Der Bote

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Da saß ich nun und lauschte den Ausführungen von Valeria Dernikowa zu den organisatorischen Abläufen an Bord der Georgi Schukow, einem der größten und stärksten arktischen Eisbrecher weltweit. Rein mechanisch blätterte ich in den Unterlagen über die bevorstehende Fahrt in die arktische Nordatlantikregion, die mir durch eine seit Jahren zurückliegende Reise nach Grönland ein wenig vertraut war, also noch vor Beginn der großen Eisschmelze, die im Jahr 2016 die fünfhundert Milliarden Tonnen Grenze erreichte und überschritt. Ein gigantischer Aderlass für die größte Insel der Welt im arktischen Norden des Planeten Erde. Der Einfluss des Klimawandels war nicht mehr zu leugnen, die Wärme des Meerwassers nahm in den nördlichen Regionen kontinuierlich zu, was letztlich, so die Computermodelle, zu einem Stillstand des Golfstroms und damit Zusammenbruch der atlantischen Wasserpumpe aus dem Golf von Mexiko bis hinauf in die Arktis führen würde. Die Folgen dieses Desasters wären verheerend und derzeit kaum vorstellbar, weil schleichend und eher unterschwellig - aber bei dem aktuellen rasanten Tempo der Erderwärmung, ist mit einem Kollaps des Golfstroms noch in diesem Jahrhundert zu rechnen, das ist ein Fakt - eine Tatsache, an der sich niemand auf dieser Welt vorbei stehlen könnte.

Lokis Castle - Lokis Schloss

LOKIS Castle - LOKIS Schloss - ein Geothermalgebiet in der arktischen Tiefsee, benannt nach dem nordischen Gott des Feuers - LOKI. Das eigentliche Thermalgebiet wurde weltberühmt durch seine „Smoker“ oder „Raucher“, röhrenförmige Gebilde, die an manchen Stellen bis zu zwölf Meter hoch werden können. Ich schrieb darüber einen Beitrag in Science News, einem renommierten Geophysikalischen Magazin, der große Beachtung fand. Die Smoker oder Raucher unterscheiden sich in der Art des Rauches, den sie ausstoßen. Immerhin lasten auf dem Meeresboden in diesen Gebieten bis zu 300 bar Druck, das Wasser wird in Gesteinsspalten gepresst, bis es auch den glutheißen Untergrund am Schnittpunkt der tektonischen Platten trifft, dort wird es in heißen Dampf umgewandelt, der anderorts durch andere Spalten und Risse im Tiefsee Untergrund unaufhörlich austritt. Bei seinem Weg durch die Gesteinsschichten löst dieses Wasserdampfgemisch Mineralien in hoher Konzentration, die sich beim Eintritt in das eisige Tiefseewasser rund um den Schlot ablagern und ihrem Verhalten gemäß röhrenförmige Gebilde erzeugen - mithin einen Kamin oder gleich mehrere. Verschiedenartige gelöste Stoffe erzeugen also unterschiedliche Rauchfarben, die röhrenförmigen Gebilde werden allgemein auch als Schornstein bezeichnet. Im Atlantik auf dem Mittelatlantischen Rücken befindet sich eines der interessantesten und am besten studierten Hydrothermalfelder weltweit, allerdings nur punktuell gesehen, denn die Tiefseeforschung in ihrer anspruchsvollen Komplexität steht auch im Einundzwanzigsten Jahrhundert erst am Beginn tiefer gehender Forschungen, die grundsätzlich eine dauerhafte Station auf dem Meeresboden voraussetzt, was aber aufgrund technischer, finanzieller und vor allem internationaler Leistungsfähigkeit weiterhin noch Wunschdenken bleibt. Eine Ölbohrplattform auf dreihundert bis vierhundert Meter Tiefe auszubringen, ist eine Sache, da spielt die Musik größtenteils an der Oberfläche, lediglich die Pylone und Anschluss Pipelines Unterwasser müssen von Tauchern entsprechend installiert werden. Dazu wohnen und leben diese Männer für zwei bis vier Wochen in Unterwassermodulen in Sichtweite zum Bohrloch, welches durch mächtige Ventile gesichert ist. Schon hier ist der Einsatz von speziellen Techniken wie Dekompressionskammer, Arbeits-, Schlaf- und Notfallmodul unabdingbar. Das kostet die Ölgesellschaften Hunderte Millionen Dollar, die erwirtschaftet werden müssen. Die Tiefsee um LOKIS Schloss ist eine andere Liga, hier verlässt niemand mehr eine schützende Station, würde es sie dann irgendwann einmal geben. Aber die immens kostspieligen Tauchmanöver zum Tiefseeboden und zurück wären Geschichte, könnten Forscher und Wissenschaftler aus einer Station in der Tiefsee heraus mittels ferngesteuerter Roboter ihre Arbeit verrichten. Das ist bei allem Forscherdrang in der Tat noch Science Fiktion, da hilft alles Schönreden nichts. Von besonderem Interesse der diesjährigen Expedition mit geplanter Tauchfahrt zum Logatschew Hydrothermalfeld in dreitausenddreihundert Metern Tiefe sind die Schwarzen Raucher, in deren Umfeld vom Sockel bis zum Schornsteinaustritt - dem Schlotmund, sich große Kolonien Röhrenwürmer, Herzmuscheln und Krebse angesiedelt haben, die von den Mineralien zum einen und durch Strömung angetriebene Kleinstlebewesen zum anderen ein gutes Auskommen unter diesen archaischen Umständen finden - es ist halt wie ein Besuch in der Urzeit, der Entstehung des Planeten Erde. Hier haben sich Lebensgemeinschaften etabliert, deren Mitglieder auf sich allein gestellt in dieser Tiefe trotz Thermalquelle nicht überlebensfähig wären - dies ist nur in der Zusammenarbeit einer Gemeinschaft möglich. Ähnliches ist auch im Japanischen Meer und Pazifik um den Untermeervulkan Eifuku beobachtet worden, allerdings finden sich hier ausschließlich die Weißen Raucher - White Smoker. Im Thermalfeld um LOKIS Schloss arrangieren sich erstaunlich vitale, wenn auch archaische Lebensformen, so Bartwürmer, Schwefelbakterien, die bereits umfangreiche genetische Daten lieferten, so ein Gen, das bislang nur bei Tieren, Pflanzen und Pilzen nachgewiesen wurde. Allerdings wurde dieses Gen noch nie in Reinform Kultur gezüchtet oder vor Ort in der Tiefsee lokalisiert. Selbige kommen auch in konzentrierter Form in den Virenstämmen von SARS-CoV-2 und COVID - 19 vor. Daher weht also der Wind des Nordens über den Atlantik. Das war der tiefere Sinn unserer Ausflugsfahrt mit der Georgi Schukow in das Herz der Finsternis - hinab in LOKIS Schloss. Den globalen politischen Entscheidungsträgern ging im wahrsten Sinne des Wortes der Arsch auf Grundeis. Wie viele Epidemien weltweit hat es in den vergangenen dreißig - vierzig Jahren gegeben? BSE, HIV, Ebola, SARS, Vogelgrippe, Schweinepest, das Hanta Virus, die Influenza - und dann die Impfhysterie gegen alles und jegliches - schon bei der kleinsten Störung im menschlichen Organismus wird die Pharmazeutische Keule, der Chemische Hammer verabreicht, Medikamente - die kurzfristig für Linderung und Abhilfe sorgen, mittel- und langfristig jedoch großen Schaden anrichten, da sie zu einer Anti- Immunität führen, welche die Betroffenen bei der kleinsten Animosität aus den Socken hauen. Und wir sollen jetzt am und im Arsch der Welt herumwühlen und was auch immer suchen und finden, das der Menschheit einen Ausweg aus dem selbst verordneten Chaos der Seuchen- und Epidemienhysterie liefert. Es gibt sogar schon Kollegen bei der NASA die von Reisen zu den Eismonden des Jupiters träumen, unter deren gepanzerter Oberfläche Wasserozeane mit hydrothermalen Quellen für erdähnliche Lebensformen sorgen. Hier - so die Wissenschaftler - böten sich ungeahnte Ansatzpunkte und Möglichkeiten zur Erforschung der Paläoanthropologie, der Mikrobiologie, der Biochemie und Medizin. So also stehen die Dinge wirklich - die Informations- und Arbeitsmappe des internationalen Konsortiums für molekulare und biochemische Erforschung der Nordatlantischen Tiefsee im allgemeinen und der Geothermalfelder um LOKIS Schloss lag vor mir auf dem Tisch; während ich scheinbar interessiert weiter zuhörte und in den Unterlagen blätterte, dabei die eine und andere Notiz machte, tasteten meine Augen - durch dicke Brillengestellränder abgeschirmt, die Kolleginnen und Kollegen zu meinen Seiten ab, und soweit möglich die Damen und Herren vor mir, um so über deren Verhalten Rückschlüsse auf etwaige Erkenntnisse zu gewinnen, die meinen ähnelten oder darüber hinausgingen. Etwas Großes ging hier an Bord der Georgi Schukow vor, wir alle standen am Beginn eines weltweit bedeutenden Falles, der uns weit hinaus führen würde in die eisigen Gefilde des Nordatlantiks, hinab in die Tiefsee zu LOKIS Schloss, um dem düsteren Reich des Gottes des Feuers unsere Aufwartung zu machen. Stellt sich nur die Frage, ob dem Herrn unser Besuch recht ist, wenn wir zudem sein Reich nach irgendwelchen Bakterien, Molekülen und Mineralien durchwühlen, hier was abbrechen, dort Lebewesen gleich welcher Art einfangen oder entnehmen. Durch unsere Expedition würden wir Millionen Jahre sichtbarer erdgeschichtlicher Geothermaler Entwicklung beeinflussen, beieinträchtigen oder sogar zerstören, und das an den Nahtstellen hochexplosiver Plattentektonik, wo Nordamerika und Europa in der Tiefsee aufeinandertreffen und ihre gewaltigen Schubkräfte, erzeugt durch die Plattenbewegungen auf glutflüssigem Untergrund Kräfte freisetzen, von denen wir uns heuer noch keine Vorstellungen machen, Kräfte - die erst einmal entfesselt, den Planeten in Stücke zu reißen in der Lage sind. Die Mitarbeiter der jeweiligen Teams saßen zwar in eigenen Bereichen, aber jeder für sich an einem eigenen Tisch, so dass ein Kontakt bestenfalls visuell möglich war, ohne andere Kolleginnen oder Kollegen zu stören. Ich hatte nicht den Eindruck, dass bei den Anwesenden das Bedürfnis dazu bestand, auch ließ die Mimik der Zuhörenden - soweit von mir einsehbar, dahin gehend keine derartigen Feststellungen meinerseits zu, die Damen und Herren Kollegen zeigten sich in allerfeinster Pokerface Manier. Zum ersten Mal stellte ich an mir ein Befinden fest, das unterschwellig Vorsicht signalisierte, Vorsicht vor dem Unbekannten, das uns tief unten am Boden des arktischen Ozeans erwartete. Keine aufkeimende Nervosität oder ängstliches Verhalten geschweige denn Angst, aber da war etwas in mir, das sich langsam aber unaufhörlich ausbreitete, meine Gedanken beeinflusste, mein rationales Denken und Verhalten strukturell veränderte, nicht ad hock wie mit dem Gummihammer, sondern diffizil, hinterschwellig, kaum wahrnehmbar aber dennoch latent in mir, in meinem Verstand am Werk. Alles nur Einbildung, Überspanntheit und vor allem Übermüdung? Immerhin war ich seit mehr als zwanzig Stunden auf den Beinen, andere Kolleginnen und Kollegen noch länger. Da konnte sich schon die eine oder andere psychische Disharmonie einstellen. Ich neige dazu mich in metaphysischen Betrachtungen zu ergehen, Übernatürliches in allen Formen und akustisch-visuellen Erscheinungen für möglich und vor allem denkbar zu halten, gleichwohl fand ich es faszinierend und kolossal aufregend an Bord der Oktopus zum Wrack der Titanic hinab zu tauchen. Und das zwei Mal. Meine Berichte dazu fanden internationale Beachtung, so dass mich Randy Ballin Ende der achtziger Jahre zur Suche nach dem legendären deutschen Schlachtschiff Bismarck einlud. Leider konnte ich aus gesundheitlichen Gründen nicht daran teilnehmen, was mir sehr leid tat, aber auf Rücksicht auf das eigene Wohlergehen und das der Besatzung um Randy Ballin unumgänglich war. Zur Bismarck wollte ich nach ihrem Auffinden in fast fünftausend Metern Tiefe wenigstens einmal noch in diesem Leben, hatte es aber lediglich bis Blohm und Voss in Hamburg ( dort wurde die Bismarck gebaut) und zu einer atlantischen Überfahrt von Brest nach Halifax in Kanada geschafft, wobei wir allerdings Koordinatengenau jene Stelle kreuzten, an der das berühmteste deutsche Schlachtschiff des Zweiten Weltkrieges auf dem Grunde des Atlantiks ruhte. Immerhin entschädigten mich die Bücher und Videos von Randy Ballin, die mir der Professor und Unterwasserarchäologe großzügig zu meinem fünfundsechzigsten Geburtstag zukommen ließ. Aber das liegt auch schon „Lichtjahre“ hinter mir. Das Phänomen Zeit ist in sich ein Paradoxon, weil die Zeit eine Erfindung des Menschen ist, um sich in einer Welt, einem Universum der Vergänglichkeit und ständigen Erneuerung zurechtzufinden. Zeit ist somit eine Illusion, eine Fata Morgana - ein gedankliches Gespinst, eine kalendarische Zwangsjacke, in der wir mit dem Augenblick unserer Geburt bis zu unserem biologischen Tod gefangen sind, in einem unsichtbaren, imaginären Kerker von Werden und Vergehen, angefüllt mit Wünschen, Träumen, Sehnsüchten, Hoffnungen, Ängsten, Verzweiflungen, Leid und Tränen, Schmerzen und Erlösung, Lachen und Freuen - und das Warten auf den Tod. Meine gedanklichen Exkursionen in das Reich der anderen Dimensionen - des „outher limits“, des Überschreitens des Event Horizons in oftmals bizarren und abstrakten Denkmodellen die mich, meine Freunde und zuweilen Kollegen an den Saum des Bewusstseins führten. Vielleicht ist alles ganz anders - möglicherweise sind wir Teil eines Experimentes in irgendeinem kosmischen Labor in der vierten oder irgend einer anderen Dimension, elektronische Pixel, Bits und Bytes, die jederzeit durch universalen Mausklick von riesenhaften Erscheinungen gelöscht werden können. Beobachtet durch monströse Mikroskope von noch monströseren Kreaturen, die auch die kleinste Mikrobe, ja jedes Molekül und Atom und all die übrige amphibische Urscheiße haargenau und penibel - und vor allem mit Genuss im wahrsten Sinne des Wortes unter die Lupe nahmen. Während meiner Lyrik- und Aphorismen Phase, im zarten Alter von fünfunddreißig bis Mitte vierzig, schenkte mir die Muse Thalia die sonderbarsten Einfälle, welche Einzug hielten in die Welt des gedruckten Wortes, in Literaturzeitschriften, einen Lyrikband, in Lesungen und unterhaltsame Matinee Veranstaltungen, wo es hernach stets ein sattes Honorar in Deutscher Mark gab. Drei dieser Aphorismen haben sich zu wahren Bestaudis entwickelt.

 

Das Erste lautet:

„Von der großen Plakatwand herab verkündet mir ein Lasso schwingender Reiter Zigaretten rauchend den Geschmack von Freiheit und Abenteuer. Der Lungenkrebs kennt diesen Geschmack auch.

Das Zweite lautet:

„In den Kanälen unter der Stadt leben die Ratten in ihrer Stadt. Welche Ratten leben in den Kanälen unter der Rattenstadt?“

Das Dritte lautet:

„Der dicke Katalog eines Kaufhauses überschwemmte mein Verständnis und schrie laut nach einer Entladung. Ich bestellte mir ein Gewehr und erschoss den Besitzer dieser Bilderbuchwelt“.

So die Altmännerfantasien vom Dritten Mann, einem verhinderten Bismarck Taucher und Sohn eines U-Boot Fahrers unter Karl Dönitz, der seine „Grauen Wölfe“ in der brutalsten Seeschlacht der Geschichte im Nordatlantik verheizte. Operationsgebiet LOKIS Schloss - na endlich, darauf habe nicht nur ich sondern die Anwesenden Kolleginnen und Kollegen im Saal der Marine gewartet, da war ich mir ganz sicher. Im Saal der U-Boot Fahrer gleich nebenan dürfte es ähnlich zugehen. Leider war mir und den anderen Kolleginnen-Kollegen die visuelle wie akustische Teilnahme an dieser Vorstellung nicht vergönnt. Nachher auf der Georgi Schukow wäre sicher genug Gelegenheit sich näher kennenzulernen und über das Gehörte und die ersten Eindrücke auszutauschen. Fast die Hälfte aller Teilnehmer befand sich mit mir im Saal der Marine - mithin fünfzehn Personen, neun Männer und sechs Frauen und horchte dem salbeienden Wortfluss der Valeria Dernikowa, die sich verbal leichtfüßig in den Kapiteln der Informationsunterlagen bewegte und uns in unterhaltsamer, mitunter sogar aufregend - spannender Weise die Komplexität des „Operationsgebietes LOKIS Schloss“ in komprimierter Weise vermittelte.

Valeria Dernikowa zum Zweiten - Kapitän Viktor Satchev - die Atomgaz

Zwei männliche Kollegen waren mir bekannt, von den weiblichen Teilnehmerinnen noch keine, was sich aber während der Dauer unserer Expedition auf jeden Fall ändern würde. Während meine Ohren den Ausführungen von Frau Dernikowa fast schon automatisch folgten, durchforsteten meine Augen den weiteren Inhalt der Unterlagen, bis sie ziemlich zum Ende der Mappe hin auf jenem Blatt fündig wurden „Teilnehmerliste arktische Eismeerfahrt auf Georgi Schukow“. Im Laufe meines wissenschaftlich-journalistischen Lebens hatte ich mir eine Verhaltensweise antrainiert die es mir ermöglichte, akustisch dem Geschehen eines Vortrages problemlos zu folgen, derweil meine optischen Empfangsmodule entweder die vorliegenden Unterlagen sezierten, um zwischenzeitlich den einen oder anderen Blick auf Mund des Referenten oder der Referentin zu heften. Bei Valeria Dernikowa war dies in zweierlei Hinsicht einfach wie angenehm. Zum einen waren mir die Vokabularien und einstudierten Begrüßungs- und Vortragsrituale der russischen Offiziellen vertraut, zum anderen bereitete mir das prachtvolle Lippenpaar dieser Valeria Dernikowa, welches in Formvollendung, prall und üppig jenen verbalen, nach Verführung klingenden Redefluss, nicht nur an meine Ohren strömen ließ, zugegeben lustvolle Gefühle. Und das mir, einem ergrauten Pressezossen, der vom Alter her der Großvater, aber zumindest der Vater dieser attraktiven Russin hätte sein können. Ungeachtet dessen durchliefen meine Gedanken die längst verschlossen geglaubten Kammern entfernter Frühlingsgefühle - welche für die sogenannten „Schmetterlinge im Bauch“ verantwortlich sein sollen. Ich schmunzelte über mich selbst, nahm fast schon automatisch einen Schluck Wasser zu mir, derweil mir die Hoffnung blieb, dieses liebreizende Lippenpaar auf der Georgi Schukow näher kennenzulernen. Valeria Dernikowa war in ihrer Eigenschaft als Verbindungsoffizier - besser Kommunikationsmanagerin - für die Fragen und Wünsche ihrer „Schäfchen“ zuständig. Na schön, dagegen hatte ich überhaupt nichts einzuwenden, wenn sie mich nur anständig und liebevoll als Schäferin von meiner Wolle befreit. Halleluja.

„Teilnehmerliste arktische Eismeerfahrt auf Georgi Schukow“.

Na bitte - wer suchet der findet, und das war mehr als ich zu hoffen wagte, ging mir ein altes deutsches Sprichwort durch den Sinn.

Viktor Satchev - Kapitän der Georgi Schukow, die Nummer eins noch vor allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen der arktischen Atlantik Expedition, mit allen erfolg- und ruhmreichen Unternehmungen, die er als sehr erfahrener Kommandant und Kapitän des weltweit größten Eisbrechers für polare Unternehmungen mit der Georgi Schukow und anderen Eisbrechern durchführte. Fein numerisch aufgelistet, mit Datum, Zweck und entsprechender offizieller Belobigung durch die Atomgaz in Murmansk, die offiziellen russischen Dienststellen - sogar zwei Empfänge durch den Präsidenten im Kreml in Moskau waren aufgeführt und besonders gekennzeichnet, erhielt doch Viktor Satchev stellvertretend für seine Mannschaft den Wissenschafts- und Forscherorden der Lomonossow - Universität in Moskau, die höchste zivile Auszeichnung im Universitätswesen Russlands. Auch sonst wurde die markante Erscheinung des Viktor Satchev national und international mit Auszeichnungen, Ehrungen und - Orden eingedeckt, was dem eher bescheiden auftretenden, gewissenhaften und sich seiner großen Verantwortung für Schiff, Besatzung und Gäste während der Unternehmungen bewusst, und natürlich von den jeweiligen nationalen und internationalen Forscherteams, welche an den Fahrten teilnahmen, was aber dem naturell des Menschen Viktor Satchev nicht entsprach und sich unzweifelhaft an seiner Mimik zu erkennen ließ, wenn wieder einmal eine öffentliche „Huldigung“ anstand. Der Kapitän der Georgi Schukow freute sich dagegen wie ein Schneekönig, wenn seine Gäste an Bord sich aufrichtig und engagiert für seine Arbeit interessierten und ihn soweit möglich an ihrer Arbeit teilhaben ließen und er ihnen Geschichten und Erlebnisse über und mit dem Eis erzählte, die bei den Akademikern nicht selten Bewunderung und Respekt erzeugten und seinen Ruf als Experten der polaren Regionen nachhaltig festigten. Bei den offiziellen Besprechungen der Forscherteams war Viktor Satchev oder sein IO - der erste Offizier, Stellvertreter des Kapitäns auf jedem Hochseeschiff, ohnehin anwesend, um so die wissenschaftlichen Vorhaben und Experimente der Forscherteams mit der Leistungsfähigkeit der Georgi Schukow zu koordinieren. Viktor Satchev, schon zu Lebzeiten eine Legende, Mitte fünfzig, vital wie ein Eisbär, der alle russischen Eisbrecherkapitäne der Atomgaz ausbildete und zu regelmäßigen Treffen nach Murmansk oder auf die Georgi Schukow einlud, um mit den Männern und Frauen den neuesten Wissensstand in der Führung eines Eisbrechers, seiner Technik und - primär den Umgang mit dem Eis „einzutrichtern“, bis die Kapitäne - Männer wie Frauen, ihre Lektionen wie im Schlaf beherrschten, denn das Polarmeer ist kalt, sehr kalt und das Eis verzeiht keinen Fehler, so sein Schluss -Spruch zu den Männern und Frauen nach jedem Seminar. Dieser Mann war im wahrsten Sinne des Wortes ein russischer Bär wie aus dem Bilderbuch, mit einem offenen, freundlichen Gesicht, aus dem zwei strahlendblaue funkelnde Augen jeden Menschen sofort in ihren Bann zogen, selbiges umrahmt von einem fast schwarzen, sehr gepflegten Vollbart und ebenso nicht mehr ganz schwarzes Haar, durch das sich erste hellgraue feine Marmorierungen wie silberne Fäden zogen - ein Geschenk meiner Eisbärenfreunde aus dem Polarmeer, gab er belustigt zum Besten, wenn ihn der eine oder andere Teilnehmer oder eine Teilnehmerin zu vorgerückter Stunde auf sein wuscheliges Haar ansprach. Viktor Satchev war mir aus zwei Veranstaltungen im Albert-Wagner-Institut in Bremerhaven als Gastredner bekannt, wo er über seine Erfahrungen mit Eisbrechern in polaren Regionen sprach, wobei ihm sehr viel daran gelegen war seine Zuhörer davon zu überzeugen, dass das Eis nicht nur gefrorenes Wasser ist, sondern ein lebendiges Wesen, dem mit größtem Respekt und Hochachtung zu begegnen sei. Nur so sei ein Überleben - auch unter Einsatz eines Eisbrechers wie der Georgi Schukow - möglich. Satchev war nach dem Tod seiner Frau und beiden Töchter Solist, Witwer, ohne Ambitionen auf einen erneuten Anlauf zur Eheschließung oder gar Gründung einer weiteren Familie. Der Verlust seiner „Kirschblüten“, wie er Frau und Töchter liebevoll nannte, hatte ihm fast das Herz zerrissen, beschrieb Satchev in Gesprächen im kleinen Kreis seine Empfindungen. So etwas wollte er nie wieder erleben. Ausgerechnet Eis und Schnee wurden Frau und Töchtern im Kaukasus zum Verhängnis. Ein abgehendes Schneebrett löste ein Lawineninferno aus, das den Dreien auf ihrer Skiwanderung nicht den Hauch einer Chance lies. Das lag fünfzehn Jahre zurück, doch gefunden wurden sie bis heute nicht - der Schnee und das Eis des Kaukasus haben seine „Kirschblüten“ verschlungen - für ewig. Im arktischen Eis des Nordpolarmeeres sind Lawinen, bis auf einige wenige Regionen im grönländischen Gebirgsrücken, praktisch ausgeschlossen, dafür toben immer wieder unberechenbare, schier mörderische eisige Stürme über den endlosen Eispanzer, die mitunter Wochen andauern können und schon komplette Expeditionen hinwegfegten. Die Annalen sind voll von diesen Tragödien menschlicher „Überheblichkeit“ bei den Versuchen, sich die Natur des Nordpolarmeeres oder der Antarktis untertan, sie ihrem Willen gefügig zu machen. Satchev kannte sie alle - ihre vermeintlichen Erfolge - und ihr ruhmloses Ende, wenn die Polarnacht den Männern und Frauen ihr eisiges Totenhemd überstreifte, aus dem es kein Entrinnen gab. Der respektvolle Umgang mit dem Eis, den Launen und der Wildheit der Arktis, waren unabdingbare Voraussetzungen für ein Überleben in diesen extremen Regionen, wenn dies auch nur unter eingeschränkten Bedingungen gelingen konnte, was übrigens ebenso für die südpolare antarktische Eis- und Felsmasse galt. Hier peitschten ob der immensen Größe dieses Kontinents, so Satchevs Interpretation der Antarktis, höllische Stürme über Eis- und Felsplateaus, die jenen berühmten Wettlauf zum Südpol zwischen dem Engländer Scott und dem Norweger Amundsen in einer tödlichen Apokalypse enden ließ. Amundsen ging als Sieger aus diesem Wettrennen hervor - Scott erfror mit einigen verbliebenen Getreuen in einem Zelt, nur wenige Kilometer vom rettenden Versorgungslager entfernt auf einem schier endlosen Eisfeld. Erst viel später fanden Suchtrupps das Zelt mit den erstarrten Leichen der Männer - und das Bild- und Schrift gewordene Drama um die Erreichung des Südpols als erste Menschen - um die letzten Tage und Stunden im Leben Scotts und seiner Kameraden. Ironie der Geschichte; nicht die Leistung Amundsens und seiner Begleiter als erste Menschen den Südpol erreicht zu haben füllte weltweit über Monate die Zeitungen, sondern die Berichte aus den Aufzeichnungen Scotts über die heldenhaften, letztlich verzweifelten Anstrengungen der Gruppe, doch noch vor Amundsen den Südpol als erste Menschen zu erreichen. Wie ein grinsender Dämon musste Scott und seinen Mannen die norwegische Flagge erschienen sein, die ihnen an jenem sonnigen, fast lieblichen Tag entgegen leuchtete und ihr rotes Tuch mit dem blau-weißen Kreuz im sachten Wind des frühen Morgens wehen ließ. Ja - „Väterchen Frost“ verstand es wie kein anderer, seinen „Gästen“ auf seinem Schiff, an Bord des mächtigsten und stärksten Eisbrechers dieser Welt - der Georgi Schukow - die Geschichten und Geschehnisse mit und auf dem Eis, die kleinen und großen Abenteuer, aber auch die vermeintlichen glorreichen Siege, welche gegen die verheerenden Niederlagen, die kleinen und großen Dramen, von denen sogar einige den Weg in die Weltliteratur und den internationalen Film fanden, in einer emotional - packenden Art und Weise nahe zu bringen, wie es kein Buch, kein Film oder Theaterstück jemals vermochte. Seinen Spitznamen, den er insgeheim mit einigem Stolz für sich reklamierte, den er aber nie aus eigenem Antrieb heraus wie den polierten Harnisch eines Heroldes über seiner Brust trug, klebte seit Jahrzehnten an ihm wie warme Haut auf trockenem Eis und erinnerte ihn an den stillen Abenden, wo er mit sich und seinen Erinnerungen zu den Expeditionen der Vergangenheit aufbrach, damals, als er noch IO war auf der Jamal, dem ersten atomgetriebenen Eisbrecher der Sowjetunion, öffnete sich an diesen stillen Abenden die Tür in die Seele des Viktor Satchev, zu der nur seine „Kirschblüten“ den ewigen Schlüssel besaßen. Dann war es diesem „Eisbären“ Russlands erlaubt die Tränen zu weinen, die er nie am Grab seiner Familie würde vergießen können, weil es keinen Ort gab, wo er die von Eis uns Schnee Verschlungenen hätte suchen und finden können. Aber diese Emotionen fanden niemals vor anderen Menschen den Weg hinaus aus seinem Herzen, mochten sie auch zu seinen besten Freunden zählen. Seine Verantwortung gegenüber seinem Land, seiner Mannschaft und seinem Schiff, aber auch die Zuneigung und Hilfe seiner besten Freunde, die seinen Gemütszustand festigte und ihn vor dem totalen Zusammenbruch bewahrte, ließen ihn diese emotionale Sturmflut, die seine Seele und Gefühle in nie gekanntem Ausmaß verheerte, überstehen. Und dann war da noch das uneingeschränkte Vertrauen der Atomgaz - der Eignerin der Georgi Schukow, ihm weiterhin das Kommando über diesen riesigen Eisbrecher und seiner Besatzung in seine erfahrenen Hände zu legen; die beste Therapie, die einem „Eisbären“ wie Viktor Satchev dienlich war, denn ohne Kommando auf der Georgi Schukow, ohne die Arktischen Expeditionen im Nordpolarmeer und den Unternehmungen im Antarktischen Eispanzer, wäre der psychische Untergang dieses prachtvollen Menschen besiegelt gewesen. Doch alles kam anders, und das war gut so. Viktor Satchevs Name stand als einziger von der Besatzung auf der Teilnehmerliste, was auf Fahrten dieser Art durchaus üblich war; der Kapitän stellte während der Vorstellung an Bord seines Schiffes die Offiziere vor, allen voran den IO, der sein Stellvertreter ist, besonders wenn der Kapitän die Brücke verließ. So halten es alle Kapitäne zur See auf allen Schiffen der Christlichen wie Marinen Seefahrt. Disziplin und jahrelange Erfahrung sind unabdingbare Voraussetzungen, um Vorhaben und Expeditionen - ganz besonders im ewigen Eis der Polarregionen - erfolgreich durchzuführen, die Mannschaften und internationalen Forscher- und Wissenschaftlerteams ohne gesundheitliche Nachteile wohlbehalten nach Wochen oder gar Monaten an Bord und auf dem Eis nach Murmansk zurückzuführen, und die Georgi Schukow ebenso unbeschadet an ihrem Liegeplatz in der größten Stadt nördlich des Polarkreises fest zu machen. Teilnehmende internationale Teams - so stand es abgesetzt nachfolgend unter dem Namen der Georgi Schukow - des größten arktischen Eisbrechers der Welt und seines Kapitäns Viktor Satchev. Teilnehmende internationale Teams - säuberlich nummeriert und aufgelistet - sieben an der Zahl, wobei die Anzahl der Teams keine Auskunft darüber gab, wie viele Personen in der jeweiligen Mannschaft an dieser Expedition teilnahmen. Eine uralte Verunsicherungsmaßnahme aus der Mottentrickkiste des russischen - ehemals sowjetischen Geheimdienstes, der haarklein über jede Teilnehmerin - jeden Teilnehmer eines jeden Teams aus den gemeldeten Nationen vorab informiert war; Nachmeldungen sind ab einem bestimmten Datum nicht mehr möglich, davon wichen weder die Russen noch die Atomgaz ab, auch wenn den Verantwortlichen auf russischer Seite dadurch mehrere zehntausend Dollar an „Aufwandsentschädigung“ entgingen. Es wäre durchaus ein Leichtes gewesen nicht nur eine Person, sondern ein komplettes Team nachzuschieben; die Georgi Schukow verfügte über einen hochmodernen Hubschrauberlandeplatz, der von den stärksten Transporthubschraubern der Welt, dem Mil Mi-6 und Mil Mi-26 angeflogen werden konnten. Beide schleppten Lasten zwischen 30 und 40 t auf 2000 bzw.3000 Metern Höhe, eine kaum vorstellbare technische Leistung, wenn man sie nicht selbst erlebt hat. Ein Team von vier bis sechs Personen einschließlich Ausrüstung war für die Mil Mi-6 oder Mil Mi-26 keine Belastungsprobe ihrer Fähigkeiten, eher ein Ballasttransport der unteren Kategorie. Aber das alles spielte keine Rolle, die Russen wollten auch dreißig Jahre nach der Wende genau wissen, was da für Leute auf ihren Eisbrechern logierten und - was sie mit ihren Expeditionen bezweckten, was sie untersuchten, was sie an Ergebnissen mit nach Hause brachten. Überraschungen waren etwas, was von russischer Seite zu keiner Zeit erwartet, geschweige denn gewünscht wurde, schon gar nicht die Nachmeldung eines Forschungs- und Wissenschaftlerteams, das in letzter Minute noch an dieser oder einer anderen Expedition mit der Georgi Schukow teilnehmen wollte. Njet hieß es dann aus Moskau und Murmansk - und nein war bei den Russen ein Nein, das hatte ich schon mehrmals erfahren. Ähnlich verhielt es sich bei den Asiaten, besonders die Chinesen änderten von jetzt auf gleich bereits seit langem bestätigte Termine und Zusagen aus Gründen, die nicht einmal der weise Konfuzius nachzuvollziehen in der Lage wäre. Es ist wie es ist, besonders ärgerlich, wenn dadurch bestimmte Arbeitsabschnitte komplett wegfallen und durch weniger attraktive nachgeschobene Ersatzangebote ausgeglichen werden sollen. Machen Sie das beste daraus, war eine der gängigen Floskeln, die ich immer wieder zu hören bekam, was mir als Wissenschaftsjournalist zwar immer noch ein gewisses Granteln entlockte, zum anderen aber meine Improvisationsfreude zu Höchstleistungen anspornte und nach alternativen lohnenden „Ersatzangeboten“ Ausschau halten ließ.