Kein Trost, nirgends?

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Nach Einführung des Judensterns 1941 erklärten sieben von Deutschen Christen beherrschte Landeskirchen, sich von ihren Judenchristen zu trennen. In einer Erklärung vom 17. Dezember 1941 stellten sie sich hinter den staatlichen „Abwehrkampf gegen die Juden“, die „den Krieg in seinen weltweiten Ausmaßen angezettelt“ hätten.2 Im Kirchenkreis Stormarn, zu dem auch Reinbek gehörte, forderte der Propst die Gemeinden auf, getaufte Juden vor Beginn des Gottesdienstes darauf aufmerksam zu machen, „daß sie ihre judenchristliche Gemeinschaft aufsuchen müssen, „weil unsere Kirche eine deutsche Volkskirche ist.“3 Das war eine zynische Empfehlung, denn eine judenchristliche Gemeinde gab es in Stormarn nicht, was der Propst natürlich wusste. Sie bildete sich aber im Ghetto Theresienstadt, und in dem Bericht des ehemals zum Kirchenkreis Stormarn gehörenden Christen Arthur Goldschmidt wurde von ihrer Existenz eindrucksvoll Zeugnis abgelegt. Es dauerte aber 65 Jahre, bis auch die kirchliche Öffentlichkeit in der inzwischen Nordelbischen Kirche davon Kenntnis erhielt. Das war in der Wander-Ausstellung „Kirche, Christen, Juden, in Nordelbien 1933–1945“ aus dem Jahr 2011, in der nach anfänglichen Schwierigkeiten, worüber sich sein Sohn Georges Arthur Goldschmidt zu Recht noch heute ärgert, Arthur Goldschmidts Bericht zusammen mit seinen Bleistiftzeichnungen in einer Black Box ausgestellt wurde.

„Mit dem letzten (deportierten) Juden verschwindet auch das Christentum aus Deutschland.“
Elisabeth Schmitz’ mutiges Eintreten für die Juden und das Versagen der Kirche

An jedem Sonntag der schrecklichen zwölf Jahre von 1933 bis 1945 wurde in zehntausenden katholischer und evangelischer Gemeinden Gottesdienste gehalten. Es wurde gepredigt, gesungen, das Abendmahl gefeiert, gebetet, getröstet, ermahnt. Diese Gottesdienste blieben, von der Machtübernahme im Januar 1933 bis zum Kriegsende im Mai 1945, als viele Kirchen zerstört und die Pfarrer oft an der Front waren, die größte nicht nazistische Öffentlichkeitsveranstaltung, die das gleichgeschaltete Dritte Reich kannte. Doch diese massenhafte Predigt bewirkte offensichtlich unter den Christen keine Bereitschaft zum Protest gegen die verbrecherische Politik der Nationalsozialisten. Und es gab nur wenige Ausnahmen von der eher unpolitischen Tendenz dieser Predigten – ich nenne die Predigt des württembergischen Pfarrers von Jan nach der Reichspogromnacht 1938, der inhaftiert wurde und ein Predigtverbot erhielt, und die des Lübecker Pastors Karl Friedrich Stellbrink, der am Palmsonntag 1942 die verheerenden Bombenangriffe auf Lübeck als „Gottesgericht“ bezeichnete, inhaftiert und 1943 mit drei katholischen Kaplänen in Hamburg ermordet wurde1. Weder die Errichtung von Konzentrationslagern für politische Gegner noch die sich ständig steigernde Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger aus dem gesellschaftlichen Leben von 1933 bis 1938 wurden von den Kanzeln oder von den Kirchenleitungen als mit dem christlichen Glauben unvereinbar kritisiert. Die Pastoren und die Bischöfe schwiegen. Aber das nicht, weil diese Ausgrenzungspolitik nicht bekannt war. Zunächst mit dem Arierparagraphen, dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und dann mit den Nürnberger Rassegesetzen wurden die jüdischen MitbürgerInnen in Deutschland in aller Öffentlichkeit ausgegrenzt und diskriminiert. Es gab 1933 den Boykott jüdischer Geschäfte. Es gab 1935 eine schlimme Welle antisemitischer Aktionen. Und spätestens im November 1938 in der sog. Reichskristallnacht hätte jeder ‚Volksgenosse‘ die mörderische Bereitschaft der Nazis erkennen können. 1400 Synagogen wurden angesteckt und zerstört, 7500 Geschäfte demoliert, hunderte von Juden umgebracht und siebenundzwanzigtausend jüdische Männer in Konzentrationslager deportiert. Hitler erklärte im Januar 1939 im Reichstag: „Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas noch einmal gelingen sollte, die Völker in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“ Nach dem Überfall auf Polen sagte Hitler in einer öffentlichen Rede: „Dieser Kampf wird mit der Ausrottung des Judentums in Europa sein Ende finden.“2

Hitlers Absicht der Judenvernichtung, die dann im Januar 1942 mit der Wannseekonferenz von der Naziführung organisatorisch in die Wege geleitet wurde, war also den Bischöfen und Pastoren der Kirchen wie den Gemeindemitgliedern bekannt. Trotzdem hat sich bis auf einzelne Ausnahmen die christliche Bevölkerung Deutschlands mit dem Mordregime abgefunden. Auch die Bekennende Kirche hat nach anfänglichem Protest vor allem versucht ihren Bestand zu retten und ist öffentlich nicht für die verfolgten Juden eingetreten. Immerhin verhalf die 1938 im Auftrag der Bekennenden Kirche gegründete Hilfsstelle für Nichtarier mit christlicher Taufe, das sogenannte Büro Grüber, ca. 2000 Juden in Zusammenarbeit mit den regionalen Hilfsstellen zur Auswanderung3. Nach Grübers Verhaftung 1940, seiner Einlieferung in das KZ Sachsenhausen und der Schließung des Büros konnte die von der Wohlfahrtsabteilung geleistete Hilfe nur noch im Untergrund und beschränkt durchgeführt werden. Es gab aber weiter einzelne Christen mit „ungewöhnlicher Zivilcourage“, vor allem Frauen, die auch danach „Mut und Phantasie bei der Rettung jüdischer Frauen und Kinder bewiesen.“4

Man schaute weg, weil man es nicht sehen wollte. Eine, die genau hingeschaut hat und was sie sah, dokumentierte, war die Berliner Lehrerin Elisabeth Schmitz. Eine liberale Protestantin, 1893 in Hanau geboren, die bei Ernst von Harnack in Berlin studierte und bei dem Historiker Friedrich Meinecke promovierte, war seit 1929 im Höheren Schuldienst und mit Juden befreundet. Als große Teile der evangelischen Kirchen mit ihrem völkischen Protestantismus die Machtergreifung durch Hitler begeistert begrüßen, ist sie entsetzt. 1934 schließt sie sich der Bekennenden Kirche an, die das Führerprinzip und die Anbetung von Rasse und Volk in ihrem Barmer Bekenntnis im Mai 1934 entschieden ablehnt, aber kein Wort zu den Judenverfolgungen sagt. An ihrer nichtarischen Freundin, der evangelisch getauften Ärztin Martha Kassel, mit der sie eine Zeitlang zusammen wohnt, bis es ihr verboten wird, erlebt sie hautnah das Geschehen der Ausgrenzung jüdischer Mitbürgerinnen. Dagegen muss die Kirche doch ihre Stimme erheben, denkt sie und wird aktiv. Sie beschwört wichtige Kirchenführer und Theologen wie Karl Barth, Friedrich von Bodelschwingh, Martin Niemöller und Walter Künneth in eindringlichen Briefen, gegen Unrecht und Verfolgung besonders der Juden öffentlich aufzutreten. An den bekannten Theologieprofessor Karl Barth schreibt sie Anfang 1934: „Sollten die Gesetze, so wie sie heute sind, längere Zeit bestehen bleiben, so würde das das glatte Todesurteil bedeuten für hunderttausende, vielleicht für Millionen.“5 Doch ihre Warnungen sind vergeblich. So entschließt sie sich, als im Juli 1935 eine neue antisemitische Welle mit fast pogromhaften Zügen durch Deutschland geht, eine Denkschrift „Zur Lage der deutschen Nichtarier“ zu verfassen und anonym in mehreren Exemplaren zirkulieren zu lassen. Zu diesem Zweck schafft sie sich eine kleine Schreibmaschine vom Typ Erika an. In dieser Denkschrift fordert sie ein öffentliches Eintreten der Bekennenden Kirche für die Juden. Sie schildert die „innere Not“ der verfolgten Juden, dann ihre „äußere Not“ und fragt schließlich nach der „Stellung der Kirche“ dazu: „Was soll man antworten auf all die verzweifelten Bitten, Fragen und Anklagen? Warum tut die Kirche nichts? Warum läßt sie das namenlose Unrecht geschehen? Wie kann sie immer wieder freudige Bekenntnisse zum nationalsozialistischen Staat ablegen, die doch politische Bekenntnisse sind und sich gegen das Leben eines Teils ihrer Mitglieder richten? Warum schützt sie nicht wenigstens die Kinder? Sollte denn alles das, was mit der heute so verachteten Humanität schlechterdings unvereinbar ist, mit dem Christentum vereinbar sein?“ Ausdrücklich verurteilt sie den theologischen Antijudaismus, der in der Verfolgung und Ausgrenzung der Juden meint, dem Judentum das Gericht und die Gnade Gottes verkündigen zu können: „Seit wann ist es etwas anderes als Gotteslästerung zu behaupten, es sei der Wille Gottes, daß wir Unrecht tun?“6 Eine Zeitlang wurde vermutet, dass ihr Text der dritten altpreußischen Bekenntnis-Synode in Berlin-Steglitz im September 1935 übergeben, aber nicht behandelt worden sei. Doch das ist inzwischen zweifelhaft.7 Vermutlich kursierte das anonyme Papier zunächst nur in wenigen Exemplaren. Aber es gibt wieder keine öffentliche Reaktion der Bekennenden Kirche (BK).

Schmitz entschließt sich, weiteres Material zu sammeln und die um einen Nachtrag, „Folgen der Nürnberger Gesetze“, erweiterte Denkschrift im Mai 1936 erneut unter die Leute zu bringen. In der Zwischenzeit hatte sie einen Vervielfältigungsapparat erworben. Diesmal schrieb sie den Text auf Matrizen und stellte eigenhändig 200 Exemplare her, die sie an wichtige Personen wie den BK-Pfarrer Wilhelm Niesel, an die Vorläufige Leitung der BK und an die Provinzialbruderräte schickt. Aus einem Bericht der Londoner Times übernimmt sie den Begriff „cold Pogrom“ und belegt dieses kalte Pogrom durch den Hinweis, dass es inzwischen in den jüdischen Gemeinden zwischen Sterbefällen und Geburten ein Verhältnis von sechs zu eins gebe.8 Sie betreibt diese nicht ungefährliche Aufklärungsarbeit in einer gleichgeschalteten Öffentlichkeit, weil sie, wie sie gegenüber Karl Barth formuliert, erreichen möchte, „dass die Kirche anerkennt, daß es sich um ein Gebiet handelt, das sie angeht.“ Ihre Aktivitäten in den ersten fünf Jahren des NS-Regimes zusammenfassend, formuliert ihr Biograph Manfred Gailus: „Da der Verfolgungsdruck wuchs und von der Kirche wenig geschah, fasste sie den einsamen Entschluss, die Denkschrift zu schreiben, um aufzuklären und aufzurütteln. Diese Schrift war eine mutige Tat: der Text selbst, die Schreibmaschine, die Anschaffung des Vervielfältigungsapparats, die riskante Verteilung der hochbrisanten Flugschrift an mehr als ein Dutzend Stellen, das Abziehen von 200 Exemplaren, der Berg subversiven Papiers in der eigenen Wohnung. Die christlich-fromme Studienrätin in der weißen hochgeschlossenen Bluse und dem langen, grauen Faltenrock war damit zur Widerstandskämpferin geworden.“9

 

Der Dienst in der Schule wurde für Elisabeth Schmitz angesichts der stärker geforderten Indoktrinierung der jungen Generation immer schwieriger. Eine nichtarische Kollegin, Lottesophie Hartzfeld, brachte sich um. Kirchlich orientierte sie sich in dieser Zeit stärker zur Dahlemer Gemeinde hin, wo Martin Niemöller sonntags oft vor eintausend Zuhörern in der Jesus-Christus-Kirche predigte. Dann kam es zu einer Zuspitzung des Kirchenkampfes mit der Verhaftung Martin Niemöllers am 1. Juli 1937; als Hitlers persönlichen Gefangenen brachte man ihn in das KZ Dachau. Es ist anzunehmen, dass sich Elisabeth Schmitz an den Fürbittgottesdiensten für die inhaftierten Pfarrer der BK beteiligte. Sie trat in Kontakt mit dem inoffiziellen Nachfolger Niemöllers in Dahlem, dem jungen Pfarrer Helmut Gollwitzer, einem Barth-Schüler. Noch einmal unternimmt sie im September 1938 einen Versuch mit einem Brief-Appell an den BK-Pfarrer Niesel, „die Bekennende Kirche möge endlich über die Behandlung der Juden in Deutschland ein Wort an die Gemeinden richten.“ Sie schreibt diesen Brief vor dem Hintergrund der Sudetenkrise und der damit drohenden Kriegsgefahr. Sie mahnt: „Denn was ein Krieg für die Behandlung der Juden in Deutschland bedeuten würde, ist nicht abzusehen.“ Die Gemeinden müssten über die Verfolgung der Juden in Deutschland besser informiert werden. Sie müssten ihre Mitschuld an der Vereinsamung und Verzweiflung erkennen, denn „wir“ hätten geschwiegen, wo „wir“ hätten reden müssen, zu den Misshandlungen in den Lagern und zum Mord.10 Ein solches klares Wort, durch Unterschrift bekräftigt, wozu sie bereit sei, müsse jetzt kommen. Doch wieder kommt keine positive Reaktion von der BK. Diese war mit den Folgen der Gebetsliturgie zur Erhaltung des Friedens angesichts der Sudetenkrise beschäftigt und wollte sich nicht durch eine solche Stellungnahme zu der Verfolgung der Juden zusätzlich in Schwierigkeiten bringen. Die Ereignisse um den 9./10. November, die sie vorausgesehen hatte, versetzen Elisabeth Schmitz in schlimmste Aufregung. Sie lässt sich krankschreiben (und kehrt danach auch nicht in den Schuldienst zurück, der für sie ohnehin wegen der ihr abgeforderten nationalsozialistischen Lehrinhalte immer schwieriger geworden war.) Zugleich unternimmt sie einiges, um das Ungeheuerliche der Reichspogromnacht mit genaueren Berichten in der Kirche bekannt zu machen. In drei Briefen an den Dahlemer Pfarrer Helmut Gollwitzer versorgt sie diesen mit zusätzlichen Informationen zum minutiös geplanten Ablauf des Pogroms, die sie durch eigene Recherchen und Lektüre ausländischer Presse herausbekommen hatte. „Die Verhaftungen dauerten gestern noch an. Es wird die Zahl von 40.000 genannt. In München, Nürnberg, Breslau und wohl auch in Frankfurt a. M. scheinen alle Männer im Alter von 16–40 Jahren verhaftet zu sein.“ Sie gibt zu bedenken, dass zu einem solchen Vorgehen die Kirche nicht schweigen dürfe, sondern „sofort in allen Gemeinden Bußgottesdienste ansetzen müsste.“

Gollwitzer, der zunächst erwog, zu der Pogromnacht und ihren Folgen zu schweigen, fühlte sich durch Schmitz’ Intervention ermutigt, doch in seiner Bußtagspredigt dazu Stellung zu nehmen und ohne die Juden wörtlich zu nennen, die Aktionen des Pogroms zu verurteilen und die Mitschuld der Kirche zu benennen: „Was hat nun uns und unserm Volk und unserer Kirche all das Predigen und Predigthören genutzt die ganzen Jahre und Jahrhunderte als daß wir nun da angelangt sind, wo wir heute stehen?“ „Wir (sind) mitverhaftet in die große Schuld, daß wir schamrot werden müssen.“ An der wachsenden Grausamkeit „sind wir alle beteiligt, der eine durch die Feigheit, der andere durch Bequemlichkeit, durch das Vorübergehen, das Schweigen, das Augenzumachen (…) durch die verfluchte Vorsicht.“ Gollwitzer entließ seine Zuhörer mit den Worten: „Nun wartet draußen unser Nächster, schutzlos, ehrlos, hungernd, gejagt und getrieben von der Angst um die nackte Existenz, er wartet darauf, ob heute die Gemeinde wirklich einen Bußtag begangen hat. Jesus Christus wartet darauf. Amen.“11

Nach Gollwitzers mutiger, wenn auch die brutale Ausgrenzung der Juden nur indirekt benennender Predigt am 16. November 1938, hat Elisabeth Schmitz, sie wohnte dem Gottesdienst bei, dann noch einmal an Gollwitzer geschrieben. In diesem Brief vom 24. November stehen die Sätze, die mit Recht als prophetisch bezeichnet werden und die zu den großen Briefdokumenten im 20. Jahrhundert gehören: „Als wir zum 1. April 1933 schwiegen, als wir schwiegen zu den Stürmerkästen, zu der satanischen Hetze der Presse, zur Vergiftung der Seele des Volkes und der Jugend, zur Zerstörung der Existenzen und der Ehen durch sogenannte Gesetze – da und tausendmal sind wir schuldig geworden am 10. November 1938. Und nun? Es scheint, daß die Kirche auch dieses Mal, wo ja nun wirklich die Steine schreien, es der Einsicht und dem Mut des einzelnen Pfarrers überlässt, ob er etwas sagen will, und was.“12 „Das Wort der Kirchen ist nicht gekommen. Dafür haben wir das Grauenhafte erlebt und müssen nun weiterleben mit dem Wissen, daß wir daran schuld sind.“ „Die Presse der ganzen Welt ist voll von dieser Katastrophe, und hier hat man den Eindruck, daß sie schon jetzt, wo die zahlreichen Verhaftungen noch andauern, bei den Menschen wieder vergessen wird – auch in kirchlichen Kreisen.“ Das Gerücht darüber, dass ein Zeichen an der Kleidung der Juden vorgesehen sei, hält sie für ein schlimmes Omen. „Ich bin überzeugt, daß – sollte es dahin kommen – mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet. Das kann ich nicht beweisen, aber ich glaube es.“13

Anders als die meisten Deutschen während dieser ersten sechs Jahre der Hitler-Herrschaft hat Elisabeth Schmitz hingesehen und das, was sie gesehen hat, was eigentlich alle sehen konnten, wenn sie nicht wegschauten, dokumentiert, gedeutet und anderen mitgeteilt. Besonders ihrer Kirche, von der sie einen Protest gegen das schreckliche tagtägliche Geschehen der zunehmenden Ausgrenzung und schließlich der Vernichtung der Juden erwartete. „Ich bin überzeugt, daß – sollte es dahin kommen – mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet. Das kann ich nicht beweisen, aber ich glaube es.“ Ich halte diesen Satz der Berliner Lehrerin für eine prophetische Aussage, eine Unheilsprophetie vom Zuschnitt Jeremias. Dieser Satz‚ die Deportation des letzten Juden bedeute das Ende des Christentums, ist vor allem ein heilsgeschichtlich-theologischer Einwand. Schmitz sagt: Die von den Kirchen hingenommene Vernichtung der Juden ist das Ende des Christentums, weil es untrennbar mit dem Judentum, aus dem es stammt, verbunden ist. Eine ähnliche Aussage findet sich auch bei Dietrich Bonhoeffer, wenn er in seiner nicht fertiggestellten Ethik um 1943 formuliert: „Die abendländische Geschichte ist nach Gottes Willen mit dem Volk Israel unauflöslich verbunden, nicht nur genetisch sondern auch in echter unaufhörlicher Begegnung (…) Eine Verstoßung der Juden aus dem Abendland muß die Verstoßung Christi nach sich ziehen; denn Jesus Christus war Jude.“14 Diese klaren Aussagen von Elisabeth Schmitz und Dietrich Bonhoeffer werfen die Frage auf, ob mit der von den deutschen Kirchen hingenommenen Judenvernichtung durch das Naziregime nicht das herkömmliche Christentum tatsächlich ein Ende gefunden hat, auch wenn es weiterlebt. Denn es ist ein Versagen, das an die Substanz gegangen ist und das die Botschaft von der Versöhnung in Christus beschädigt hat. Davon legte indirekt Propst Grüber, der ehemalige Leiter der Hilfsstelle, Zeugnis ab, als er kurz vor seinem Tod 1975 erklärte: „Wir leiden bis heute unter diesem Schweigen der Kirchen. Das lässt mich bis zu meinem Lebensende nicht mehr los.“15 Es ist ja leider so, dass die Kirchen nach dem Krieg das ungeheure Verbrechen der Shoah lange Zeit verdrängten, dass sie keine Scham empfanden bzw. sie nicht zeigten und seine epochale unheilsgeschichtliche Bedeutung nicht wahrgenommen haben. Oder anders gesagt – sie haben nicht bemerkt bzw. nicht zugeben wollen, dass durch die Shoah das Versöhnungshandeln Christi in Frage gestellt wurde. Denn kann eine Kirche, die solchen Verbrechen nicht öffentlich widersprochen hat, weiter glaubwürdig von der in Christus geschehenen Versöhnung der Welt reden!?16

Der Württembergische Pfarrer und spätere Theologieprofessor in Tübingen, Hermann Diem, schreibt in seinen Lebenserinnerungen Ja oder nein. 50 Jahre Theologie in Kirche und Staat (Stuttgart 1974) über die Judenfrage: „Unbegreiflich ist das Schweigen der Kirche in der Judenfrage. Man kann die ganze Hilflosigkeit der Kirche nur von daher erklären, daß sie das Dasein der Juden nicht mehr theologisch als Glaubensfrage verstand und sich deshalb vom Nationalsozialismus ihre Behandlung als Rassenfrage aufdrängen ließ. Damit war ihr Widerstand schnell gebrochen und sie mußte sich auf die Rolle des ‚barmherzigen Samariters‘ zurückziehen, die nicht sehr effektiv sein konnte.“ (129) Hermann Diem berichtet in seinen Erinnerungen, wie sehr „bei jedem Eintreten für die Juden die Frage der Legalität vielen unter uns zu schaffen machte, das heißt, ob es uns als Christen erlaubt sei, gegen die staatlichen Gesetze zu verstoßen (…) Um den untergetauchten Juden zu helfen, mußten Lebensmittelkarten gedruckt, Pässe gefälscht werden usw. Aber auch solche unter uns, die jedes persönliche Opfer und Risiko zu übernehmen bereit waren, scheuten vor diesem aktiven Schritt in die Illegalität zurück.“ (131) Eine Auswirkung von Röm 13 und der lutherischen Zweireichelehre. Diem berichtet, wie in einer von dem reformierten Pfarrer Kurt Müller organisierten Aktion aus Berlin geflüchtete Juden als „Bombenflüchtlinge“ im Sommer 1943 getarnt in sein Haus kamen, so die Frau eines jüdischen Kantors mit zwei Kindern. In Absprache mit dem Bürgermeister sollten sie polizeilich angemeldet und die Kinder zur Schule geschickt werden. Doch dann erhielt Diem aus Stuttgart die Nachricht, dass die Gestapo aufgrund eines Briefes aus Berlin seinen Gästen auf der Spur sei. Diem wusste nicht, wohin er die Familie so schnell bringen sollte. So wurde die Mutter verhaftet. Am nächsten Morgen mussten er und seine Frau die weinenden Kinder zum Bahnhof bringen, wo die Mutter in Begleitung eines Polizisten auf sie wartete, der sie nach Stuttgart transportierte. „Ich konnte nichts mehr tun, als sie mit dem aaronitischen Segen zu verabschieden – demselben Segen, den ich jeden Sonntag über meine Gemeinde sprach und doch niemandem von ihr zumuten konnte, die Flüchtlinge zu verstecken. Auf das Verstecken jüdischer Flüchtlinge stand die Todesstrafe. Die Spuren der Familie konnte ich hinterher nur noch auf dem Weg nach Auschwitz verfolgen. Es hat mich lange beschwert, daß ich die Polizei bei ihrem – angeblichen Glauben ließ, daß ich nicht gewußt hätte, daß die Frau eine Jüdin war. Doch was war, hinterher gesehen, ‚richtig‘?“ (132) Eine bewegende und ehrliche Geschichte, die zeigt, dass Hilfe für die verfolgten Juden möglich und doch sehr schwierig und gefährlich war.

Denn was geschah nach dem Krieg? Trotz ihres Versagens haben die Kirchen nach dem Krieg sich schnell reorganisiert. Doch was als kirchliche Organisation wiederauflebte, war, zugespitzt formuliert, nur noch Hülle ohne den Inhalt, dass nämlich der Gott Israels in dem Juden Jesus aus Nazareth Mensch geworden ist, um durch dessen Leiden die Welt mit sich zu versöhnen. Auf den Punkt gebracht: Wo die Kirche es hinnimmt, dass das Volk Gottes, aus dem der Erlöser stammt, umgebracht wird, hat sie ihre Existenzberechtigung verwirkt. Oder vorsichtiger gesagt: Ist ihre Versöhnungsbotschaft nicht mehr glaubwürdig. Sie kann als Organisation weiterbestehen, predigen, taufen, Gottesdienste halten, Abendmahl feiern, Nächstenliebe üben, kann sich staatskirchenrechtlich absichern mit staatlichem Kirchensteuereinzug, Staatsleistungen aufgrund der §§ 137 ff. der Weimarer Verfassung, Beamtenstatus der Pastoren, Sendezeiten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, dem grundgesetzlichen Recht auf Religionsunterricht – das Versagen in der „Judenfrage“ hat ihr eigentlich die Grundlage entzogen.

 

„Mit dem letzten Juden (verschwindet) auch das Christentum aus Deutschland“, dieser Satz von Elisabeth Schmitz sollte in den Kirchen endlich in seiner prophetischen Bedeutung, als negatives heilsgeschichtliches Datum, ernst genommen werden. Dann kann auch der kirchliche Neuanfang, den es trotz des Versagens gegeben hat, dankbar gewürdigt werden. Theologisch wird der Neuanfang mit der Gnade Gottes und seinem Verzeihen erklärt. Weltlich gesprochen ist er auf das Verhalten der westlichen Alliierten zurückzuführen, die der BRD die Chance gaben, in den Kreis der zivilisierten Völker zurückzukehren und einen demokratischen Rechts-und Sozialstaat mit staatskirchenrechtlich privilegierten Kirchen zu errichten.

Was hätte in den Kirchen anders gemacht werden können? Bonhoeffer hat aus dem Versagen der Kirche angesichts der Judenverfolgung radikale ekklesiologische Konsequenzen gezogen, und zwar in dem „Entwurf einer Arbeit“ aus dem Jahr 194417: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist. Um einen Anfang zu machen, muss sie alles Eigentum den Notleidenden schenken, die Pfarrer müssen von freiwilligen Gaben der Gemeinde leben, evtl. einen weltlichen Beruf ausüben.“ Und dann ganz wichtig: „Sie muß an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muß den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt, ‚für andere da zu sein‘“.18 Bonhoeffer hat aus dem Versagen der Kirche angesichts des Unrechtsregimes des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung Konsequenzen gezogen und eine neue arme und solidarische Kirche gewollt, nicht die Wiederherstellung des kirchlichen Zustands vor 1933.

Wir wissen, dass die Entwicklung anders gelaufen ist. Bonhoeffer wurde am 9. April 1945 ermordet und konnte bei der Neuausrichtung der Kirche nach der Befreiung vom Faschismus nicht mehr mitwirken. Die Vertreter der Bekennenden Kirche, die dann in den wiederhergestellten Landeskirchen oft an wichtiger Stelle saßen wie Martin Niemöller als Kirchenpräsident der hessisch-nassauischen Kirche, mussten sich zum einen mit den konservativen Kräften der sog. intakten lutherischen Kirchen arrangieren, um so die kirchliche Einheit zu bewahren. Zum anderen dachten sie ekklesiologisch nicht so basisgemeindlich wie Bonhoeffer. Sie kannten ja dieses Konzept Bonhoeffers auch nicht. Es wurde erst 1951 veröffentlicht und entfaltete dann erst langsam seine Wirkung, da war die Rekonstruktion der alten Kirchenstrukturen schon abgeschlossen.

Gab es in der Kirche eine Einsicht in die Größe und Schwere des eigenen Versagens? Sicher – der Rat der EKD hat in dem Stuttgarter Schuldbekenntnis von Oktober 1945, in Anwesenheit von Vertretern der Ökumene, seine Schuld und sein Versagen im Nationalsozialismus einbekannt. Einleitend heißt es, und damit wird eine Reaktion formuliert, die dann für spätere Stellungnahmen der EKD prägend werden sollte: „Wir wissen uns mit unserem Volk nicht nur in einer Gemeinschaft der Leiden, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit großem Schmerz sagen wir: durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus. Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat, aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“

Doch dieses Schuldbekenntnis geht über die tiefer reichenden Konsequenzen des Versagens zügig hinweg und verschweigt das ungeheure Verbrechen der von der Kirche hingenommenen Judenvernichtung und anderer Untaten. Es geht relativ schnell zur Tagesordnung der Neuordnung der Kirchen über. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis erreicht nicht die Qualität jenes radikalen, nichts beschönigenden Schuldbekenntnisses, das Bonhoeffer in seiner Ethik von der Kirche forderte: „Die Kirche bekennt, schuldig geworden zu sein an den Unzähligen, deren Leben durch Verleumdung, Denunziation und Ehrabschneidung vernichtet worden ist.“19

Beschämend ist auch, dass sich die Kirchen nach dem Stuttgarter Schuldbekenntnis schnell gegen die Siegermächte und ihre Entnazifizierungspolitik aussprachen. Es entstand das von ihnen mitgeprägte Narrativ von der Sieger- und Rachejustiz. Im Februar 1948 rief Kirchenpräsident Martin Niemöller sogar zum Boykott der Spruchkammerverfahren auf und wies die hessisch-nassauischen Pfarrer an, nur noch als Entlastungszeugen daran teilzunehmen. Die tatsächlichen Zahlen der in Entnazifizierungsverfahren Bestraften widerlegen jedoch eindeutig die Propaganda von der Rachejustiz. Von etwa einer Million Verfahren in der US-Besatzungszone wurden gerade mal 1 586 (0,2 %) Überprüfte als Hauptschuldige und 22 122 (2,3 %) als NS-Aktivisten eingestuft. Der Historiker Clemens Vollhans kommt in seiner Veröffentlichung der Dokumente 1989 zu dem Schluss: „Der Fürsprache für die Täter im engeren und weiteren Sinne stand in den ersten Nachkriegsjahren kein einziges Wort der Kirchen gegenüber, das sich für die Wiedereingliederung und materielle Entschädigung des Millionenheeres der NS-Opfer einsetzte.“ Es ist bekannt, dass katholische Stellen die Emigration, besser Flucht von NS-Verbrechern nach Südamerika unterstützten. Auch die evangelische Kirche setzte sich für mutmaßliche Massenmörder und Kriegsverbrecher ein. Über viele Jahre arbeiteten offizielle Vertreter der Kirchen und unverbesserliche Nazis in der sog. „Stillen Hilfe“ zusammen. Der in der Nazizeit für sein Eintreten gegen die Euthanasie von Behinderten hervorgetretene württembergische Landesbischof Wurm saß im Vorstand der Organisation, zusammen mit dem ehemaligen Obersturmbannführer Heinrich Malz, Adjutant von Ernst Kaltenbrunner, dem Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und Vorgesetzter von Adolf Eichmann. Nach außen vertreten wurde die Stille Hilfe von Prinzessin Helene Elisabeth von Isenburg, die sich der Hilfe für Naziverbrecher widmete. Sie bezeichnete sich gern als „Mutter der Landsberger“, also der im Gefängnis Landsberg inhaftierten Kriegsverbrecher. Eine Denkschrift des Rates der EKD hatte 1950 die Verfahren gegen Kriegsverbrecher zum Thema, denen angeblich Unrecht angetan wurde. Sie erschien nur in englischer Sprache und wurde im Februar 1950 geheim dem Hohen Kommissar der USA, John McCloy, übergeben. Die Übersetzung hatte die IG Farben finanziert, ein Unternehmen, das bekanntlich an der Vernichtung der europäischen Juden im KZ Auschwitz unmittelbar beteiligt war. Erst Recherchen des Journalisten Ernst Klee haben 1991 diese skandalösen Fakten ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Klee wurde dafür heftig gerade von Kirchenvertreten attackiert. Die württembergische Kirche erklärte allen Ernstes: „Was Wurm damals getan hat, das tut heute Amnesty International, nämlich Mund der Stummen zu sein und gegen Unrecht anzugehen.“ Schon 1949 wollte der Hannoversche Landesbischof Hans Lilje einen Schlussstrich ziehen. Er sagte in einer Rundfunkansprache: „Der Augenblick ist gekommen, mit der Liquidation unserer Vergangenheit zu einem wirklichen Abschluß zu kommen (…) Wir haben von Gott eine Frist bekommen für die Klärung unserer Vergangenheit. Nach menschlichem Urteil ist diese Frist vorbei.“