Karl der Große: Missionar und Werkzeug Gottes

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„Die Frauen sollen durchaus in eine Reihe von Aufgaben des landwirtschaftlichen Betriebs eingespannt werden“, forderte der König, „aber ich will nicht, dass sie männliche Arbeit leisten müssen, denn Gott verabscheut alles, was gegen die Natur ist“, machte der König gleich wieder Einschränkungen. „Wohl aber gehören Vieh- und Geflügelzucht zu ihren Aufgaben, dazu zählen auch das Melken der Kühe, Schafe und Ziegen sowie die Schafschur. Die Frau soll aber auch, neben ihrer täglichen Arbeit im Haus und auf dem Hof besonders in der Hochsaison helfen, die alle bäuerlichen Arbeitskräfte beansprucht, so beim Säen und vor allem bei der Ernte. Ich lasse auch gelten, dass die Frauen beim Pflügen als Ochsentreiber helfen oder gar den Weinberg bearbeiten.

Karl verlangte weiterhin von den Amtleuten seiner Güter, dass zum männlichen Gesinde nahezu alle Berufsgruppen vom Grobschmied bis zum Seifensieder zu zählen hätten. „Jeder Amtmann soll in seinem Bezirk tüchtige Handwerker zur Hand haben“, diktierte er seinen Schreibern in die Feder.

Karl legte für seine Krongüter die Anwesenheit verschiedener Handwerker fest. Er suchte für die zahlreichen unterschiedlichen Arbeitsgänge in seinen Grundherrschaften Leute einzusetzen, die sich auf bestimmte Tätigkeiten spezialisiert hatten. Nicht nur für seine Krongüter, sondern auch für die großen Güter der Klöster, Bistümer und Grafschaften strebte er diese Entwicklung an. Nach seinen Vorstellungen sollten in abgeschlossenen Bereichen einer Grundherrschaft die verschiedenen Handwerker zusammenarbeiten. Solche Bezirke nennt man vici; sie waren die Vorstufe der Handwerkerviertel mittelalterlicher Städte. Von ganz besonderer Bedeutung für den Frankenkönig waren die Waffenschmiede, die hochwertige und langlebige Waffen aus dem kostbaren, da knappen Eisen herstellten.

„Handwerk und Handel sind überaus bedeutsam für die Ernährungssicherheit und das Wohlergehen der Menschen in unserem Reich“, hatte der Frankenkönig immer wieder betont.

Im Besonderen hatte er sich dann mit der Bilanzierungspflicht eines jeden Amtmanns seiner Güter auseinandergesetzt. Karl forderte von seinen Buchhaltern getrennte Rechnungsbücher für Ein- und Ausgaben zu führen und den jährlichen Überschuss in einer externen Gesamtabrechnung darzulegen.

„Ich erwarte von meinen Verwaltern, dass sie als Ausfluss einer Grundherrschaft die wirtschaftlichen Rechte auf Dienste und Abgaben der Hörigen, die einen beträchtlichen Teil der Einkünfte eines Kronguts ausmachen, präzise benennen können“, diktierte der König und fuhr dann fort: „Ich erwarte von den Verwaltern meiner Krongüter, dass sie alljährlich über den Gesamtertrag eines Kronguts zu berichten wissen. Dabei will ich erneut über die grundsätzliche Bedeutung der Viehzucht aufmerksam machen. In den jährlichen Berichten meiner Verwalter müssen die differenzierten Begriffe für die Tiere einer Gattung deutlich werden. Mich interessiert beispielsweise bei der Schweinezucht zu erfahren, über wie viel saugende Ferkel, Mastferkel, Läufer, Mutterschweine und Leitsauen, Borgschweine und Eber ein Gut verfügt“, verlangte der König.

„Das Gleiche gilt für die Pferde, die zahlenmäßig in Hengste, Stuten und in ein-, zwei- oder dreijährige Hengstfohlen oder Stutenfohlen zu trennen sind. Und ich will, dass man bei der Züchtung unserer Lasttiere zwischen Maultier und Maulesel eine saubere Trennung vornimmt“, stellte der König gleich eine weitere Forderung hinten an.

„Bei den Rindern will ich Kenntnis davon erlangen, wie viel Ochsen, Kühe, Kälber, Jung- und Alttiere ein Krongut besitzt. Ein Verwalter muss in seinem Jahresbericht darüber hinaus erläutern können, wie viel die Ochsen, die im Dienst eines Rinderhirten stehen, eingebracht haben. Er muss darlegen können, was der einzelne Hufbauer als Pflug- und Fuhrdienst zu leisten hat. Ich will jährlich etwas über den Schweinezins, die angefallenen Buß- und Friedensgelder erfahren“, forderte der König. „Und es muss von meinen Verwaltern säuberlich aufgelistet werden, was jeder Hörige eines Kronguts an Abgaben in Naturalien zu erbringen hat“, schob König Karl noch nach und beobachtete, wie die Schreiber das Gesagte protokollierten.

„Auch wenn es manchem von euch kleinkariert vorkommt, will ich wissen, was der hörige Bauer für die Inanspruchnahme herrschaftlicher Einrichtungen zum Beispiel für die Schweinemast, das Holzfällen im herrschaftlichen Wald, die Nutzung der Mühle oder des Backhauses, ja selbst für den herrschaftlichen Eber, der eine Sau bespringt, an Gebühren und Abgaben zu leisten hat.“

Dann waren von Karl noch Regeln für die Vereinheitlichung von Hohlmaßen, den Scheffel, den Sester, das Seidel und den Korb erlassen worden. Zu Verwaltungsvorschriften kamen hygienische Regeln für die Zubereitung von Speck, Rauchfleisch, Sülze, Pökelfleisch, Wein, Essig, Würzwein, Most, Senf, Käse, Butter, Malz, Malzbier, Met, Honig, Wachs und Mehl, welches in Karls Anweisung gipfelte: „Und niemand solle sich unterstehen, die Trauben etwa mit den Füßen zu keltern.“

Besondere Erwähnung fanden die Pferde, auf die schon Karls Vater Pippin und sein Großvater, der legendäre Karl Martell, die ungeheure militärische Schlagkraft der Franken aufgebaut hatten. Weil die Pferde auch für Karls Elitetruppen unersetzlich waren, stellte er in seinem Capitular de villis klare Forderungen an seine Krongüter: „Die Zuchthengste sind so zu bewegen, dass sie nicht unbrauchbar werden, die Stuten gut zu pflegen, die Hengstfohlen rechtzeitig abzusondern und am Sankt-Martins-Fest, dem 11. November, zur Begutachtung vorzuführen.“ Immer wieder drängte er auf eine noch bessere und nützlichere Bepflanzung der Gärten mit Obst, Gemüse und Heilpflanzen.

„Du bist wahrscheinlich der erste König der Geschichte, der sich für Beifuß, Liebstöckel und Gartenminze interessiert“, sagte Wirund lachend.

„Du weißt warum“, entgegnete der König. „Aber es stimmt, ich will schon lange, dass in meinen Pfalzen und Krongütern ein Garten angelegt wird, in dem die wichtigsten fünf Dutzend Kräuter und dazu Blumen, Beerensträucher und gute Obstsorten gedeihen.“

Dem König war auch sehr daran gelegen, dass möglichst viele seiner Untertanen Kenntnis über die hilfreichen Arzneien aus Blüten, Blättern, Wurzeln und Samen hatten, die auf einem fünfundsiebzig Seiten Kalbspergament von den Mönchsärzten im Skriptorium des Reichsklosters Lorsch niedergeschrieben waren. Das Capitular de villis zählte allein 74 Gattungen Blumen, Küchenkräuter und Gemüse auf, von der Lilie bis zum Salbei, über die Artischocke und das Katzenkraut, die in den Gärten der Güter gezogen werden sollten. Es legte die Anzahl der Hühner fest und der Eier, die gelegt werden mussten, gleichzeitig aber auch, woraus das Bettzeug des königlichen Schlafgemachs zu bestehen hatte. Es waren Maximalforderungen, die er im Capitular de villis aufzeichnen ließ.

Kein Zweifel aber, dass das Gemeinwesen, wie Karl es in Teilbereichen mit blühenden Gärten, mit wohlbestellten Äckern und Weinbergen, mit vollen Fischteichen und großem Wildbestand der Forste zu formulieren suchte, sein heimliches Utopia, sein heimlicher Garten Eden war.

Wirund und die Reichenauer Mönche aber ließen den König bei der Formulierung solch häufig utopischer Wunschbilder gewähren und schmunzelten dann heimlich, wenn König Karl allen Ernstes seinen Bauern Anweisung gab, Donnerkraut, eine Wolfsmilchart zu züchten, die bekanntlich den Blitz abwehre. Und doch war Karls anno 787 fertiggestelltes Capitular erst der Anfang von noch viel größeren Umwälzungen, Sehnsüchten und Reformen, die er, zwar noch sehr unausgegoren, aber in seinem Kopf schon mit sich herumtrug.

Alkuin kam zwei Tage nach dem Ersten Advent mit dem Kleriker und Moselfranken Wigbod, einigen Schreibern und etwa einem Dutzend berittener Soldaten in Ingelheim an. Sie kamen von einer Synode in England zurück, die im letzten Jahr am Hofe König Offas von Mercien im Beisein einer päpstlichen Gesandtschaft stattgefunden hatte. Alkuin hatte die Gelegenheit genutzt, seiner angelsächsischen Heimatstadt York einen Besuch abzustatten. Als Ergebnis dieses Besuchs führte er viele Schriftstücke und Bücher in schweren, mit Eisenleisten beschlagenen Kisten mit sich.

Alkuin und seine Begleiter hatten mit ihrem Schiff an der schmalsten Stelle zwischen dem Festland und dem angelsächsischen Königreich, nämlich zwischen Calais und den Kreidefelsen von Dover, übergesetzt, waren an der Küste entlang bis zur friesischen Handelsmetropole Dorestad gesegelt, um dann mit ihrem Schiff von der Rheinmündung über Nimwegen, Kloster Werth auf der Rheininsel, Köln und Koblenz das Rheinufer bei Ingelheim zu erreichen.

König Karl und Alkuin hatten sich nunmehr fast zwei Jahre nicht mehr gesehen und daher so manches zu besprechen. Karl hatte Alkuin auch nach Ingelheim eingeladen, um vornehmlich mit ihm und einigen Großen des Reichs eine Bildungsoffensive zu erörtern.

Nachdem nun Paulus Diaconus bei Karl erst vor einigen Tagen sehr eindringlich einen umfangreichen Reformbedarf, die Forderung nach einem ständigen Regierungssitz und mutig eine Änderung des fränkischen Erbrechts und die Verschriftlichung einer fränkischen Reichsverfassung angemahnt hatte, war Karl natürlich an Alkuins Bewertung über die zum Teil provokativen Ausführungen von Paulus Diaconus sehr gespannt. Daher hatten sich die Beratungsschwerpunkte geändert, es wurden Karls Fragen zur Bildungsreform einfach hintenangestellt. Mit dem Siegel strengster Verschwiegenheit versehen hatte Karl Alkuin daher zu dessen gedanklicher Vorbereitung eine Kopie dieses zwischen König Karl und Paulus Diaconus geführten Gesprächs zukommen lassen. Wenn auch Alkuin manchmal auf Karl weltfremd, ja linkisch und im Umgang mit anderen Geistesgrößen seines Hofs, als dessen Moderator er sich fühlte, etwas abgehoben wirkte, so schätzte Karl an diesem angelsächsischen Benediktinermönch und Priester doch dessen hohe Gelehrsamkeit, seine Intelligenz und umfassende Bildung, die gleichermaßen auf antiken und christlichen Wurzeln fußte. In der Kathedralgemeinschaft im angelsächsischen York erhielt Alkuin das Fundament seiner überragenden Buchgelehrsamkeit und eine intellektuelle Schulung, die ihn zum gesuchten Gesprächspartner des fränkischen Königs machte, wobei die überreiche Bibliothek von York die geistige Rüstkammer Alkuins bildete.

 

Alkuins Stärke war auch sein kindlicher, fast naiv anmutender Glaube an die Erklärbarkeit der Welt, seine Überzeugung, dass alle Dinge und Wesen im Gefüge einer gottgeschaffenen Ordnung geborgen seien. Alkuin, dieser großartige Kopf, hatte die Gabe, in Unklarheiten noch Maß und Form zu finden, im Zufälligen entdeckte er noch eine Regel und selbst im Chaos fand er noch Gesetzmäßigkeiten. Diese Gedankenwelt und Tradition war von dem großen angelsächsischen Kirchenlehrer Beda Venerabilis begründet worden. Beda hatte als Leiter der Yorker Domschule eine Kultur des Forschens, Lehrens und Interpretierens geschaffen, die von Alkuin fortgeführt wurde. Im Dunstkreis Bedas und auch seines Schülers Alkuin gab es keine unbeantwortbaren Fragen.

König Karl sah in seinem Berater Alkuin den großartigen Geist, wenn es darum ging, in seinen eigenen Unklarheiten das Maß oder die Form zu fi nden, im Zufälligen die Regel und das Gesetz im Chaos. Es war, als hätten sich zwischen den beiden Männern zwei Sichtweisen ein und dergleichen Seele gefunden. Karl, der körperlich alle Überragende, begegnete in Alkuin einem Mann, der ihm kaum bis zur Brust reichte, der jeden Satz viel feiner und bedächtiger aussprach als seine an Schmutz und Blut, Rohheiten und derbe Witze gewöhnten Kampfgefährten.

Alkuins Schwäche bestand in der Abwesenheit jeglichen schöpferischen Antriebs und der Unfähigkeit, diese Ordnung selbst infrage zu stellen. Alkuins besonderes Interesse galt der Musik, mehr noch der Himmelskunde, die Astronomie und Astrologie ungeschieden in sich vereinte. Besonders in diesem Fach war Alkuin ein gesuchter Ratgeber des fränkischen Königs, der häufig um Expertisen nachsuchte, wenn gewichtige Entscheidungen anstanden. Alkuin war ein kleiner schmalgesichtiger, sehr asketisch wirkender Mönch von siebenundfünfzig Jahren mit spärlichem Haar, der sich in seiner Kleidung in keiner Weise von anderen Mönchen am Hof abhob. Von diesem jugendlichen Greis mit Apfelbäckchen, dieser alterslosen Erscheinung, war der König so beeindruckt gewesen, dass er ihm Würden, Macht und sehr viel Geld versprach, nur um ihn an seinen Hof zu locken.

Jedermann am Hof wusste um seine Vorlieben für junge Mönche, seine offensichtlich homoerotischen Neigungen und seine fleischlichen Schwächen. Die jungen Mönche, die ihn umgaben, liebte er von Herzen. Er strich ihnen gern übers Haar oder umfasste, wie er selbst einmal schrieb, ihre Nacken mit den Fingerchen seiner Wünsche und Gelüste. Seine schwülstigen Redewendungen, die er häufig in Briefen an Freunde gebrauchte, forderten den Spott des Hofs heraus, aber jedermann in seinem Umfeld bewunderte auch das Funkeln seines großartigen Geistes. Der Kirchenlehrer aus York kam zu der anberaumten Unterredung in einer sehr schlichten Kombination aus einem Leinenhemd mit langen Ärmeln, einem Wams aus ungefärbtem Leinen und einem halblangen Rock, der bis über die Knie reichte. Die weit geschnittenen Beinkleider und halbhohen Stiefeletten verbargen nur unvollkommen seine dünnen, deutlich nach außen gebogenen Beinchen. Und noch etwas Ungewöhnliches hatte dieser Mönch, was ihn von den anderen so abhob: als einziger Mann am Hof trug Alkuin kein Fleischmesser mit Hirschhornoder Eisengriff an seinem weichen, breiten Ledergürtel, sondern eine Reihe von Schlaufen für eine ganze Sammlung von Schreibbleistücken, Federkielen und Spitzmessern, dazu Parfümphiolen, Salzfässchen und einen Tiegel für die lila Augensalbe irischer Mönche. Er genoss in Karls Beraterrunde wegen seines universellen Wissens einen schon legendären Ruf. Wegen seines häufig besserwisserischen Gehabes wurde er jedoch von vielen nicht gerade geliebt. Er maßte sich an, bisweilen sehr harte Urteile über die literarischen Erzeugnisse von Kollegen zu fällen.

Alkuin hasste es, wenn beim Austragen theologischer Kontroversen eher rhetorische als dialektische Fähigkeiten im Vordergrund standen. In allen Sachverhalten, die das fränkische Staatswesen betrafen, vor allem in theologischen Belangen, waren seine Argumentationslinien, seine politischen Analysen von hohem Sachverstand geprägt. Zwischen dem fränkischen König und Alkuin bildete sich eine gegenseitig befruchtende Konstellation, in der das politische, sehr visionär denkende Genie Karls, das weder schreiben und nur ein wenig lesen konnte, in Alkuin den Gehilfen fand, der mit Wissen, Geist, Intuition und Organisationstalent bei der Verwirklichung der wegweisenden Regierungsaufgaben unersetzlich war.

In den folgenden Tagen ritt Karl nicht mehr aus. Die beiden ungleichen Männer hockten Stunde für Stunde zusammen in Karls Arbeitszimmer. Karl hatte seinem Diener befohlen, dass niemand sie stören sollte, nicht einmal die Feuerknechte durften Holz im Kamin nachlegen, das bewerkstelligten die beiden selbst. Karl und Alkuin achteten nicht einmal auf Mahlzeiten, sie bedienten sich lediglich hin und wieder aus einem Krug mit Honig gesüßtem Rheinwein, um ihre Stimmen zu befeuchten oder sie nahmen sich, wenn sie Hunger verspürten, mit kaltem Geflügelbraten oder Käse belegte Weizenbrote.

Zunächst hatte Alkuin dem König von seiner Reise nach England an den Hof König Offas berichtet, wo er mit seinem Begleiter Wigbod an einer Synode teilgenommen hatte, die auch von einer päpstlichen Gesandtschaft besucht wurde.

„Welche Lehren darf der fränkische König aus deinem Besuch dieser englischen Synode entnehmen, Alkuin?“, fragte Karl seinen langjährigen Berater und eröffnete ein lang anhaltendes Gespräch.

„Ja, kommen wir ohne Umschweife zur Sache, mein König“, verspürte auch Alkuin keine Lust, sich mit Nebensächlichkeiten aufzuhalten. „Zunächst muss ich dir sagen, dass ich die Reise in vollen Zügen genossen habe. Zu sehen, wie mürrische Amtsleute und hochfahrende Grafen sich in demütig schwänzelnde Hundeseelen verwandelten, wenn ich mich als dein persönlicher Bote auswies, war schon beeindruckend“, grinste Alkuin. „Wie sie mir das Beste aus Küche und Keller vorsetzten und ihr schnellstes Pferd zur Weiterreise anboten, wie sie mich blinzelnd und gesichterschneidend baten, ja nicht ihre Namen zu vergessen und diese bei schicklicher Gelegenheit dir, dem Frankenkönig, als deine treuen und willfährigen Gefolgsleute zu benennen und möglichst zu loben.“

„Ja, so sind nun mal die Menschen“, lachte Karl, „für den Gunstbeweis des Königs und ein wenig eigenen Machtzuwachs verkaufen sie Vater und Mutter.“

„Ich habe bei König Offa, der englischen Geistlichkeit, aber auch bei den päpstlichen Gesandten, die an der Synode teilnahmen, den Eindruck gewonnen, dass sie uns auf dem Weg nach einer Vereinheitlichung des christlichen Glaubens wohl weitgehendst folgen werden“, begann Alkuin seine Einschätzung von der Reise nach England vorzutragen. „Mit den angelsächsischen Astronomen vermelde ich darüber hinaus die erfreuliche Nachricht, dass der Planet Mars seit dem vergangenen Juli nirgendwo am Firmament gesichtet wurde.“

„Dann dürfen wir also endlich friedlichen Zeiten entgegensehen“, meinte der König erfreut.

Für den König hatte Gott die Sterne als Wegweiser der Menschen ans Firmament gesetzt und einigen Auserwählten wie Alkuin Begabung und Mittel verliehen, ihre Bahnen zu deuten. „Auch zwei christliche Kleinkönige der Insel Irland mit Namen Lancelot und Bedwin habe ich dort kennengelernt“, fuhr Alkuin fort, „und ich glaube, dass beide dir sehr gewogen sind.“

„Das ist erfreulich zu hören, aber die Namen dieser irischen Könige habe ich noch nie gehört!“

„Ja, das ist schade, aber wir sollten Kontakt zu diesen Königreichen aufnehmen“, erwiderte Alkuin, „denn ich erinnere an den segensreichen Einfluss der irischen Kirche und ihrer Missionare auf dem Kontinent, auf das Klosterleben und was die Bildung allgemein betrifft. Erinnert sei an den heiligen Kilian, Bischof von Würzburg, und seine Gefährten als Vorläufer der angelsächsischen Verkündung auf dem Festland.“

„Gut, Alkuin, dann stelle eine Gesandtschaft zusammen, damit wir diese Herrn besser kennenlernen“, ordnete Karl gleich an. „Schließlich wollen wir auch weiterhin, dass irische Dichter, Philosophen und Gelehrte ihr Können auf das Festland mitbringen und sich vielleicht gar meinem Hof anschließen“, gab Karl dann noch zu bedenken.

Alkuin grinste. „Offa beäugt weiterhin sehr misstrauisch deinen engen Verbund mit Papst Hadrian und deine Rolle als weltliches Oberhaupt des Christentums. Darüber hinaus meine ich bei König Offa erkannt zu haben, dass er einem Bündnis zur Abwehr der Normannen sehr aufgeschlossen gegenübersteht“, schilderte Alkuin seine Eindrücke.

„Wahrlich interessante Erkenntnisse, die deine Reise nach England dann ja wohl gerechtfertigt haben“, erwiderte Karl augenzwinkernd.

„Das denke ich schon, denn ich habe auch noch einen Vertrag mit König Offa von Mercien ausgehandelt“, sagte Alkuin und grinste dabei.

„Einen Vertrag? Ich verstehe kein Wort“, entgegnete der König und sah dabei gar nicht glücklich aus.

„Nichts hat Bestand!“, traf Alkuin eine richtige, wenn auch nicht sonderlich neue Feststellung.

„Ja, Alkuin, da hast du sicherlich recht“, antwortete Karl eher beiläufig und rieb sich vor dem lodernden Kaminfeuer die Hände.

„Ich bin dafür, dass es ab und an Veränderungen geben muss“, meinte Alkuin philosophisch.

Karl kannte den kleinen, oft weltfremd wirkenden Gelehrten nur zu gut.

„Na, was bewegt sich jetzt wieder in deinem klugen Kopf?“

„Ich habe meine Anwesenheit bei König Offa auch genutzt, um aus einem Nachteil einen Vorteil zu machen und alle vertraglichen Dinge auf diesem Pergament entsprechend niederzulegen“, strahlte Alkuin über beide Backen und legte ein Pergament auf den Tisch.

„Mit einem Vertrag? Ich verstehe noch immer kein Wort.“

„Es ist der Versuch, die von dir aus verletzter Eitelkeit vor einigen Jahren verhängte Kontinentalsperre unserer Häfen für Schiffe aus Britannien aufzuheben.“

„Wieso verletzter Eitelkeit?“, fragte Karl zurück. „War es nicht an der Zeit, König Offa in seiner Anmaßung und Überheblichkeit einmal in die Schranken zu weisen? Schließlich wollte er nicht nur für eine seiner Töchter meinen ältesten Sohn Karl als Gemahl, sondern auch gleich noch meine Tochter Berta als Frau für seinen missratenen Sohn Eginfried“, hatte Karl den Vorwurf von Alkuin sehr wohl verstanden. „Die Anmaßung dieses britischen Schafskönigs ärgert mich immer noch“, erregte sich der König. „Was denkt sich Offa eigentlich? Berta ist gerade erst neun Jahre alt. Ich will doch keinen Kindertausch! Ich müsste Berta das Zehnfache von dem mitgeben, was er als Mitgift für seine Tochter aufzuwenden hätte! Außerdem heiraten meine Töchter noch nicht … jetzt noch nicht!“

„Na ja, Karl, aber rechtfertigt das eine Handelssperre mit Britannien? Denn du solltest wissen, die Kontinentalsperre nützt letztlich niemand.“

„Ja, ich weiß“, brummte Karl.

„Mit dem von mir mit König Offa ausgehandelten Vertrag würden die Händler und Kaufleute auf beiden Seiten des Kanals Rechtschutz und Gerichtsstand beim jeweiligen König erfahren, das wäre in meinen Augen ein völlig neuer Weg der Zusammenarbeit unserer christlichen Völker.“ forderte Alkuin ein neues Denken.

Irgendwie gefiel es dem König nicht, wenn andere über seinen Kopf hinweg Entscheidungen trafen, für die er selbst einstehen musste. Andererseits hatte er keine Lust, sich mit Alkuin zu streiten.

„Nun komm schon“, drängte er Alkuin. „Was hast du ausgehandelt?“

„Ich?“, fragte Alkuin erschrocken. „Nein, nein, du verstehst mich falsch! Der Vertrag ist bisher nur ein Stück Pergament. Du musst ihn gegenzeichnen, damit er Rechtskraft erhält und dann mit ein paar schönen Geschenken an den Hof König Offas schicken.“

„Ach nein“, lachte Karl. „Und was wünscht der Brite für Geschenke von mir?“

Alkuin hob die Hände. „Ich weiß nicht, ein Schwert vielleicht, einen Gürtel mit Edelsteinen dazu und ein, zwei seidene Mäntel.“

„Und was bekomme ich?“

„Wie ich schon sagte, den königlich garantierten Schutz für alle fränkischen Händler und Kaufleute in Britannien.“

„Lohnt sich das für uns?“, fragte Karl.

„Denk nur daran, was die irischen Mönche und Missionare mit dem Schutz der Merowingerkönige im Frankenreich erreichen konnten.“

 

„Also gut“, sagte Karl, „der Vertrag soll gesiegelt werden. Ich unterschreibe ihn.“

Karl wandte sich um, ging zum Kamin und warf einige Holzscheite in die Flammen. Längst hatte er die vielfältige Macht des geschriebenen Wortes erkannt.

„Ich bedaure, dass ich mit König Offa noch nie zusammengetroffen bin. Es heißt, Offa soll ein stattlicher Mann sein“, fuhr der König fort. „Gerüchte über ihn besagen aber auch, dass Offa die Männer mehr als die Frauen liebt, und es sei ihm gleichgültig, wer von seinen Untertanen davon weiß“, sagte Karl mit ein wenig Spott in der Stimme.

„Davon habe ich an seinem Hof nichts bemerkt, und außerdem ist es nicht meine Aufgabe zu prüfen, mit wem Offa gerade ins Bett geht“, entgegnete Alkuin gereizt. „Wer außer ganz niederträchtig Gesonnenen würde es wagen, offen gegen einen tapferen und großzügigen König zu sprechen, der sich um die Einheit der sieben angelsächsischen Königreiche so verdient gemacht hat?“, stellte Alkuin eine Frage, die von König Karl unbeantwortet blieb.

„Deinem Wunsche entsprechend habe ich mich mit den Ausführungen des verehrten Paulus Diaconus auseinandergesetzt“, eröffnete Alkuin nun die eigentliche Thematik eines langen Vieraugengesprächs.

„Ich darf vorweg festhalten, mein König, dass ich beeindruckt bin von seinen Analysen und seinen daraus resultierenden Folgerungen, seine an dich den fränkischen König gerichteten Forderungen, Empfehlungen, wie immer du sie nennen magst. Wenn du erlaubst, König Karl, werde ich die Forderungen von Paulus in nachfolgende Teilbereiche aufgliedern: zunächst in seine Forderung nach einem zentralen Regierungssitz und dann seine Forderung nach Veränderungen, also Reformen in diversen Teilbereichen eines neu zu gründenden Gemeinwesens.

Darüber hinaus fordert Paulus die Integration eines loyalen Adels in die zukünftigen Machtstrukturen ein. Er strebt eine Veränderung des fränkischen Erbrechts an, einen Staatsvertrag zwischen Thron und Altar möchte Paulus schließen und letztlich eine Verschriftlichung allerlei Regelwerks in Form einer fränkischen Reichsverfassung sind weitere Forderungen an dich auf dem Weg zu einer neuen Staatsidee. Zu seinen außenpolitischen Denkansätzen und Bewertungen werde ich mich vielleicht auch noch auslassen. Das sind zusammengefasst seine wesentlichen und sicherlich gut gemeinten Wunschvorstellungen an dich, mein König, in denen sich zwangsläufig eine Menge an Unwägbarkeiten und Zündstoff verbirgt. Aber damit erzähle ich dir sicherlich nichts Neues“, fügte Alkuin noch hinzu.

„Bedenke, Alkuin“, entgegnete darauf der König, „dass die Ausführungen des Paulus Diaconus auch getragen sind von der Sorge um die dauerhafte Einheit des unter meinen Vorfahren und mir entstandenen fränkischen und christlichen Großreichs. Auch wenn in der Tat die Tragweite von Paulus Diaconus Denkansätzen in ihren Dimensionen kaum ab- und einzuschätzen sind, so ist seine Forderung nach Erneuerung der politischen Führung und Erlangung einer dauerhaften Reichseinheit im Wesentlichen richtig.“

„Das sehe ich ähnlich, mein König, mit Paulus’ Forderung, das Fränkische Reich benötige einen ständigen Regierungssitz schnell anfreunden und es ist in der Tat zweitrangig, welche deiner zentralen Königspfalzen du zu deiner Regierungs- und Verwaltungsmetropole ausbaust. Wie auch Paulus kann ich den Standorten Worms und Ingelheim wegen ihrer zentralen Lage Positives abgewinnen, aber auch den Königspfalzen in Burgund, in Besancon, Vienne, selbst in Arles kann man einen gewissen Charme nicht absprechen.“

„Du nennst nicht zufällig die letzten drei Orte, weil dort die Erzbischöfe zu sagen haben?“, ließ sich Karl vernehmen und grinste dabei.

„Was denkst du von mir, Karl“, antwortete Alkuin entrüstet. „Ich dachte wirklich nur an schöne, zentrale Gegenden, an Platz für Reichstage und an ein Umland, das deinen Hofstaat auch übers Jahr ernähren kann.“

„Wenn das so ist, könnte ja auch Aquisgranum Hauptstadt des Frankenreichs werden“, fiel Karl Alkuin ins Wort. „Es sprechen aus meiner Sicht auch gute Gründe für Aquisgranum. Zunächst ist Aquisgranum eine Königspfalz im Kerngebiet von jeher großem Landbesitz der Karolinger, sie ist umgeben von reichen Jagdrevieren in der Eifel und in den Ardennen, und dann verfügt sie noch über die wärmsten Bäder meines Reichs, deren Vorzüge meine gichtgeplagten Knochen und Gelenke übrigens zu schätzen wissen.“

„Ja, warum eigentlich nicht Aquisgranum“, sagte Alkuin ganz wertfrei, nahm genießerisch einen Schluck Wein und ließ den Vorschlag Karls gewissermaßen auf seiner Zunge zergehen.

„Und noch etwas spricht für Aquisgranum, mein verehrter Alkuin“, fuhr Karl jetzt in schon fast feierlichem Ton fort: „Ich hatte während meines letzten Romzugs vor einem Jahr ein traumatisches Erlebnis, in dem mir himmlische Mächte auftrugen, Aquisgranum zu meiner Residenz zu machen. Die neue Regierungsstätte soll daher mehr sein als ein Ort für weltliche Zwecke; sie soll vielmehr ein Abbild des himmlischen Jerusalems werden, frommer als Byzanz und mächtiger als Rom. Ich werde hier neben einer würdevollen Königspfalz ein prächtiges Gotteshaus zu Ehren Gottes und der Heiligen Jungfrau Maria bauen, in welchem auch der Mantel und die Kapuze des heiligen Martin von Tours, die Hauptreliquien der fränkischen Könige, aufbewahren werden sollen. Als Vorbild für dieses Gotteshaus sollen das Heilige Grab von Jerusalem, das Chrysotriklinos von Konstantinopel und die Kirche des heiligen Vitale von Ravenna dienen.

An keiner Stelle will ich das vergängliche Holz verwenden, denn Gott ist ewig, und ewig soll auch sein Tempel dauern. Daher soll dieses Haus Gottes ganz aus Stein, Marmor und Bronze erbaut werden“, geriet der König ins Schwärmen.

„Gottes Wort braucht einen festen Boden, daher sollen im Reich der Franken nur noch Steinkirchen erbaut werden, zumindest in den größeren Orten“, schwächte Karl seine Utopie auch sofort wieder ein wenig ab. „Wenn ich den Traum richtig deute, werde ich hier in einem noch zu erbauenden Tempel zu Ehren Gottes am Tag des Jüngsten Gerichts meine ganz persönliche Begegnungsstätte mit Gott haben.“

Als er diesen letzten Satz aussprach, stierte Karl wie geistesabwesend vor sich hin und es herrschte eine Weile absolute Stille zwischen den beiden Männern, bevor Karl mit ernster Miene zu Alkuin aufschaute: „Du allein, Alkuin, sollst der einzige Mensch neben mir sein, der von diesem Traumgesicht jemals erfahren soll. Außerdem bitte ich dich über die Wahl meines zukünftigen Regierungsstandortes noch eine ganze Weile Stillschweigen zu bewahren, denn ich will im Vorfeld keine unnötigen Rivalitäten schüren“, fuhr Karl in seinen Worten jetzt schon wieder viel gefasster fort.

Auch Alkuin war anzusehen, dass er von der Aussage seines Königs tief beeindruckt war und er es als eine persönliche Ehrerweisung ansah, dass Karl ihm allein dieses Geheimnis anvertraute.

„Nachdem du dich mir gegenüber nunmehr für den Standort deiner Residenz festgelegt hast, will ich in diesem Zusammenhang die Forderung von Paulus Diaconus nach einer Regierungsmetropole bestärken“, bezog Alkuin in diesem Punkt klare Front.

„Statt auf dem Rücken eines Pferdes jedes Jahr an der Spitze eines fränkischen Heeres in den Krieg zu ziehen, wünsche auch ich mir den fränkischen König zukünftig an seinem Regierungssitz im Kreis seiner Berater, seiner Grafen und sonstigen Amtsträger als dem eigentlichen Strategen, Organisator, Antreiber, ja auch Reformer eines besseren fränkischen Gemeinwesens.