Die Stunde der Kurden

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ERBIL

„In Bagdad haben sie Mauern errichtet“, sagt Massud Abdul Khalek, Chef der Wochenzeitung „Standard“ und einer der bekanntesten kurdischen Intellektuellen. „So groß ist inzwischen der Hass zwischen Sunniten und Schiiten. Wie soll da jemals noch ein einheitlicher Staat funktionieren? Ihr Deutschen habt doch selber einmal eine Mauer gehabt. Ihr wisst, was das bedeutet.“

In Kurdistan leben eine Menge arabischer Sunniten und Schiiten. Sie machen Geschäfte miteinander und leben friedlich nebeneinander – in einem Ambiente, das von Kurden geprägt ist. Aber außerhalb Kurdistans gehen sie einander an die Gurgel – in einem Ambiente, das von ihnen selber geprägt ist. Allein 2014, so UN-Angaben, kamen im Irak 12.282 Menschen durch Anschläge und gewalttätige Auseinandersetzungen ums Leben – durchschnittlich 34 pro Tag.

Massud drückt diesen Unterschied so aus: „Sie bekämpfen sich im Schatten von Dattelbäumen – aber nicht im Schatten von Nussbäumen.“

KAPITEL 3
HALABDSCHA
„Wir hatten keine Ahnung, was das war“

Wie ein Kurde das Giftgas-Massaker überlebte

„Wir saßen bei unseren Nachbarn im Keller“, erzählt Omed Raschid. „Seit Tagen schon kreisten Flugzeuge über der Stadt, und wir hörten, wie Bomben einschlugen.“ Peschmerga hatten die irakischen Truppen aus Halabdscha vertrieben, nun kam der Gegenangriff aus der Luft. „Eigentlich fühlten wir uns halbwegs sicher in unserem kleinen Bunker. Aber dann fehlte es auf einmal an frischer Luft. Es begann nach Äpfeln und Knoblauch zu riechen. Wir hatten keine Ahnung, was das war.“

Es war der 16. März 1988. Ein Tag, der wie kein anderer in die Geschichte menschlicher Gräueltaten einging. Nichts hat die Welt in jenem Jahr mehr geschockt als die Bilder von krepierten Kurden, die auf Gehsteigen lagen wie weggeworfene Spielpuppen, und das Foto eines leblosen Mannes, der ein kleines, ebenso lebloses Kind noch schützend in den Armen hielt – ein verzweifelter, aussichtsloser Versuch, den unsichtbaren, unheimlichen Tod fernzuhalten.

Ein Museum kann das Massaker lediglich dokumentieren, so wie es die Gedenkstätte in Halabdscha tut. Eine Stunde lang bin ich durch die Hallen des Grauens gelaufen und hatte alle Bilder wieder vor Augen, die sich vor mehr als 25 Jahren tief ins Gedächtnis eingegraben hatten. Doch auch die beste Ausstellung hinterlässt nicht so viel Wirkung wie die Worte eines einzelnen Menschen, der das Inferno überlebt hat. Daher sitze ich nun mit Omed zusammen. Er wurde, seines Schicksals wegen, als Führer für Besucher ausgewählt. Die Geschichte, die er erzählt, dauert deutlich länger als ein Rundgang. Es ist eine der Geschichten, die ein kollektives Trauma der Kurden geschaffen haben.

„Die Mutter war mit uns Kindern allein“, berichtet Omed, der damals 14 war. „Mein Vater war im Krieg. Er musste als irakischer Soldat gegen die Truppen des Iran kämpfen.“ Ein weltlicher Diktator – Saddam Hussein – lag seit acht Jahren mit einem geistlichen Diktator – Ajatollah Khomeini – in einer blutigen Fehde. Um den Erzfeind zu schwächen, gab Teheran den aufständischen Kurden militärische Unterstützung. Das hatte Folgen, die die Kurden noch zu spüren bekommen sollten. Halabdscha war nur ein Glied in einer tragischen Kette – aber es war das Ereignis, das Entsetzen verbreitete wie keines sonst. 5000 Menschen starben in dieser Stadt qualvoll an einem einzigen Tag. Omed spricht leise, nüchtern, ohne Gesten und mit fast monotoner Stimme. Es ist ein akustisches Protokoll, bei dem jeder Satz wie ein Bombeneinschlag wirkt.

„Weil wir nicht mehr richtig Luft bekamen, rannten wir aus dem Keller hinaus auf die Straße“, erzählt der Augenzeuge. „Da hörten wir, was die Leute schrien. ‚Chemische Waffen, chemische Waffen!‘ Wir hatten zwar schon etwas davon mitbekommen, dass diese neue Art von Bomben auf kurdische Dörfer geworfen worden waren. Aber wir wussten wirklich nicht, was wir dagegen machen sollten.“

Die irakischen Truppen setzten gegen die Kurden zwei Arten von giftigen Kampfstoffen ein: Senfgas, das die Haut zu Blasen anschwellen lässt und die Bronchien zerstört, und Nervengas, das die Atemmuskeln lähmt; beide führen letztlich zum Ersticken. Gegen Giftgas hilft nur eine Schutzmaske. Oder man rennt so schnell wie möglich einen Berghang hoch, um so den toxischen Schwaden zu entfliehen, die langsam zu Boden sinken. In Halabdscha aber gab es weder Masken noch nahe gelegene Hänge. So rannte Omeds Familie geradewegs in die verseuchte Luft hinein.

Auf der Straße vor ihrem Haus stand ein Pick-up, den irgendjemand organisiert hatte. Von allen Seiten sprangen Menschen auf die Ladefläche, schon nach wenigen Minuten war kein Platz mehr frei. So klammerten sich Leute noch von außen an das Auto, und als der Kleinlaster anfuhr, fielen schon die Ersten herunter. Der Fahrer stoppte und stieg aus, um den Gestürzten wieder hinaufzuhelfen. Aber plötzlich rief er: „Ich kann nichts mehr sehen!“ Er geriet ins Stolpern, taumelte, fiel hin und blieb reglos liegen. Die Leute sahen, wie Schaum aus seinem Mund floss.

„In den nächsten Stunden fielen immer noch Bomben“, fährt Omed fort. „Was sollten wir machen? Wo sollten wir hin? Wir waren mehr als zwanzig Leute, hatten aber niemanden, der das Auto fahren konnte. So blieben wir einfach auf dem Pick-up sitzen und erwarteten die Dunkelheit. Die Nacht, so hofften wir, würde ein wenig Ruhe bringen.“ Als die Dämmerung hereinbrach, sah Omed noch, wie die Mutter ihr jüngstes, sechs Monate altes Baby stillte.

Es wurde still, geisterhaft still in dieser Nacht. „Meine Augen tränten, mein Atem ging ganz schwer“, erinnert sich Omed. Er rief nach seiner Mutter, seiner Schwester, seinen zwei Brüdern, die sich alle auf dem Pick-up befanden. Aber es kam keine Antwort und auch das Baby gab keinen Laut mehr von sich. Waren sie etwa alle eingeschlafen? Als es hell wurde, konnte er seine Familie erblicken. Er stieß die Mutter, die Brüder und die Schwester an. Aber sie rührten sich nicht. Da wurde ihm klar, dass er von diesem Tag an allein auf der Welt war. „Fast alle, die auf dem Pick-up saßen, waren tot. Nur vier Burschen und eine alte Frau waren noch am Leben.“

Sanitäter und Journalisten kamen aus dem Iran über die nur sechzehn Kilometer entfernte Grenze. Sie brachten Omed und all diejenigen, die noch nicht gestorben waren, zu einem Sammelplatz. Er wurde, an das erinnert er sich noch, in einen Helikopter geladen. Dann verlor er das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, lag er in einem iranischen Krankenhaus. „Ich hatte unglaublichen Durst und schrie nach Wasser. Aber niemand kam, um mir etwas zu trinken zu geben.“ Da griff er in seiner Verzweiflung zur Selbsthilfe. Er riss die Kanüle an sich, die zu einer Nadel in seinem rechten Arm führte. „Ich hatte keine Ahnung, was durch dieses Röhrchen floss. Aber das war mir völlig egal. Ich wollte nur trinken, nichts als trinken. So saugte ich wie wild an der Kanüle – und derweil floss das Blut an meinem Arm hinunter.“

Zwei Schwestern stürzten ins Zimmer und riefen: „Was hast du denn da gemacht?!“ Sie stoppten die Blutung, brachten die Kanüle wieder an. Dann kam Omed unter die Dusche, um die Haut vom Gift zu reinigen. „Du kannst wirklich von Glück reden, dass du noch am Leben bist“, sagte eine Schwester. Zusammen mit anderen wurde er in einen Bus gelegt, aus dem alle Sitze ausgebaut worden waren. Der Bus sollte sie, das hörte er, in ein anderes Hospital bringen. Dann schwanden Omed erneut die Sinne.

Bei der Ankunft am Ziel stellten die Sanitäter fest, dass der Junge sich nicht mehr bewegte. Sie glaubten, auch ihn habe es nun erwischt. So wickelten sie ihn in ein Leichentuch und legten ihn in einen anderen Bus, der nur mit Toten beladen war. Der Bus fuhr zu einem Friedhof. Dort merkte einer der Bestatter, dass sich eines der Menschenbündel, die er aus dem Bus zog, noch regte. Auf diese Weise entging Omed dem Schicksal, lebendig begraben zu werden. Als er im Lazarett des Lagers Serofarsch wieder erwachte, hörte er die Leute zu ihm sagen: „Du warst deinem Grab schon ganz nah!“

Bald darauf rannte er im Lager umher und suchte nach Verwandten. Vielleicht hatte ja jemand das gleiche Glück gehabt wie er? Ein Bekannter riet ihm, das Lager Hersin aufzusuchen, dort ging er eine Woche lang von Zelt zu Zelt. Am Ende fand er einen Cousin und zwei Cousinen, sie fielen sich weinend um den Hals. Ein Jahr lang blieben sie bei einem Onkel und einer Großmutter, die in Saqqez lebten. Er wusste nicht, was aus seinem Vater geworden war. Trotzdem beschloss er, nach Halabdscha zurückzukehren.

1989 war das Jahr, in dem die „Anfal“-Kampagne vor ihrem Abschluss stand. „Anfal“ heißt auf Arabisch „Beute“, ein treffender Code für eine Operation, die den Kurden ein für alle Mal das Rückgrat brechen sollte. 4500 Dörfer wurden zerstört, 250 davon mit chemischen Waffen angegriffen. 1700 Schulen sanken in Trümmer, 2450 Moscheen und 27 christliche Kirchen.

1,5 Millionen Kurden wurden aus den Bergen vertrieben und in neue, tiefer gelegene Dörfer zwangsumgesiedelt. Ali Hassan al-Madschid, der zuständige Gouverneur, hatte den Befehl ausgegeben, alle Männer zwischen 15 und 70 Jahren hinzurichten. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch schätzt die Zahl der „Anfal“-Opfer auf 50.000 bis 100.000, die Kurden sprechen von 182.000.

Omed hatte noch ein letztes Mal Glück, dass er mit dem Leben davonkam. Irakische Soldaten ergriffen ihn, brachten ihn aber nicht um. Stattdessen schleppten sie ihn zur Geheimpolizei. Dort fluchten und prügelten sie auf ihn ein, schließlich kam er in ein Internierungslager bei Erbil, in dem es von Schlangen und Skorpionen wimmelte. Der letzte große Aufstand der Kurden, der 1991 nach der Invasion der US-Truppen losbrach, brachte ihm die Freiheit – das Lager wurde von Kurden gestürmt.

 

„Ich freue mich nie, wenn Menschen getötet werden“, sagt er. Aber eine Nachricht, das gibt er zu, hat doch so etwas wie Jubel in ihm ausgelöst. Al-Madschid wurde 2003, nach Saddams Sturz, von amerikanischen Soldaten festgenommen. „Die Kurden schossen an diesem Tag vor Begeisterung in die Luft. Für mich war es ausgerechnet mein Hochzeitstag – wir hatten wirklich eine doppelte Freude.“ „Chemical Ali“, wie sie ihn alle nannten, stand vier Mal vor dem Kadi, einmal wegen Völkermords, zweimal wegen der blutigen Niederschlagung von Schiiten-Rebellionen, schließlich wegen des Giftgasangriffs auf Halabdscha. Vier Mal lautete das Urteil auf Tod durch den Strang. „Der Mann hatte“, meint Omed, „nichts anderes verdient.“

Seit 2009 tut Omed seine Arbeit im Museum, umgeben von Bombensplittern und grauenhaften Bildern. Die Szene auf dem Pick-up, die er miterlebte, ist an eine Wand gemalt. Mehr als 25 Jahre ist das nun her, und er weiß nach wie vor nicht, wo seine Familie begraben liegt. Die Nächte, lässt er uns wissen, seien das Problem. Da werde er noch immer von Albträumen geschüttelt.

Und manchmal wacht er auf, weil er heftig husten muss. „Die Träume und der Husten“, sagt er, „das sind zwei Dinge, die wohl für immer bleiben werden.“

SULAIMANIA

Ein Intellektueller mit vier Leibwächtern? Das gibt es nicht so oft auf der Welt. Mamosta Dschafar hat 14 Exiljahre in Deutschland gelebt, an der Universität Göttingen Soziologie, Ethnologie und Politische Wissenschaften studiert, dann ein Dolmetscher- und Übersetzerbüro eröffnet. Unter dem Namen Fadil Ahmad hat er viel über die Kurden geschrieben, sein Wissen über die Kultur seines Landes ist eine unerschöpfliche Quelle. Die beiden großen Parteien des Landes schmücken sich gern mit solchen Leuten. Dschafar betreibt heute historische Forschungen für die PUK. Und dafür zeigt sich die Partei erkenntlich. „Insgesamt habe ich 16 Leibwächter“, teilt Mamosta mit. „Sie teilen sich in Vierergruppen auf, jede Gruppe arbeitet eine Woche für mich.“ In Kurdistan verdienen schätzungsweise 200.000 Männer als Sicherheitsleute ihr Geld.

KAPITEL 4
SULAIMANIA
„Das hier war wirklich die Hölle“

Wie ein Foltergefängnis zu einem Museum wurde

Amna Suraka, die „Rote Sicherheit“, war für die Kurden so etwas wie ein rotes Tuch. Das Gefängnis aus Backstein lag mitten in der Stadt und war doch kein Teil von ihr. Es war ein Fremdkörper, Feindesland, Hassobjekt. Der irakische Geheimdienst Mukhabarat, Saddam Husseins wichtigstes Herrschaftsinstrument, wütete darin. Ein breiter Sicherheitsgürtel zog sich um die Mauern, kein Mensch durfte da entlangspazieren. Die Einwohner von Sulaimania mieden diesen Ort aber auch aus freien Stücken. Sie hatten keine Lust, dieses hässliche Symbol der Tyrannei auch nur von außen zu sehen – geschweige denn von innen.

Ich trete in den Innenhof und spüre etwas von dem Triumph, den die Kurden empfunden haben müssen, als ihnen diese Stätte der amtlich verordneten Brutalität in die Hände fiel. 1991, als US-Truppen den Irak besetzten und das Regime Saddam Husseins zum ersten Mal wankte, brach sich hier die Volkswut ihre Bahn und das Gefängnis wurde gestürmt. Erbeutete Panzer und Mörser aus den Beständen der irakischen Armee stehen heute als stumme Zeugen hier herum: ein Schrottplatz als Sinnbild der Befreiung. Auf den Mauern liegen wie damals Stacheldrahtrollen. Amna Suraka wurde großteils so belassen, wie es war. Es ist heute ein Museum des Schreckens.

Ein 55-jähriger Kurde ist an meiner Seite. Tahsin Kader ist sein Name, der Mann kennt sich hier besonders gut aus. Er war im Untergrund für die Peschmerga tätig, deshalb hatten Saddams Häscher ihn schon lange auf ihrer Liste, und an einem Januartag des Jahres 1990 schlugen sie zu. Sie stellten ihn auf einer Straße, er versuchte noch davonzurennen, aber schließlich hatten sie ihn. Er wehrte sich verzweifelt gegen seine Festnahme, sein linker Arm wurde dabei gebrochen, so hatte er letztlich keine Chance. Sie verbanden ihm die Augen, und als sie ihm das Tuch abnahmen, lag er in einer finsteren Zelle. Von diesem Tag an versuchten sie fünfzehn Monate lang, diesen Häftling in Amna Suraka zu brechen.

Wir gehen durch schmale Flure mit grauen Wänden, grauen Zellentüren und grauen Gittern. Wir kommen an vier Gemeinschaftszellen für Männer vorbei, diese waren damals stets vollgestopft, und an einer Gemeinschaftszelle für Frauen, dort wurden auch mehrere Kinder geboren. Skulpturen aus Gips tauchen vor uns auf, Werke des Künstlers Kamaran Omer: zwei Kinder, die sich an den Händen halten, und ein Häftling, der an eine Wand gekettet ist. Dreizehn Einzelzellen hatte das Gefängnis, sie waren gerade einmal drei Quadratmeter groß. Wir sehen gekritzelte Graffiti und schmutzige Decken auf dem Boden, man hat sie als Blickfang für den heutigen Besucher liegen lassen.

„Das hier ist Atta Ahmad Kader“, erklärt Ex-Häftling Tahsin und zeigt auf eine Statue. Atta war Lehrer und sang im Gefängnis immer wieder die Hymne des freien Kurdistan, mochten ihn die Wärter deswegen auch noch so fürchterlich prügeln. Er sang so laut, dass die anderen Gefangenen es hörten, es war wie eine Injektion, die alle Insassen stärken sollte. Er wurde ins Gefängnis Abu Ghraib verlegt und dort hingerichtet. „Atta ist“, so Tahsin, „zu unserem Widerstandshelden geworden.“

Tahsin weiß noch genau, wohin er damals gebracht wurde. Er trug die Häftlingsnummer 8 und landete in einer der Einzelzellen. „Jeder von uns hatte drei kleine Schalen: eine für das Essen, eine für Wasser, eine für Urin und Kot. Sie standen immer nebeneinander und es stank fürchterlich.“ Morgens um sieben gab es ein Stück Brot mit Tee oder Suppe, mittags Reis mit Suppe, das war’s. Manchmal hob er vom Mittagessen ein wenig auf, um abends noch einen Bissen zu haben. Wasser gab es einmal am Morgen und einmal am Abend, insgesamt einen Liter pro Tag. „Zweieinhalb Monate saß ich in dieser Zelle“, berichtet Tahsin. „Manchmal, wenn kein Wärter in der Nähe war, wisperten wir Neuigkeiten in die Nachbarzelle hinüber. Wir machten uns gegenseitig Mut. Als Saddam Hussein Kuwait besetzte, klammerten wir uns daran, dass die Amerikaner kommen würden – es war wie ein Traum, den wir ständig träumten.“

Wir kommen in die zwei schlimmsten Räume. In ihnen wurden die Häftlinge verhört. Die Gipsfiguren, ebenfalls von Kamaran gefertigt, zeigen auf realistische Weise, wie das vor sich ging. Wer nicht reden wollte, wurde rücklings auf den Boden gelegt. Zwei Männer banden seine Füße an eine Stange, die sie dann in Hüfthöhe hochzogen, sodass die Füße schräg nach oben zeigten. Ein Dritter schwang einen Stock und ließ ihn auf die Fußsohlen niedersausen. „Das war gar nicht mal so schlimm“, meint Tahsin, „das haben viele ausgehalten.“ Ich starre ihn ungläubig an, schon wieder so eine erstaunliche Person. Er lächelt sanft wie ein christlicher Pfarrer, der einem armen Sünder verzeiht.

„Aber das hier war wirklich die Hölle“, sagt er, als wir in den nächsten Raum gehen, und nun schwindet das freundliche Lächeln doch aus seinem Gesicht. Hier hängt, in Lebensgröße, eine Skulptur an einem Balken unter der Decke und zeigt die Prozedur genau so, wie sie war. „Wir mussten uns auf einen Tisch stellen, die Arme auf dem Rücken gefesselt“, erklärt Tahsin. „Der Tisch hatte Rollen an seinen vier Beinen, den zogen sie dann unter uns weg.“ Die Gesetze der Physik marterten den Häftling auf unerbittliche Weise. Die Arme wurden nach oben gerissen und am Schultergelenk ausgekugelt. Die Schmerzensschreie, die die Gefolterten ausstießen, wurden oft per Tonband aufgenommen – und tags darauf so laut abgespielt, dass alle Insassen sie zu hören bekamen.

„Das war aber noch nicht alles“, fügt Tahsin hinzu. „Oft hat ein Wärter sich noch an mich gehängt, um meine Schmerzen zu erhöhen. Und der Verhörspezialist, der vor mir am Schreibtisch saß, ließ Stromkabel an meinen Genitalien anbringen – so haben sie uns zusätzlich mit Elektroschocks gequält.“ Acht Mal hat er hier an der Decke gehangen und acht Mal hat er den Mund nicht aufgemacht. Er bemerkt meinen fassungslosen Blick. „Ja, stimmt schon“, meint er, „in diesem Raum haben fast alle gestanden. Aber ich eben nicht.“

„Woher hatten Sie nur die Kraft, das zu überstehen?“, stoße ich hervor.

„Wir alle, die Peschmerga waren, wussten von Anfang, dass im Ernstfall der Tod auf uns wartet. Der Name ‚Peschmerga‘ sagt es ja aus. Außerdem wussten wir aber auch: Wer gesteht, rettet sein Leben eben nicht. Alle, die hier etwas preisgegeben haben, wurden nach ihrer Aussage erschossen. Durchhalten war also der einzige Weg, um am Leben zu bleiben. Und solange du lebst, lebt die Hoffnung in dir.“

Ich atme schwer, als wir den Raum verlassen. Doch die Hoffnung, erzählt Tahsin, ging tatsächlich in Erfüllung. Im März 1991 brach in Sulaimania, wie in allen Kurdengebieten, der letzte große Aufstand los. Die Kurden glaubten, nun sei ihre Stunde gekommen, weil die Amerikaner Kuwait befreit hatten und auf Bagdad vorrückten. Amna Suraka wurde vom Volk gestürmt, Tahsin aus seiner Zelle befreit, wie alle anderen Häftlinge auch. „Ich wog zwar nur noch vierzig Kilogramm“, sagt er. „Aber ich war am Leben geblieben.“

In den Büros der Geheimdienstleute gingen fast alle Akten in Flammen auf. Tahsin aber war klüger als die entfesselte Menge. Er füllte einen Sack bis oben hin mit Dokumenten, den schleppte er aus dem Gefängnis heraus. Der Weg zum Ausgang war mit Leichen übersät, alle erschossene Sicherheitsleute. „Glauben Sie mir, ich suchte mir mühsam einen Weg zwischen ihnen hindurch. Auf tote Körper treten – das ist doch irgendwie unmenschlich, oder?“


Vergossenes Blut für die kurdische Fahne: Darstellung im ehemaligen Gefängnis Amna Suraka

Wir gehen zusammen ins Obergeschoss. Dort hat Ako Ghareb, der Museumsdirektor, mit künstlerisch-kreativen Mitteln einen Raum zur Erinnerung an die Operation „Anfal“ gestaltet. Einst hatten Geheimdienstler in höheren Rängen hier einen direkten Verbindungsflur von ihren Büros zur Kantine. Nun ist daraus eine glitzernde Halle geworden, 24 Meter lang, 5 Meter breit, 5,5 Meter hoch, mit 182.000 Spiegelglassplittern, die die Zahl der Opfer repräsentieren. In einer Ecke hängen Karten mit farbigen Pfeilen, die Saddams Vernichtungskrieg generalstabsmäßig darstellen, und die Namensliste der Toten zieht sich – Rot auf Schwarz – schier endlos die Wände entlang. An der Decke leuchten 4500 kleine Lämpchen, sie symbolisieren die Zahl der zerstörten Dörfer. „Die Lichter sollen aussehen wie Sterne“, erklärt Ako. „Die Sterne sind die einzigen Zeugen, die wir haben.“

„Kommen Sie noch mit auf einen Tee?“, fragt Tahsin, der Mann, der dies alles überstand. „Mein Büro liegt gleich hier um die Ecke.“ 2006 bis 2009 war er Minister für Wasservorkommen, nun führt er ein Ingenieurbüro. Es liegt gerade mal 100 Meter von Amna Suraka entfernt.

„Hätten Sie sich“, so frage ich, „nicht eine schönere Nachbarschaft aussuchen können?“

„Mein Mithäftling Dr. Kamaran Karadachi hat es noch viel besser“, sagt er und lacht nun ganz herzhaft. „Er ist Lungenspezialist und hat eine eigene Klinik. Sehen Sie das Gebäude da drüben? Es liegt dem Ex-Gefängnis genau gegenüber. Wenn er will, kann er jeden Tag von seinen oberen Stockwerken aus mitten hineinschauen.“

Dann aber wird er ernst. Er meint, früher seien die Peschmerga-Führer nichts weiter als die Ersten unter Gleichen gewesen – „vergleichen Sie das einmal mit heute“. Früher seien die Kurden im Leiden geeint gewesen – heute drifte die Gesellschaft immer mehr auseinander. Der Kampf, für den er seine ganze Jugend hergab, sei noch immer nicht zu Ende. „Wir müssen jetzt“, sagt er, „den Kampf im Innern gewinnen – und das ist schwerer als gegen den Feind von außen.“

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