ war. Nach zehn Jahren war Schluss, mit dem Ringsport, Mama Germana atmete durch: „Das gefiel mir gar nicht, das mit dem Rangeln“.

Noch kein Auswanderer


„Das Zelt war schon immer irgendwie meins“, sagt Stefan. Heute am liebsten im Schnee.

Heimat ist Stefan wichtig. Bei all dem Drang, raus zu müssen, in die Welt, weiß er sein Zuhause zu schätzen. In der Ferne daheim, daheim zu Hause. Abfahren, ankommen, dortbleiben, abfahren, ankommen, daheim sein, bleiben, … – das immer gleiche Spiel. Für immer weg bleiben? Noch nicht sein Ding. „Ich bin kein Auswanderer.“ Lange wegbleiben ja, vielleicht sogar mal ein ganzes Jahr, das schon. Aber für immer? Noch nicht. Die Träumereien von einer Blockhütte aus massiven Alaska-Stämmen im rauen Norden Nordamerikas sind legitim. Autark als Selbstversorger, Jäger und Fischer leben, eins mit der Natur werden, sein und bleiben. Jene Träume, niemand kann sie rauben.

Mit einer guten Freundin aus Zivi-Sani-Zeiten bestieg er Ende der 1980er-Jahre zum ersten Mal ein Flugzeug. Es brachte sie nach Zentralamerika. Die erste große Reise, sein Knackpunkt. Costa Rica und Guatemala infizierten ihn, mit einem Fieber der besonderen Art: Fernweh, dafür gibt es kein Rezept, dagegen keine Pillen. Bus und Bahn beförderten den Gringo und die Blonde („blonder geht’s nicht“), durchs Land. „Da bekamen die Latinos große Augen, mein lieber Mann.“


Dort, wo Stefan wohnt, ist zu erkennen, welche Länder er bereits bereist hat.

Voller Erinnerungen kommt er heim, von seinen Reisen, einige Mitbringsel im Gepäck. Das ist Usus. „Die will ich daheim aufhängen, um mich zu erinnern und noch so lange wie möglich vom Unterwegssein zu zehren.“ Doch allzu schnell, zu rasant für ihn, überholt Stefan der routinierte Alltag. „Daheim wird das lockere, beschwingte, ja befreite und total relaxte Schlendern durch die Straßen, die Fußgängerzone oft schnell ausgebremst.“ Die Gegenwart – der Stress und die Hektik der Menschen, das geschäftige Treiben, die teils schlechte Stimmung, hervorgerufen durch Negativ-Nachrichten in den Medien – greift nach ihm. Schneller als ihm lieb ist. „Arbeit ist auch wichtig, klar.“ Die Vorfreude auf das Zuhause, die selbst er, der Wegbleiber, stark in sich trägt, verpufft zu rasch: „Weil man wieder von all dem Wahnsinn in der Welt hört, vom Wahnsinn daheim, den Nachbarschaftsstreitereien, den lokalen Schwierigkeiten, Unfällen, Neid und Missgunst, Lug und Betrug – so viele Verrückte laufen bei uns rum.“ Die Mordnacht von Bad Reichenhall, kurz nachdem Deutschland zum vierten Mal Fußball-Weltmeister geworden war, ist ein trauriges Beispiel. Ein älterer Mann starb, ein 17-jähriges Mädchen wurde schwer verletzt.

Das Elchgeweih über der Eingangstür, der skandinavische Grill oder die echt-nordländischen Gartenmöbel können das unvermeidliche „ins normale Leben driften“ auf Dauer nicht kompensieren. Nicht für Stefan. Das Land „drumrum“ ist ein anderes, in Good Old Germany, in dem weder alles golden glänzt noch alles schlecht ist, beileibe nicht.

Zwei Bayern auf Rügen

Als Stefan und Irmi – sie war fünf Wochen später nach Norwegen geflogen und Stefan Wörz bereits zurück in Bayern, da sein Urlaub zu Ende war – wieder in Deutschland ankamen und die Fähre sie vom schwedischen Trelleborg in gut vier Stunden nach Sassnitz auf der größten deutschen Insel brachte, fanden sie einen nahe gelegenen Pinienwald. In einer kleinen Rügener Parkbucht wurde ihnen das Verweilen mit dem Wohnmobil per Tafel mit rotem Rand verweigert. Erst recht das Übernachten. Sie machten es trotzdem, waren müde, wollten einfach nur schlafen, und Stefan, vor allem er, war Verbotsschilder nicht mehr gewöhnt. Er wollte und will sich wehren, gegen ein durch und durch „vorgeschriebenes Leben“. Es war bereits Nacht. Sie blieben, ruhten gut, und brunchten noch besser am nächsten Morgen am menschenleeren, flach in die Ostsee abtauchenden Sandstrand, nur ein paar Meter von der Parkbucht. Prompt klemmte bei ihrer Rückkehr zum Fahrzeug ein kleiner weißer Strafzettel unterm Scheibenwischer. „Deutschland hatte uns wieder, willkommen daheim.“ Sie hatten niemanden gestört, die Umwelt in keinerlei Weise belastet, und hatten nun, nach nur wenigen Stunden, einen ersten unguten Heimat-Groll. „Natürlich leben wir hier sehr gut und wir dürfen nicht alles verteufeln. Wir haben alles, wir jammern auf hohem Niveau, logisch. Aber wir ersticken halt auch in Verboten, Vorschriften und Regeln.“ Der Strafzettel kam ihnen vor wie eine saftige Watsch’n, die sie – kaum zurück – unsanft und schmerzhaft empfing.

Sie blieben immer noch, auf diesem Parkplatz, hier war es gemütlich, hier war es ruhig, hier dufteten die Pinien und die Kiefern und vermittelten noch ein wenig Urlaubsstimmung, so kurz vor dem Wiederein- und Abtauchen in den (deutschen) Alltag. Und Stefan hatte so überhaupt keine Lust, sich unmittelbar wieder verbiegen zu lassen. Der Ordnungshüter schaute erneut vorbei, zur Mittagsstund schlug’s bereits, das silbergraue Wohnmobil mit dem BGL-Kennzeichen stand immer noch da. Er klopfte vehement an die Campingtür und drohte unbarmherzig mit dem zweiten Knöllchen, Zornesröte im schwitzenden Antlitz. Sie verstrickten sich, viele Worte, wenig Ertrag, kein Ergebnis. Der Uniformierte beharrte auf „seinem Recht“ und der Wiebei verschaffte „seinem Unmut“ darüber Luft. „Irrsinnige Schilder mit rotem Rand.“ Es ging hin und her. Ungut zuerst, auf einmal sachlicher, ruhiger, besser. Sie versprachen, bald zu fahren, wollten keinen größeren Ärger, und der sukzessiv auftauende und irgendwann einsichtige Strafzettelmann, der nur seinen Job gewissenhaft erledigen wollte, zerriss sein kleines Mandat. Das zweite. Und plötzlich sogar das erste, samt Fotobeweis. Sie kamen nochmals davon, konsequenzlos freigesprochen, die zwei Bayern auf Rügen.

In Skandinavien begegneten ihnen auch Vorschriften, natürlich. Doch nie mit dem erhobenen Zeigefinger. „Es sind eher Verhaltensregeln, die an den gesunden Menschenverstand appellieren – und ihn voraussetzen.“ Am Eingang eines Nationalparks werden die wichtigen Gebote einmal aufgelistet. „Das muss reichen, und es reicht.“ Im Naturschutzgebiet selbst darf der Flora-und-Fauna-Freund verbotsschildfrei wandern und genießen. Ich habe den – freilich keineswegs repräsentativen – Vergleichstest gemacht. Subjektives und unbestätigtes Resultat: Am Thumsee, „Biotop“ und Idyll nur wenige Fahrminuten oberhalb Bad Reichenhalls, meiner Heimatstadt, ein Areal von gerade einem Kilometer Länge und 140 Metern Breite im Schnitt, mit über- und unterirdischen Zuflüssen, begegnen dem aufmerksamen Spaziergänger sage und schreibe 32 verschiedene (!) Verbots- oder Gebots- sowie „Hinweisschilder bezüglich richtigen Verhaltens“ … – ja, sie schlagen ihm förmlich ins Gesicht.

Inspirierende Jugendzeit

Schon als Kind bewunderte Stefan die heimischen Kraxler, wenn sie wieder eine Erstbegehung in den Berchtesgadener Alpen in den hellen Kalkfels zauberten. Seitenweise verschlang er die Geschichten der tollkühnen, mutigen Kletter-Alpinisten, fand so viel Inspiration in den sagenhaften Bergbüchern unzähliger, oft vergessener Pioniere. Menschen mit unermesslichem Tatendrang, Mut, nicht zu bändigender Abenteuerlust. Selbst war er so intensiv mit den Eltern in den Bergen unterwegs, ganz ohne Brechstange lernte er das Leben in Tälern, auf den Almen und Gipfeln kennen. „Diese Zeit hat mich ganz stark geprägt“, weiß er heute. Und er weiß das alles zu schätzen. Papa Willi durfte er oft begleiten. Der arbeitete in einer sozialpädagogischen Erlebnisschule. Sie gingen klettern, absolvierten Kajakkurse, unternahmen mehrtägige Bergtouren, versorgten sich selbst. Hier spürte Stefan früh, welch Eigendynamik eine Gruppe entwickeln kann. Erst zwölf Jahre alt, war er voll und ganz im Teamwork integriert. Er lernte Könner und Laien kennen, echte Freaks, einige Verrückte, doch vor allem viele Bergführer aus der ganzen Welt. Und er eiferte ihnen nach, wusste bald eine Antwort auf die so oft gestellte Frage, was er denn mal werden wolle? Unumstößlich, ja nahezu in Stein gemeißelt: „Bergführer“. So klar wie der soeben beschriebene Thumsee, in dem er sich so oft nach heißen Sommertagen abgekühlt hatte. An späten Nachmittagen, als der Touristentrubel nachließ und die Einheimischen kamen, erfrischte er sich und genoss die lauen Abende am Ufer.

„Ist es egoistisch?“, fragt Stefan. Er meint sein Tun. Und dass er macht, was er sich vornimmt. Macht, was er sich erträumt. So viele schwierige Reisen hat er hinter sich. Alphatiere hatten das Sagen, für ihn so schwierige Charaktere, die ihm das Wegsein erschwerten. Aufgrund diverser persönlicher Aversionen wurden so viele Ziele verfehlt. „Je mehr Leute zusammen unterwegs sind, desto mehr Zu- und Eingeständnisse muss jedes Teammitglied machen.“ Die Reisen avancierten rasch zu dauerhaften Kompromissen. Das war (ihm) zu anstrengend, das Unterwegssein verlor seinen Reiz, den Genuss, das Erleben. Die eigenen Ansprüche, Ziele und Wünsche zurückschrauben, bei einer Expedition, die jeder Einzelne vielleicht nur einmal erlebt, nur einmal erleben darf und kann – das funktionierte zu oft nicht. Bergsteiger-Legende Reinhold Messer rieb sich, ehe er irgendwann allein oder mit Partnern seiner Wahl loszog und sein Tun selbst bestimmte, allzu oft an heroischen Expeditionsleitern auf. Freilich polarisierte er später selbst stark und wurde mitunter für Begleiter anstrengend. Für Stefan ärgerlich: „Ich war damals Landschaftsgärtner, verdiente nicht viel, verlor aber viel Geld bei derart unnützen, weil erfolglosen Unterfangen.“

 

Frühreif

Die Tendenz ging ganz klar Richtung „allein reisen“. Schon wieder quält Stefan, wenn er erzählt, die Frage, ob er dabei zu sehr an sich denkt, zu egozentrisch handelt. Doch wenn er allein unterwegs war, konnte, durfte und wollte er keinen anderen mit in seine Gefahr ziehen. Das war ihm klar. Und: Er war viel zu lange viel zu risikobereit. Schon mit 16 fuhr Stefan das erste Mal ohne Eltern in den Urlaub, trampte zum Klettern an die französische Adriaküste. Er wusste früh, was er wollte. Die Ziele klar vor Augen, die möglichen Konsequenzen nicht. „Hätte ich die damals einkalkuliert, hätte ich das alles womöglich nie gemacht.“ So ist er froh, bei allem was passiert ist, und das war nicht unbedingt wenig, vorab nicht so sehr daran gedacht zu haben, welchem Wahnsinn er da teilweise frönte. Letztlich machte es einen reifen Mann aus ihm, der heute wieder mit Begleitung reisen kann und auf größtmögliche Sicherheit umfangreichen Wert legt. Die Spannung dennoch nie verlierend.


Das war alles: Nur mit einem Rucksack und seinem Fahrrad, zerlegt in einem Karton, brach Stefan nach Mexiko auf.

Mit VHS-Spanisch – also nicht mehr als ein paar Brocken – ging es 1991 nach Mexiko. Da war er gerade 21. Allein, das Rad zerlegt in einer großen Schachtel. „Eigentlich mein bester Trip“, sagt Stefan heute. Er wollte radeln, im Land der Tortillas, Sombreros und des Tequilas sowie der Vulkane. Wollte von einem Feuerberg zum nächsten rollen und von ihnen springen. Und rein ins arme Guatemala, vielleicht runter bis in das so farbenfrohe Costa Rica. Nach dem Zivildienst, als Rettungssanitäter, hatte er Zeit und Möglichkeit aus- und aufzubrechen. Zurück in den Beruf, als Landschaftsgärtner, wollte er längst nicht mehr.

Im Moloch Mexiko Citys trat Stefan vor den riesigen Airport-Komplex. Staub, Smog und Lärm dominierten und erschlugen ihn im ersten Moment. Der immer gleichmäßige Rhythmus, der immer gleiche Takt, Motoren- und Maschinen-Monotonie tagein, tagaus. Ohne Pause. Ohne Durchatmen. Er, der Takt, bebte in seinen Ohren.

„Hinterm Flughafen hab ich mein Rad zusammengebaut, warf die Satteltaschen drüber und bin losgeradelt.“ Den Gleitschirm der Mutter im Rucksack. Mit 17, also vier Jahre zuvor, hatte er begonnen zu fliegen. Ohne Schein, schwarz, verjährte „Sünden“. Stefan wusste ein 10.000-D-Mark-Budget im Rücken, das durfte er selbstauferlegt verprassen. „Das musste weg.“ Er wollte es nicht aufheben. „Wozu“? Bei der Bank brachte es ihm nichts, so dachte er damals. Und so denkt er irgendwie noch heute.

Porentief rein

Naiv radelte Stefan dahin, zu wenig Flüssigkeit dabei. Er trocknete aus. Ein netter Lkw-Chauffeur hatte Cola geladen. Der war mit seinem Gefährt im Graben gelandet und half dem jungen Deutschen: „Da hab ich fünf bis sechs Flaschen auf einmal ausgetrunken.“ Danach hatte er noch mehr Durst.


Mit dem Rad allein in Mexiko unterwegs: Am Paso de Cortés, 3.700 Meter über dem Meer.

Bei Bauern fand er Unterschlupf, in Hütten Möglichkeiten zum Übernachten. Auch mal in einem billigen Hostel, so oft verdreckt, versifft regelrecht. Deshalb mal im Freien, weil sauberer, ruhiger und erholsamer als mit Dach überm Kopf. Nicht nur einmal landete Stefan unbewusst in einem Stundenhotel. „Von außen erkannte ich das nicht.“ Erstmal drin war rasch klar, was hier „gespielt“ wurde. Irgendwann war’s ihm egal. Es sind die „besseren Unterkünfte“: porentief rein, weil desinfiziert.

Mit dem Mountainbike, einem Shimano Longus Competition 2000, ging’s zum ersten Vulkan. Den ist er einfach raufgestiegen, kerzengerade da kein Weg, und wieder runtergeflogen. Er tat das, was er wollte. Ohne Fragen zu stellen, ohne sich irgendetwas dabei zu denken. So frei, so 100 Prozent Leben, so mittendrin im Leben statt nur dabei.

Und doch kam für den Wegbleiber so schnell und so unvermittelt alles wieder ganz anders …