Gott - Offenbarung - Heilswege

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§ 6 Expedition:
Gott denken im Widerstreit von Sein und Nichts

Nach christlicher Überzeugung lässt sich die theologische Rede von Gott nicht unter Absehung von menschlicher Erfahrung und ihrer vernunftgeleiteten Deutung rechtfertigen. Daher muss man, um von Gott reden zu können, stets auch von der (Erfahrungs)Welt reden. Man kann dann von Gott als dem „Anderen“ der Welt reden, wenn man nur so von der Welt reden kann, dass sie ihrerseits das Reden von einem „Anderen“ nahelegt. In diesem Sinn hat man erst dann ganz und unverkürzt verstanden (und nicht bloß erklärt), was die Welt ist, wenn man „mehr“ bzw. „anderes“ als die Welt (mit)versteht. Dazu aber bedarf es eines Anlasses, der mit dem Dasein der Welt verknüpft ist. Etwas an/in der Welt muss uns darauf bringen, „mehr“ als nur die Welt zu denken. Eben diese Möglichkeit, dass etwas in der Welt für die Existenz Gottes (als ihren „Schöpfer“) spricht, wird in der Moderne nachhaltig bestritten: Die Welt versteht sich – ohne Gott – von selbst. Sie lebt mit und aus einem gott-losen Selbstverständnis. Die Moderne setzt darauf, dass die Welt „selbstverständlich“ ist und in ihrer fraglosen Faktizität aus sich selbst verstanden werden kann. Wenn eine „demonstratio religiosa“ zeigen will, dass man dennoch von Gott reden kann, muss sie nachweisen, dass diese Prämisse eine unselbstverständliche Selbstverständlichkeit ist, d. h. man versteht sie erst dann ganz, wenn man mehr bzw. anderes als nur sie selbst versteht.

Wer einen solchen Versuch unternimmt und zu einer Neuformatierung der „demonstratio religiosa“ startet, muss sich auf einen langen – und vielleicht auch verschlungenen – Denkweg machen, der sich aus verschiedenen Etappen zusammensetzt. Auf der ersten Etappe sind Sortierungen nötig, die das Proprium der religiösen Frage nach Gott und des Gott/Welt-Verhältnisses betreffen. Bei diesem Proprium geht es nicht um den Versuch einer mit den Naturwissenschaften konkurrierenden „Welterklärung“, sondern um das Bemühen zu verstehen, was es mit der Welt prinzipiell auf sich hat. Etwas erklären können und seine Existenz als Ergebnis eines zeitlichen Hervorgehens aus (einem Bündel von) Ursachen beschreiben, heißt noch nicht: etwas verstehen. Das Bemühen um Verstehen erkundigt sich nach der „Vertretbarkeit“ des Erklärten: Kann man dazu „stehen“? Kann man der Erklärung „beitreten“ oder für das Erklärte „eintreten“? Etwas erklären heißt: rekonstruieren, wie dasjenige geworden ist, das jetzt „da“ ist. Etwas verstehen heißt: sich einen eigenen Reim auf das Rekonstruierte bzw. auf die Rekonstruktion machen können. Die Reimfrage lautet: „Und was hältst du jetzt davon? Wie stehst du jetzt dazu?“

1. Welt ohne Gott:
Sinnvolles Leben in einer sinnlosen Welt?

Für eine Stellungnahme, in der man eine Einstellung zur Frage bekundet, was es erstlich und letztlich mit dem Dasein auf sich hat, liefern naturwissenschaftliche Erklärungsmuster keine hinreichende Vorlage. Aber ebenso greifen theologische Versuche ins Leere, Gott im Rahmen einer Weltentstehungstheorie als Ingenieur des „fine tuning“ der Naturkonstanten, eines kosmischen „intelligent design“, als Impulsgeber für den Urknall oder als Arrangeur von Quantenunbestimmtheiten vorkommen zu lassen, um auf diese Weise anzugeben, was es mit der Welt auf sich hat.59 Dies gilt auch für den Vorschlag, Gott bzw. seine Schöpfungsaktivität „wie ein morphogenetisches Kraftfeld zu denken, das über die gesamte Wirklichkeit ausgebreitet ist, sie durchdringt und seinen Einfluss auf alles Geschehen darin ausübt.“60 Hierbei wird erneut der Unterschied zwischen principium und initium, zwischen Ursache und Bedingung verwischt und gegen eine Maxime verstoßen, die Thomas von Aquin der Theologie ins Stammbuch geschrieben hat: Ein falsches Nachdenken über die Schöpfung hat ein falsches Reden über den Schöpfer zur Folge!61

Offenbar ist man aber auf Seiten mancher Theologen überzeugt, um eines bestimmten apologetischen Anliegens willen sich mit der Kunst des rechten Unterscheidens von Ursache und Grund des Daseins einerseits und von Bedingungen der Daseinsakzeptanz anderseits erst gar nicht befassen zu müssen. Dem Eindruck eines auf Zufall beruhenden, weder Plan noch Ziel erkennen lassenden Universums, den eine naturalistische Kosmologie verstärkt,62 meint man nur derart eine „anti-nihilistische“ Perspektive entgegensetzen zu können, dass man im Schöpfungsgedanken sowohl einen zeitlichen Anfang als auch eine Sinn- und Zielbestimmung des Daseins unterbringt. Der Gedanke, dass eine im naturwissenschaftlichen Sinne „grundlos“ und „bedingungslos“ bestehende Welt gerade in dieser „Grundlosigkeit“ eine Freiheits- und Sinnbedingung des Daseins offenbart,63 wird von den immer wieder aufkommenden Versuchen einer „theistischen“ oder „kreationistischen“ Weltentstehungstheorie64 gar nicht erst bedacht. Zwar machen sich diese Versuche die Anliegen religiöser Menschen zu eigen, die entweder ihren Schöpfungsglauben naturwissenschaftlich bestätigt sehen wollen oder für die in einer naturalistischen Welterklärung offen gebliebenen Sinnfragen eine naturwissenschaftlich anschlussfähige spirituelle Antwort suchen.65 Dabei gehen sie allerdings aus von einem komplementären Verhältnis oder von der Möglichkeit wechselseitig additiver Beiträge von Naturwissenschaft und Theologie. Diese Voraussetzung aber generiert die unzulässige Vorstellung, es könne der Bestand von Informationen über das initium der Welt vermehrt werden durch Einsichten über das principium ihres Daseins (und umgekehrt). Für beide Perspektiven aber besteht kein materialer Überschneidungsbereich (obwohl sie einen gemeinsamen Gegenstand haben: das Dasein der Welt). Es ist lediglich möglich, die Fragen nach dem initialen Ursprung der Welt und nach der prinzipiellen Annehmbarkeit solcher Herkünftigkeit als sich in einem Punkt berührend zu verstehen. Es kann also nur darum gehen, eine tangentiale Zuordnung des Fragens nach dem Grund des Daseins und der Daseinsakzeptanz zu versuchen. Dabei kommen zwei weitere Reflexionsmuster ins Spiel, deren Tauglichkeit für die Bestimmung eines Welt/Gott-Verhältnisses ebenso häufig angezweifelt wird, wie ihr Anliegen unabweisbar ist: Daseinshermeneutik und Ontologie. Mit ihnen lässt sich gleichsam die Tangente durch jenen Punkt zeichnen, in dem sich Frage nach dem initium des Daseins und dem principium der Daseinsakzeptanz berühren.

Mehr als eine tangentiale Bestimmung von Wahrheit und Wirklichkeit ist wohl auch bei einer Neuformatierung der „quaestio religiosa“ nicht zu erwarten und auch nicht zu gewinnen. Diese Neuformatierung ist eine Angelegenheit mit mehreren beteiligten Disziplinen. Wer wissen will, was das Wort „Gott“ in Wahrheit und in Wirklichkeit bedeutet, darf sich nicht bloß für die Bedeutung dieses Wortes in religiösen Texten interessieren, sondern muss auch die Frage nach seiner Referenz jenseits des jeweiligen Textes aufwerfen. Denn seine Semantik deutet ja bereits darauf hin, dass es auf etwas verweist, dessen Wirklichkeit nicht textimmanent zu bestimmen ist. Wenn Gott in Wahrheit nur sein kann, worüber hinaus Größeres nicht denkbar ist, wird das religiöse Subjekt über den Akt seines Sprechens und dessen Inhalt ebenso hinaus verwiesen wie über sich selbst. Wer wissen will, was wirklich ist, darf sich nicht mit Auskünften darüber begnügen, was das Wort „ist“ ist oder was ein Wort ist. Auch die Frage nach Gott verlangt die Aufgabe einer solchen „Textimmanenz“.66 Ebenso wenig kann sie bei der „Subjektimmanenz“ des Gottesbegriffs – wie etwa in tiefenpsychologischen Ansätzen – stehen bleiben. Allerdings steht für das Wort „Gott“ keine unmittelbare Referenz außerhalb eines Textes und eines Subjektes zur Verfügung.

Die klassische „demonstratio religiosa“ hat bereits darum gewusst, daher eine ontologische Kontextuierung der Gottesfrage vorgenommen und an den Anfang eine Reflexion gestellt, was das Dasein der Welt in Wahrheit und in Wirklichkeit bedeutet. Die anstehende Neuformatierung dieses Ansatzes beginnt ähnlich. Auch sie schaltet eine Vergewisserung voraus, was das In-der-Welt-Sein bzw. das Dasein der Welt überhaupt ausmacht (Ontologie) und welches Verhältnis zu diesem Dasein überhaupt sinnvoll sein kann (Hermeneutik). Allerdings muss sie bei ihrer weiteren Durchführung der Bestreitung jedweder metaphysischer Anschlussreflexion Rechnung tragen und sich dem Deutungsanspruch einer Welterklärung „etsi deus non daretur“ stellen. Dabei stößt sie nicht nur auf eine kulturell-pragmatische Verabschiedung der Gottesfrage, die etwa in R. Rorty einen prominenten Vertreter hat.67 Es sind vor allem naturalistische Welterklärungen, die für sich beanspruchen, fraglos gültig zu sein, und jede „theistische“ Perspektive als höchst fragwürdig erscheinen lassen.68

2. Die naturalistische Herausforderung:
Welt erklären – Welt verstehen

Als „naturalistisch“ lassen sich jene Denkansätze bezeichnen, die davon ausgehen, dass alles, was ist (Dinge, Ereignisse, mentale Zustände) und wissbar ist, einzig mit den Mitteln der Naturwissenschaft verlässlich erforscht und zureichend erklärt werden kann.69 Ihr gebührt demnach der Rang einer „prima philosophia“. Dabei wird unterstellt, dass die „Weltwirklichkeit“ ein energetisch-materielles und prozessuales Kontinuum bildet, bei dem es mit rechten Dingen zugeht, so dass es logisch widerspruchsfrei anhand von Naturgesetzen beschreibbar ist. Ferner stellt alles, was geschieht, ein „Naturgeschehen“ dar, da es sich als ein kontingentes Ergebnis oder Epiphänomen der Evolution begreifen lässt. Deutungsansätze, die über einen empirischen Zugang hinausgehen, werden als entbehrlich für die Betrachtung, Beschreibung und Erklärung der Welt gehalten.70

 

Dass diese Schlussfolgerung tatsächlich haltbar ist, wird in der folgenden Neuformatierung einer „quaestio religiosa“ bestritten. Das Recht zu dieser Bestreitung bezieht sie aus dem Umstand, dass naturalistische Welterklärungen problemgenerierende Problemlösungen darstellen. Zum einen führt ihr Programm an einen Punkt, an dem ihre Prämisse einer logisch widerspruchsfreien Beschreibung der Weltwirklichkeit nicht mehr mit naturwissenschaftlichen Mitteln einlösbar ist. Und zum anderen verschärfen sie das Problem menschlicher Daseinsakzeptanz, anstatt es auf naturalistische Weise zum Verschwinden zu bringen. Aus diesen Vorgaben ergibt sich auch der Duktus der folgenden Überlegungen. Sie setzen an beim Problem der Weltakzeptanz angesichts des kategorisch Inakzeptablen und sprengen von dort die naturalistische These einer logisch selbstverständlichen Weltwirklichkeit auf. Zugleich widersprechen sie dem Versuch, über eine theistische Weltentstehungstheorie die Größe „Gott“ als Seinsgrund der Welt und als Sinngrund ihrer Akzeptanz einzuführen. Auf diesem Weg sind die Herausforderungen eines erkenntnistheoretischen und ontologischen Naturalismus nicht mehr zu bestehen.


Für den religiösen Menschen geht es bei der Frage nach Gott nicht um eine Größe, die ihm etwas in der Welt erklärt, sondern die aus dem Bemühen kommt, die Welt zu verstehen: Kann man das Dasein in und mit dieser Welt an- und übernehmen oder ist es unannehmbar? Ist es akzeptabel – trotz des Inakzeptablen, das es in der Welt gibt? Dasein heißt für den Menschen: Leben in der Einheit von Leben und Tod, um des Lebens willen ein widerständiges Verhältnis zum Tod aufnehmen, Zeit seines Lebens den Unterschied zum eigenen Nichtsein wahren und wissen, dass der Widerstand gegen den Tod nur auf Zeit sinnvoll ist. Die Einheit von Leben und Tod bestimmt grundlegend die Lebensverhältnisse des Menschen. Aber diese Einheit umschließt einen Gegensatz, der größer nicht gedacht werden kann. Es gibt keinen größeren Gegensatz als den zwischen Leben und Tod. Das Verhältnis der Lebenden zu diesem Gegensatz ist darum auch in sich gegenläufig: Wer am Leben ist, muss die Tatsache des Todes akzeptieren und bekämpfen. Beides – Akzeptanz und Widerstand – geschieht um des Lebens willen. Darum sind alle Anstrengungen der Menschen darauf gerichtet, den Tod aus ihrem Leben fernzuhalten, ihn aufzuhalten oder ihn zumindest zu verzögern. Denn am Leben sein heißt: den Unterschied zum eigenen Nichtsein wahren. Menschen sind nur solange am Leben, wie sie sich von ihrem eigenen Nichtsein unterscheiden. Und nichts wünschen sie sich mehr, als bleibend von diesem Nichts verschieden zu bleiben. Zeit ihres Lebens sind sie gezwungen, um des Lebens willen die Gegensatz-Einheit von Leben und Sterben widerständig anzunehmen. Sie übernehmen und akzeptieren diese Gegensatz-Einheit, ohne darin die Opposition gegen den Tod aufzugeben. Dem Tod als dem großen Widersacher und Verneiner des Lebens „soll das Leben als Verneinung des Verneiners entgegengesetzt werden: als Lebensbejahung.“71

Dieses Verhältnis zum Verhältnis von Leben und Tod wird für jeden sterblichen Menschen letztlich jedoch zugunsten des Todes entschieden. Daher ist von vornherein die Opposition gegen den Tod zum Scheitern verurteilt. Am Ende ist immer der Tod der Stärkere. Was von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, ist eigentlich sinnlos. Damit bleibt auch jeder Versuch, um des Lebens willen die Gegensatz-Einheit von Leben und Tod anzunehmen, letztlich nur ein Akt der Verzweiflung. Letztlich bleibt alles beim Alten. Der Tod ist der schlechthin Überlegene. Der Widerstreit zwischen Leben und Tod geht im Leben immer zugunsten des Todes aus. Ist ein solches Leben annehmbar, in dem man sich letztlich nur den Tod holen wird?72 Ist ein Leben akzeptabel, in das man bereits als Sterblicher geboren wird? Stellt man der Welt diese Fragen, schweigt sie (sich aus).

Das Gottesverhältnis eines religiösen Menschen hat seinen Ort im Verhältnis des Menschen zum Verhältnis von Leben und Tod. Der Widerstreit von Leben und Tod markiert das existenzielle Bezugsproblem der Frage nach Gott als fragendhoffenden Ausgriff nach einer Wirklichkeit, angesichts deren man das Leben allem Unannehmbaren zum Trotz dennoch annehmen kann. Anders kommt Gott in den Lebensverhältnissen des Menschen nicht vor. Außerhalb der Beziehung des Menschen zum Widerstreit von Leben und Tod bleibt das Gottesverhältnis des Menschen ortlos. Wie man sich im Leben zum schicksalhaften oder machbaren Tod verhält, dessen Sieg über das Leben den großen Einspruch gegen die Akzeptanz dieses Lebens darstellt, ist für die Gottesfrage konstitutiv und nicht konsekutiv. Für ein Gottesverhältnis ist die Frage des ungerechten Leidens kein nachträgliches Problem. Vielmehr ist sie Anlass und Auslöser, sich um eine Alternative zu jenem Zynismus zu bemühen, der für einen Leidenden keinen anderen Trost übrig hat, als ihm zu erklären, es sei besser für ihn, nicht geboren zu sein.

Für den religiösen Menschen besteht zwar eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen der Überzeugung vom Dasein Gottes und der möglichen Akzeptanz seines Daseins: Nur wenn Gott „ist“, kann die Welt sein, wofür der Mensch nicht umhin kann sie zu halten, solange er sich selbst und den Unterschied von Leben und Tod für bedeutsam hält: zustimmungsfähig. Diese Relation ist jedoch nicht im Sinne einer Kausalerklärung zu deuten. Die Rede von Gott zielt nicht auf die Angabe einer Ursache für die Akzeptanz des Daseins, sondern auf deren Bedingung. Die Angabe einer Bedingung antwortet nicht auf die Frage, wie etwas geworden oder entstanden ist. Statt nach der Genese eines Sachverhaltes zu fragen, geht es ihr um die Berechtigung und Geltungsfähigkeit eines spezifischen Verhältnisses bzw. einer Stellungnahme zu diesem Sachverhalt. Nicht die Suche nach einer Ursache dafür, dass ein Ereignis eingetreten ist oder jemand eine bestimmte Einstellung zu diesem Ereignis gewonnen hat, steht hier im Vordergrund. Vielmehr handelt es sich um das Ausloten von Bedingungen, unter denen eine bestimmte Einstellung zu diesem Sachverhalt oder Ereignis verantwortbar ist. Im Blick auf die Unterscheidung von initium und principium kann dabei auch gefragt werden: Ist es prinzipiell vertretbar, das Dasein angesichts des Unannehmbaren dennoch für annehmbar zu halten? Ist es möglich, mit dem Dasein im Blick auf seine Akzeptanzbedingungen immer wieder etwas (Gutes) anzufangen?

In naturalistischen Denkansätzen lautet meist die Alternative: Entweder lässt sich die Berechtigung eines religiösen Verhältnisses zu menschlichen Daseinsverhältnissen aus deren Genese ermitteln oder sie bleibt ohne Rechtfertigungsbasis. Will man diese Behauptung entkräften, muss man zwar durchaus in den Daseinsverhältnissen selbst einen Anhalt finden, denn zwischen ihrer Konstitution und der Konstitution eines Verhältnisses zu ihnen darf kein kontradiktorischer Widerspruch bestehen. Aber zugleich muss gezeigt werden, dass sich bestimmte Einstellungen zu diesen Verhältnissen nicht „von selbst“ ergeben oder von diesen Verhältnissen determiniert sind.

3. Gott denken:
Im Widerstreit von Fraglosigkeit und Fraglichkeit der Welt

Wenn es zutrifft, dass der rechte Ort für die Frage nach dem, was in Wahrheit und in Wirklichkeit „Gott“ genannt zu werden verdient, dasjenige Verhältnis des Menschen zu seinen Lebensverhältnissen ist, in dem es um die Daseinsakzeptanz angesichts des Inakzeptablen geht, dann sind dieser Ort und die Unabweisbarkeit des Problems der Daseinsakzeptanz im Kontext einer „demonstratio religiosa“ mit den Mitteln der Vernunft zu rekonstruieren. Dies gelingt nur, wenn zugleich nach der Verfassung der Welt gefragt wird, welche dieses Problem generiert. Auch diese Aufgabe ist „sola ratione“ anzugehen. Allerdings wird an dieser Stelle bereits die größte Hürde für ein solches Vorhaben deutlich: Wenn in der Moderne, deren Verfassung darin besteht, fraglos ohne Gott gedacht zu werden, wieder die Rede auf Gott kommen soll, kann dies nur so geschehen, dass gezeigt wird, wie Gott zusammen mit einer Welt gedacht werden kann, die selbstverständlich bzw. von ihrem Selbstverständnis her ohne Gott gedacht werden will.

Ein solcher Aufweis muss seinen Erfahrungsanhalt darin sehen, dass er Daseinskonstellationen identifizieren kann, in denen die Selbstverständlichkeit der Welt fragwürdig wird und eine Alteritätsmarkierung gesetzt wird. Die Selbstverständlichkeit der Welt besteht darin, dass sich alles, was in der Welt geschieht, aus der Welt, aus dem Gefüge innerweltlicher Abläufe und ohne Zuhilfenahme einer Transzendenzperspektive erklären lässt. Es muss daher eigens gezeigt werden, dass gerade diese Selbstverständlichkeit und die Fraglosigkeit, dass etwas in der Welt und von der Welt ist, zur Entdeckung ihrer Fragwürdigkeit führt.

Das Fragwürdige befindet sich ontologisch in der Verfassung des Zwiespalts, epistemisch im Modus des Klärungsbedürftigen und hermeneutisch im Zustand der Uneindeutigkeit (im Unterschied zum Fraglosen als mit sich Identischen und Stimmigen). Bei der Feststellung von Fragwürdigkeit (im Modus des Zwiespalts und des Uneindeutigen) stehen zu bleiben hieße, einen willkürlichen Frageabbruch vorzunehmen. Daher muss die Anschlussfrage gestellt werden, was es mit dieser Fragwürdigkeit auf sich hat bzw. welchen „Reim“ man sich auf sie machen darf. Es wäre eine Ungereimtheit der Vernunft, wenn sie nicht herausfinden wollte, was das Zwiespältige am Zwiespalt ausmacht.

Für die anstehende Neuformatierung der „quaestio religiosa“ bietet sich folgendes Vorgehen an: Es müssen Grundtatsachen benannt und bedacht werden, die unbestreitbar und unbezweifelbar sind, d. h. jedem Vernünftigen mit den Mitteln der Vernunft einsichtig zu machen sind. Es ist dann über den logischen Zusammenhang dieser Grundtatsachen nachzudenken. Dabei wird gerade die Logik dieses Zusammenhangs fragloser Sachverhalte und Tatsachen zur Einsicht in die Fragwürdigkeit dessen führen, was jeweils und im Ganzen der Fall ist. Erst dann gilt es zu sondieren, ob eine Hermeneutik der „Alterität“ (Gottes) anschlussfähig ist für diesen Zusammenhang und zwar sowohl für eine lebensweltliche Daseinserfahrung als auch für eine methodisch-kritische Rekonstruktion (zwiespältiger) menschlicher Daseinsverhältnisse.73 Dass eine solche Anschlussfähigkeit besteht, ergibt sich aus einer spezifischen Alteritätserfahrung, die im Modus der Mit-erfahrung auf das verweist, was die Erfahrung der jeweiligen Grundtatsache zugleich übersteigt und ermöglichend bedingt.74


Den Anfang macht die Konfrontation mit dem Faktum, dass sich der Mensch als „da seiend“ erfährt: Was erfährt man, wenn man sein Da-Sein erfährt? Was wird in dieser Erfahrung als erfahrungskonstitutiv miterfahren, das die Wahrnehmung bloßen physischen Vorhandenseins (Faktizität) auf eine „meta“-physische Dimension hin übersteigt und mit Alterität konfrontiert?75 Inwiefern ermöglicht eine Bezugnahme auf diese Alterität eine Umgangsform mit dem Fragwürdigen, die frei von Widersprüchen und Ungereimtheiten ist?

Versteht sich die Welt von selbst?

Zum Bestand fragloser Wirklichkeit zählt alles, was sich „von selbst“ versteht und dem Evidenz, Unbestreitbarkeit und Unbezweifelbarkeit zuzusprechen sind. Zum Ensemble des Fraglosen gehört der Umstand, dass jeder Mensch hier und jetzt in der Welt und mit der Welt „da“ ist. Dieser Umstand, dass wir sind und zur gleichen Zeit und unter derselben Rücksicht nicht nicht sein können, gilt kategorisch, d. h. ohne Wenn und Aber. Ebenso fraglos trifft es zu, dass wir als diejenigen, die wir sind und wie bzw. als was wir sind, einmal nicht da waren und einmal nicht da sein werden. Auch dieser Umstand gilt kategorisch. Das erste Element einer Alteritätsmarkierung als Mit-Erfahrung besteht hier somit darin, dass „Da-sein“ heißt: sich präsentieren und den Unterschied bemerkbar machen zum eigenen Nichtsein. Wer „da“ ist, demonstriert den Unterschied zum Noch-nicht-Sein und Nicht-mehr-Sein seiner selbst und erfährt auf diese Weise das Nichts seiner selbst „mit“.

 

Die entscheidende Erfahrung, in der die Fraglosigkeit der Welt aufgebrochen werden kann, ist die Markierung einer doppelten Alterität, welche sich über die Mit-Erfahrung des „Nichts“ in seiner zwiefältigen Gestalt ergibt: als das „Nochnicht“, aus dem alles Seiende herkommt, und als das „Nichtmehr“, in das alles Seiende vergehend fällt. Vor diesem doppelten „Nichts“ steht all das, was unleugbar der Fall ist. Denn „der Fall sein“ bedeutet im Dasein zugleich die „Hinfälligkeit“ der eigenen Existenz zu bemerken: Es ist nicht gar zu lange her, da war man nicht und ein Nichts, und es wird nicht gar zu lange dauern, da wird man wieder nicht, ein Nichts sein. Eben diese Hinfälligkeit lässt die Selbstverständlichkeit des Daseins unselbstverständlich erscheinen. Die Fraglosigkeit einer Wirklichkeit wandelt sich hier zu einer fraglichen Fraglosigkeit. Wie kommt es, dass etwas, das nicht sein müsste, insofern es nicht immer ist und dessen Nicht-nicht-sein-Können nicht gedacht werden kann, dennoch – auf Zeit – da ist?

Die Tatsache, dass etwas, was der Fall ist, überhaupt ist oder so ist, wie es ist, versteht sich somit keineswegs von selbst. Selbstverständlich ist vielmehr, dass alles, was ist, hinsichtlich seines Dass- und Was-Seins einmal nicht war und irgendwann einmal nicht mehr sein wird. Und gerade diese Fraglosigkeit des vergangenen und künftigen Nichtseins all dessen und jedes einzelnen, das ist, macht die Fraglosigkeit seines Daseins höchst fraglich. Die daraus resultierende Fraglichkeit, warum etwas ist und nicht vielmehr nichts, erweist sich als ebenso unbezweifelbar wie die Existenz desjenigen, der über sein Nochnicht-Existieren und Nicht-mehr-Dasein nachdenkt. Sie ist das zweite „meta“ -physische Moment, das in der Erfahrung des Daseins mit-erfahren wird und Alterität markiert.


Versucht man die Frage, wodurch etwas aus dem Nichts seiner selbst ins Dasein gelangt ist, kausalanalytisch zu stellen, kommt man an kein Ende. Jeder Grund kann nur vorbehaltlich seines eigenen Begründetseins Grund für etwas anderes sein. Was ohne Vorbehalt zu konstatieren bleibt, ist allein die Fraglichkeit dessen, wonach als möglicher Grund für den Unterschied von Sein und Nichtsein gefragt wird. Von der eingangs konstatierten Fraglosigkeit bleibt hier lediglich eine fraglose Fraglichkeit übrig. Fraglos ist allein die Fraglichkeit, warum etwas ist und nicht vielmehr nichts. Allerdings ist diese Fraglosigkeit gerade keine Selbstverständlichkeit mehr. Es erklärt sich keineswegs von selbst, warum etwas ist und nicht vielmehr nicht. Einerseits zeigt sich kein Grund für das Existieren, andererseits ist gerade dies der Grund seiner Fraglichkeit. Fraglichkeit und Grundlosigkeit korrespondieren einander. Gleichwohl kann das Fragen an dieser Stelle nicht Halt machen, solange ihm nicht ersichtlich ist, inwiefern das begründungsbedürftig Existierende zugleich grundlos existieren kann.

Sofern alles Seiende je für sich und in seiner Gesamtheit in Frage gestellt wird, kann es von dort keinen Hinweis auf das „Wovonher“ seiner selbst geben, das seine fraglose Fraglichkeit erklärt. Wonach gefragt wird, ist weder ein räumliches „Woher“ noch ein zeitliches „Früher“. Vielmehr handelt es sich um die Klärung eines Widerspruchsproblems: Von welchen Voraussetzungen her lässt sich die zuletzt konstatierte fraglose Fraglichkeit klären? Unter welchen Voraussetzungen ist es möglich, dass es etwas bzw. alles im Modus der fraglosen Fraglichkeit gibt?76


Die Antwort auf die Frage nach dem „Wovonher“ fraglichen Daseins bzw. nach den Bedingungen, welche das Paradox fragloser Fraglichkeit erklärbar machen, ist weder von einem Seienden noch von der Gesamtheit des Seienden abrufbar. Diese Frage geht über alles Seiende hinaus und wenn sie sinnvoll gestellt werden soll, kann sie die Antwort nur in dem suchen, was nicht wiederum zum Bereich des Seienden gehört, d. h. sie muss die Antwort in dem suchen, was dem Seienden vorausliegt, es übersteigt und überwindet – in der Dimension des Noch-nicht-Seins und Nicht-mehr-Seins: im Nichts. Denn will man das Dasein als es selbst verstehen, muss man auf eine Dimension Bezug nehmen, die es als fraglos Fragliches erst konstituiert. Von ihr her ist dann zu überlegen, was es mit dem, was ist, auf sich hat. Bisher besteht dieses „als“ darin, alles Da-Seiende zugleich als fraglos und als fragwürdig zu verstehen. Ungeklärt ist noch, was es mit dieser widerspruchsvollen Bestimmung ihrerseits auf sich hat.77 Zu diesem Zweck ist näher auf die Logik des Zusammenhangs der bisher als fraglos und als fraglich ausgewiesenen Sachverhalte einzugehen.

Bisher ist die Logik dieses Zusammenhanges selbst höchst problematisch. Denn sie besteht in einem „weder/noch“: Der Welt kann weder schlechthinnige Fraglosigkeit noch schlechthinnige Fraglichkeit zukommen. Schlechthinnige Fraglichkeit wird dementiert durch den Umstand, dass die Welt jetzt ist, obwohl sie nicht sein müsste. Denn die Tatsache, dass die Welt (jetzt) ist, ist unbestreitbar und bezeichnet eine Fraglosigkeit. Schlechthinnige Fraglosigkeit wird dementiert durch den Umstand, dass die Welt nicht sein muss, obwohl sie jetzt ist. Die Tatsache, dass die Welt (jetzt) fraglos ist, ist erklärungsbedürftig, denn sie könnte ja genauso gut jetzt nicht sein. Offensichtlich ist von der Welt beides zugleich auszusagen: Ihre Faktizität ist fraglos, aber diese Fraglosigkeit ist zugleich fragwürdig, d. h. insofern sie ist (und jetzt nicht nicht ist), besteht sie fraglos. Insofern sie ist, aber nicht sein müsste, ist ihr Bestand zugleich fragwürdig bzw. fraglich.

Wie kann ein und dieselbe Welt zugleich fraglos und fraglich sein?

Der Versuch, sich der Wirklichkeit der Welt zu stellen, führt somit zur Erkenntnis eines Widerstreits und konfrontiert mit einem Widerspruchsproblem. Denn es gilt, von der Wirklichkeit des Daseins prinzipiell sowohl Fraglosigkeit als auch Fragwürdigkeit auszusagen. Von einem logischen Widerspruch (und somit einer falschen Beschreibung der Wirklichkeit)78 lässt sich diese Aussage nur dadurch unterscheiden, dass angegeben werden kann, unter welchen (logisch miteinander kompatiblen) Rücksichten beides zugleich zutrifft: Fraglichkeit und Fraglosigkeit. Diese beiden Hinsichten, die sich nicht kontradiktorisch ausschließen, lauten: „Bewahrtsein vor dem Nichts (ihrer selbst)“ und „Gehaltensein ins Nichts (ihrer selbst)“. Man kann nur in der Weise umfassend und angemessen vom Dasein als (In-der-)Welt-Sein reden, dass man unter Angabe dieser beiden Hinsichten von seiner Beziehung zum Nichts (ihrer selbst) spricht: Einerseits ist die Welt restlos vom Nichts verschieden, andererseits kommt sie ganz aus dem Nichts und verweist ganz auf das Nichts. Und zugleich ist sie nur soweit und solange vom Nichts verschieden, wie sie aus ihm kommt und auf es zugeht. Die Fraglosigkeit der Welt und ihre Fraglichkeit haben eine Gemeinsamkeit, welche sie in ihrer Unterschiedenheit konstituiert: ihre Bedingtheit durch das Nichts. Nicht aus sich selbst zu existieren und dennoch vom Nichts unterschieden zu sein, bedeutet für jedes Seiende, vor dem Nichtsein bewahrt zu sein und zugleich vom Nichtsein bedroht zu sein. Die Erfahrung dieser Ambivalenz des Nichts ist ein weiteres Moment, das in der Erfahrung des Daseins miterfahren wird.


Fraglosigkeit kommt der Welt zu, insofern sie restlos vom Nichts verschieden ist. Fraglichkeit kommt ihr zu, insofern sie ganz und gar auf das Nichts verweist.

Eine solche Bezogenheit auf das Nichts erklärt zwar die fragwürdige Fraglosigkeit und fraglose Fraglichkeit der Welt, wirft aber eine Anschlussfrage auf: Wie kann etwas gerade durch seine Beziehung zum „Nichts“ in seinem – widerspruchsproblematischen – Bestand verstanden werden? Die Nichtigkeit des Nichts besteht doch gerade darin, dass es nicht als möglicher Referenzpunkt des Verstehens in Frage kommt. Bereits alltagssprachlich ist klar: Aus Nichts wird nichts! Nur mit einem „etwas“ kann man etwas anfangen. Beim Nichts hört alles auf – auch das Verstehen und Erklären. Die Bezugnahme auf das Nichts ist nicht zureichend, um die Existenz der Welt in ihrem Widerstreit zwischen Fraglichkeit und Fraglosigkeit zu verstehen. Ein Nichts vermag nichts zu erklären, zu begründen, verständlich oder einsichtig zu machen. Zugleich aber ist diese Bezugnahme auf das Nichts notwendig, um die fragliche Fraglosigkeit der Welt zu verstehen.

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