Karl der Große: Missionar und Werkzeug Gottes

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Das Reich ist längst zu groß, um es vom Pferd aus zu regieren“, sagte Alkuin. „Du kannst nicht überall zugleich sein, und es ist besser, wenn jedermann im Land weiß, welches die erste Stadt seines Oberhaupts ist. Mein König, du hast in der Tat Wichtigeres zu tun, als jedes Jahr Sachsen oder slawische Völker zu bekriegen, das können genauso gut deine besonnenen Heerführer besorgen.

Es wird aber unumgänglich sein, dass der Übergang vom rastlosen Feldherrn zum mehr oder weniger kontinuierlich in einer noch großräumig zu erbauenden Regierungsmetropole residierenden fränkischen König in einem längeren Entwicklungsprozess sich nur sehr langsam wird gestalten können. Bis dahin bewege ich mich also ganz im Einklang mit den Forderungen von Paulus Diaconus“, stellte Alkuin fest.

„Wo ich mich in meiner Beurteilung bei dem umfangreichen Aufbau einer Residenz schwer tue, will ich dir sagen und dich gleichzeitig dazu auch befragen. Hat das Fränkische Reich die wirtschaftliche Kraft und die technischen Fähigkeiten, ein zweites Rom mit mehreren Hunderten von Regierungs-, Verwaltungs- und Wohngebäuden mit sakralen Gebäulichkeiten und vielen anderen öffentlichen Institutionen zu erstellen? Gelingt es dir, die Grafschaften, die Klöster und Bistümer für ein solches großes Werk zu begeistern und zu enormen materiellen Hilfen zu gewinnen? Und kannst du gewährleisten, dass die vielen Handwerker und Helfer, die über Jahre hierfür nötig sind, eine ausreichende Versorgung nicht nur mit Baumaterialien, sondern auch mit Nahrungsmitteln erfahren werden? Bedeutet eine Hungersnot, wie wir sie leider schon mehrfach erlebt haben, nicht das Aus für ein solches großes Vorhaben? Du siehst, ich stelle noch viele unbeantwortete, auch unbequeme Fragen an dich, wenngleich auch ich den Bau einer Regierungsmetropole für ein so großes Reich wie das deinige für unbedingt notwendig erachte. Das kritische Hinterfragen solch angedachter Umwälzungen kommt mir in den Ausführungen des Paulus Diaconus ein wenig zu kurz, ohne dass ich dafür als ein Querulant oder Pessimist gescholten werden will.“

„Nun gut“, ging König Karl nunmehr seinen Berater Alkuin vielleicht ein wenig zu forsch an, „man kann selbstverständlich alles infrage stellen, nur sollte man sich nicht schon vor jedem mutigen Schritt die Hosen voll machen.“

Alkuin rümpfte verlegen die Nase, als Karl fortfuhr: „Bedenke, Alkuin, was andere Völker für große Bauleistungen erbracht haben, schau auf die Pyramiden der Pharaonen, den Turmbau zu Babel, auf die langen und hohen Mauern zur Abwehr der Mongolen im fernen Chagan, auf die großartigen Bauwerke der Griechen und auf das gewaltige Kolosseum der Römer. Schau auf Abdarrahmans Hauptstadt Cordoba, wo zurzeit La Mezquita mit einem Wald von achthundertsechzig Säulen und farbenprächtigen Hufeisenbögen als das größte Bethaus der westlichen Welt aus dem Boden gestampft wird. Warum trauen wir uns nicht zu, wie der Kalif Harun al-Raschid auch eine Märchenstadt wie Bagdad zu erbauen, die mit ihren Lustschlössern, Palästen, brunnendurchrauschten Innenhöfen und marmornen Badehäusern Macht und Glanz versprüht. Schau auf das größte Gotteshaus der Christenheit, die Kirche zur Heiligen Weisheit, die Hagia Sophia in Konstantinopel. Mit über zehntausend Arbeitern haben die Architekten Anthemios und Isodorus in knapp zehn Jahren dieses Wunderwerk aus Ziegel, Sandstein und Marmor erbaut. Es gibt daher überhaupt keinen Grund für uns in Kleinmut zu verfallen“, sagte Karl mit leicht erregter Stimme und verklärtem Blick.

„Sehr erfreulich finde ich deinen Optimismus“, gab Alkuin schon ein wenig beleidigt zurück, „unterstellen wir also einmal, es gelingt in unserem zukünftigen Regierungsstandort ein so umfangreiches Bauprogramm in einer angemessenen Zeit auf die Beine zu stellen. Dann gilt es als notwendig, auch Verantwortungsbereiche, Ministerien, wie sie Paulus Diaconus nennt, zu schaffen, die Verwaltungsgebäude also mit Leben zu erfüllen. Ich will damit sagen, eine Verschriftlichung muss zunehmend Eingang in eine solche Verwaltungs- und Regierungsbürokratie finden. Es bedarf unzähliger Menschen, die des Lesens und Schreibens kundig sind, um solche neuen politischen Strukturen aufzubauen und den angestrebten Veränderungen im Fränkischen Reich gerecht zu werden. Wenn ich mich recht erinnere, hat Paulus Diaconus vierzehn Verantwortungsbereiche angegeben. Beispielhaft hat er mit dem Verkehrswesen, dem Handwerk, dem Handel, der Landwirtschaft, dem Münz-, Gerichts- und Schulwesen einige solcher Schwerpunkte genannt. Aber selbst das ist noch viel zu kurz gedacht. Eine Regierungszentrale als die eigentliche Leitstelle bedarf zur Umsetzung ihrer Anweisungen, Gesetze und Kapitularien in den Außenbereichen des Reichs, den Provinzen, Präfekturen, Grafschaften, wie immer man sie nennen mag, ebenfalls der Exekutivgewalt mit all den hierfür notwendigen Gebäulichkeiten und wiederum einer schriftkundigen, geschulten Besetzung. Mit solchen, von Paulus vorgetragenen Vorstellungen begeben wir uns sehr schnell und fast zwangsläufig in die Nachbarschaft des Utopischen.“

„Nun hau mal nicht so auf die Pferde, Alkuin“, gab Karl unwirsch zurück, „schließlich haben Paulus und auch ich solche Schwachstellen ebenfalls erkannt.“

„Nun gut, trotzdem habe ich den Eindruck, dass Paulus seine Erkenntnisse aus der oströmischen Staatsverfassung nur allzu gern auf das Fränkische Reich übertragen möchte“, redete Alkuin ungerührt weiter und zuckte dabei fast unmerklich mit den Schultern.

„Seine gewonnenen Erkenntnisse sind bedauerlicherweise aber nicht übertragbar, da unser Bildungsniveau ungleich bescheidener ausgelegt ist als jenes in Konstantinopel. Während die oströmischen Kaiser in marmornen Säulengängen und brunnengekühlten Innenhöfen mit Dichtern und Denkern philosophische Gespräche führen, mühst du dich, mein König, im einzigen Steinhaus deiner Königspfalz Veränderungen in Staat und Kirche anzustoßen und eine bescheidene fränkische Kultur auf den Weg zu bringen. Hier ein gewachsenes Oströmisches Reich mit einem ausgebauten Straßen- und Kommunikationsnetz, einer organisierten Verwaltung, mit Krankenhäusern, Altersheimen, mit einer prachtvollen Residenz. Im Frankenreich hingegen ein ambulanter König, der mit seinem Hofstaat von einer Pfalz zur anderen mit klobigen Ochsenkarren über steinige Wege rumpelt, keine Beamten besitzt und immer wieder Hungersnöte bekämpfen muss“, konnte Alkuin dem König krasser die Unterschiede der beiden Großreiche nicht aufzeigen.

„Ich will dir daher, mein König, noch einmal in Erinnerung rufen, dass du und auch deine Vorgänger ihre Befehle, Erlasse und Kapitularien überwiegend mündlich verkündeten, womit sie rechtswirksam wurden. Vor allem die jährlichen Reichsversammlungen geben dem fränkischen König Gelegenheit zu solchen Verkündungen. Bis eine Bildungsreform greift, ich denke hier an den Zeitrahmen von zwei, eher drei Generationen, müssen auch mündliche Verkündungen daher zwingend und weiterhin Bestand haben. Der Stellenwert solcher Reichsversammlungen muss für jeden Verantwortungsträger des Reichs wachsen und das persönliche Erscheinen zu einer uneingeschränkten Pflicht jedes vom fränkischen König geladenen Amtsträgers werden.“

„Alkuin, offensichtlich bist du bis hierhin weitgehendst einverstanden mit den Darlegungen des Paulus“, machte der König hier eine erste Bewertung von Alkuins bisherigen Ausführungen.

„So ist es, Karl, aber aufgrund mangelnder Bildung unserer Völkerschaften teile ich bei der Umsetzung der sicherlich notwendigen Veränderungen nicht so sehr den Optimismus des Paulus Diaconus. Auch bei dem Versuch, das alte Brauchtum und Recht durch eine Vielzahl von lateinischen Verordnungen zu vereinheitlichen und überschaubar zu machen, habe ich starke Bedenken, weil ja selbst große Teile unseres Klerus solche Erlasse weder entziffern noch verstehen können. Es mangelt deinem Reich schlicht und ergreifend an Bildung, deshalb können auch die bestens gemeinten schriftlichen Erlasse bei deinen Untertanen nicht ankommen. Deine Wegweisung in kleinen überschaubaren Schritten ist gefragt, unüberlegte Luftblasen hingegen gefährden deine Herrschaft.“

Alkuin schwieg eine Weile, blickte lange auf seine auf Pergament gemachten Notizen, sammelte offensichtlich neue Gedanken und fuhr dann den Blick auf König Karl gerichtet fort: „Mein König, ich kann und will nicht Lehrmeister auf allen Gebieten sein, sondern mich auf das beschränken, was mir als meine Sache erscheint. Paulus Diaconus hat eine Reihe von Neuerungen und Reformen, wie du sie nennst, in vielen Bereichen unseres Lebens angeregt, besser sage ich angemahnt. Und es besteht für mich kein Zweifel, dass diese zum Großteil sinnvollen Anregungen bei dir, mein König, auf fruchtbaren Boden gefallen sind. Ist es nicht so, Karl?“, sprach Alkuin den König sehr persönlich an.

„Ja, so ist es in der Tat“, antwortete der fränkische König darauf ungeniert.

„Paulus Diaconus hat meines Erachtens das Fundament, auf dem all diese Neuerungen oder sagen wir, all die Reformen errichtet werden sollen, nicht ausreichend beschrieben“, erwiderte darauf Alkuin. „Vergiss nicht, mein König, auch für ein neu zu bildendes Staatswesen kann nur die Bibel und das Wort unserer Kirchenväter ein festes Fundament sein. Ich will daher noch einmal in Erinnerung rufen, dass auch wir beide immer angestrebt haben, aus dem Fränkischen Reich ein Imperium Christianum zu machen.“

„Das strebt auch Paulus Diaconus an“, antwortete Karl und fügte gereizt hinzu: „Aber das Reich der Franken vereint mit den christlichen Reichen Asturiens, der Angelsachsen und Ostrom als ein auf einem gemeinsamen Fundament stehender Gottestaat, wie es sich die Päpste in Rom wünschen, wird wohl ein schöner Traum bleiben.“

„Ja, das ist wohl richtig, trotzdem müssen wir noch viel kritischer hinterfragen, was mit diesem von uns gewollten Gottesstaat vereinbar ist und was nicht“, meinte Alkuin in seiner manchmal eigenwilligen und spitzfindigen Art.

 

„Alkuin, ich weiß, es ist ein Spagat und eine gewaltige Herausforderung, die für den dauerhaften Erhalt und die Einheit unseres Staatswesens notwendigen Reformen auf einem solch festen Fundament zu errichten“, antwortete Karl und presste die Lippen zusammen. Er stand auf und ging nachdenklich zu einem der Fenster und schaute geistesabwesend hinunter zum Innenhof, wo einige der Küchenmägde sich am Brunnen zu schaffen machten. „Auch der römische Philosoph Seneca ermuntert mich zum Handeln mit seinem Satz: Non quia diffi cilia sunt non audemus, sed quia non audemus diffi cilia sunt“, sagte der König sehr bedächtig.

„Nicht weil es schwer ist, wagen wir’s nicht, sondern es ist schwer, weil wir’s nicht wagen“, übersetzte Alkuin, der ein bedeutender Lateiner war. „Seneca lehrt uns auch, methodisch zu denken, mein König“, ergänzte Alkuin.

Nach einer Weile, als König Karl wieder seinen Platz einnahm, fuhr Alkuin fort: „Auch ich erkenne eine Anzahl von Defiziten, die sich in allen Dingen, die Sache des Staates sind, seit dem Untergang des Weströmischen Reichs anno 476 aufgetan haben. Wenn wir das Fränkische Reich auf starke Füße stellen wollen, dürfen wir aber nicht in den Fehler verfallen, eine Restauration der Machtstrukturen des Imperium Romanum vorzunehmen. Dieses Imperium Romanum war von gewaltiger Größe, aber gerade in seiner Expansion lag auch der Keim des Verfalls. Für mich und sicherlich viele deiner geistlichen Berater aber darf das Fränkische Reich kein Selbstzweck sein, das seiner selbst wegen existiert und sich selbst genug ist. Unser Reich ist vielmehr vergleichbar mit einem Gefäß, in dem guter Wein zur Reife gebracht werden soll. Das Reich dient uns zum Verbreiten des wahren Glaubens, dem Errichten der einen wahren katholischen Kirche und einem Leben in der Wahrheit Jesu Christi. Und da Form und Inhalt nicht ohne Weiteres voneinander zu trennen sind, müssen wir uns immer wieder hinterfragen, ob all die angestrebten Reformen unserer Kirche und ihrem Ziel, die Menschen auf den Weg Gottes zu bringen, auch förderlich sind. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass nur ein Reich von Dauer ist und dieses Reich ist das Reich Gottes, das zu uns gekommen ist in der Gestalt des auferstandenen Menschensohns und das wiederkommen wird, wenn alle Zeiten sich erfüllt haben. Alle irdischen Reiche, auch das unsrige, können nur in begrenztem Umfang daran teilhaben. Wir kennen die Vergänglichkeit aller Reiche, auch derer, die in Gold und Silber prangten, aber dennoch auf tönernen Füßen standen. Wir kennen den Traum des Daniel, der zu Nebokadnezar, dem König der Könige ging, dem Zerstörer Jerusalems, um ihm den Untergang aller Reiche, auch der scheinbar beständigsten, anzukündigen. Am Ende aller Königreiche, so sagt es uns Daniel, der große Seher, wird ein Reich begründet, das in Ewigkeit fortdauern und nie zugrunde gerichtet werden wird. Dieses Reich verstehen wir als das Reich Jesu Christi, auf das wir uns, so lange wir auf Erden leben, vorzubereiten haben, um seiner Herrlichkeit einst teilhaftig werden zu können.“

Bei diesen letzten Worten wirkte Alkuin wie verklärt und der Gegenwart vollends entrückt. Karl hatte, den Kopf mit seinen beiden Händen stützend, seinem Berater aufmerksam zugehört. Mit einem starren, auf König Karl gerichteten Blick sprach Alkuin: „Deshalb rate ich dir, meinem König, nicht die ganze Kraft auf etwas zu setzen, das dennoch untergehen wird, sondern in Demut das irdische Reich zu begründen, das die Menschen auf den Weg des christlichen Heils führen wird. Nur das kann für uns alle der Weg sein, dem Vergänglichen zu entkommen und das ewige Heil zu erlangen.“

Alkuins theologische Weltauffassung unterstellte das menschliche Wirken mit erbarmungsloser Nüchternheit dem allerdings gottgewollten Kausalgesetz und erhob die mehrfach dem König gegenüber geäußerte Behauptung zum Leitsatz seiner Philosophie: „Jede menschliche Einrichtung gestaltet sich nur unter dem Druck der Verhältnisse, sie verliert, wenn dieser Druck aufgehört hat, jede Bedeutung, ohne dass eine solche menschliche Einrichtung jemals wieder durch künstliche Mittel zurückgewonnen werden kann. Das bedeutet also auch die Verneinung des weltlichen Staates, der nur noch im Kompromiss des Gottesstaates seine Berechtigung behalten kann. Für mich heißen die Stufen zur menschlichen Vollkommenheit zunächst Demut und Glaube, dann das höhere Verlangen nach dem himmlischen Jerusalem; daraus wiederum muss Vertrauen und Geduld erwachsen, bis schließlich das himmlische Jerusalem sich dem Verklärten öffnet“, äußerte Alkuin Gedanken, die den buddhistischen Vorstufen zum Nirwana merkwürdig verwandt erschienen.

„Sag mir, Alkuin, wie ich die Schrift des heiligen Augustinus De Civitate Dei vom Gottesstaat richtig auslegen muss“, forderte der König seinen Berater unverblümt auf.

„Nun, mein König“, holte Alkuin tief aus, „zunächst einmal ist der Weltstaat dem Gottesstaat entgegengestellt. Zweierlei Liebe hat, nach Augustinus, diese beiden Staatsformen gegründet, den Weltstaat, die bis zur Verachtung Gottes gehende Selbstliebe, den himmlischen Staat, die bis zur Selbstverachtung gehende Gottesliebe. Im Gottesstaat gibt es keine Menschenweisheit als die Frömmigkeit, die den wahren Gott in rechter Weise verehrt und als Lohn in der Gemeinschaft, nicht nur heiliger Menschen, sondern auch der Engel erhofft, dass Gott alles in allem sei. Dem Weltstaat werden seine Bürger von der durch die Sünde verdorbenen Menschennatur geboren, dem himmlischen Staat durch die Gnade, die von der Sünde erlöst.“

„Werden nach den Worten des Augustinus daher nicht die einen Gefäße des Zorns, die anderen Gefäße der Barmherzigkeit genannt?“, fragte der König.

„Ja, Karl“, wurde Alkuin zwischenzeitlich mal wieder sehr persönlich, „für Augustinus war Kain der Brudermörder, der Begründer des Weltstaats. Abel hingegen war gar kein Staatengründer, sondern nur Pilger auf dem Weg zum Gottesstaat.“ Alkuin benetzte mit einem kleinen Schluck Wein seine Lippen und fuhr dann mit unmittelbarem Blickkontakt zu König Karl fort: „Es ist eine Eigentümlichkeit des Weltstaats, dass man Gott oder Götter verehrt, um mit ihrem Beistand siegreich und in irdischem Frieden herrschen zu können aus reiner Machtgier, nicht aus fürsorglicher Liebe. Die Guten gebrauchen hingegen die Welt, um Gott zu genießen. Dagegen wollen die Bösen Gott gebrauchen, um die Welt mit all ihren Verlockungen zu genießen.Augustinus, der Prophet des Gottesstaates, ist auch ein Prophet der Liebe. Augustinus, dieser göttliche Lehrmeister hat aber auch zwei Hauptgesetze aufgestellt, das der Gottesliebe und das der Nächstenliebe, worin der Mensch den dreifachen Gegenstand seiner Liebe findet, nämlich Gott, sich selbst und den Nächsten. Wer Gott liebt, mein König, geht auch in der Selbstliebe keinen Irrweg“, schloss hier Alkuin mit besonderer Betonung zunächst seine Ausführungen.

„Alkuin“, fragte der König, „ist es nicht so, dass die Welt des Augustinus klare Strukturen hat und dass er das Apostelwort allem voranstellt?“

„Wer für die Seinigen und vor allem für die Hausgenossen nicht Sorge trägt, verleugnet den Glauben und ist schlimmer als ein Ungläubiger“, zitierte Alkuin und zeigte, welch großer Bibelkenner er war. „Daraus entspringt der Hausfriede, das heißt, die geordnete Eintracht der Hausbewohner im Befehlen und Gehorchen“, nannte Alkuin einen der Leitgedanken. „Für Augustinus war das ewige Leben das höchste Gut, der ewige Tod, ein Leben ohne Taufe und ohne Bekenntnis zu Christus das größte Übel. Augustinus gibt seinem Gottesstaat ein Herrscherideal. So fordert er von einem Herrscher mehrere Grundeigenschaften: Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Gottesliebe, Demut und Barmherzigkeit. Nur aus diesen Tugenden findet der gute Herrscher den Weg zu Gott und seiner Gnade. Für Augustinus irrt der Christ als Fremder durch die Welt, in stetem und vergeblichem Bemühen, sich dem Gottesstaat zu nähern. Nach seiner Vorstellung herrscht mitten in der Welt ein ständiges Ringen zwischen dem Gottesstaat und der Gesellschaft“, waren Alkuins Worte Belehrung und Aufforderung zugleich.

„Entschuldige, mein König, ich bin ein wenig von meinen Ausführungen abgewichen, die ja eigentlich in einer Bewertung von Paulus Diaconus’ Gedankengut münden sollten. Also die von Paulus Diaconus angeregten Veränderungen müssen nach meiner Meinung nicht zwangsläufig im Widerspruch zu einem Weg zum christlichen Heil führen.“

„Alkuin“, antwortete darauf der fränkische König, „ich kann dir gut folgen, wenn du deinem König rätst, ein gottgefälliges Leben und die ihm anvertrauten Menschen zum ewigen Heil zu führen, aber du solltest auch die vielen weltlichen Zwänge eines fränkischen Königs nicht unter den Tisch kehren.“

„Das liegt mir fern, König Karl“, antwortete darauf Alkuin, „die Kunst eines Herrschers und bedeutenden Staatsmannes besteht eben darin, dem Ganzen verpflichtet zu sein und in allen gesetzgeberischen Anordnungen, sonstigen Wegweisungen und Reformen den gesunden Kompromiss zwischen den Notwendigkeiten des Staates und den Interessen der Kirche zu suchen, aber auch zu finden. Dein Onkel Karlmann ist übrigens an der Diskrepanz zwischen seiner weltfernen Unabdingbarkeit und der notwendigen staatsmännischen Weisheit politisch gescheitert,als er seinem Bruder Pippin, deinem Vater, allein die Reichsgeschäfte überließ und sich anno 746 in ein Kloster zurückzog. Ich sehe es als meine Pflicht an, dir die Prioritäten deines herrscherlichen Handelns immer wieder mal aufzuzeigen. Jenseits aller Reformbemühungen, aller Einzelmaßnahmen musst du, König Karl, innere Politik immer in Sorge um die religio Christiana begreifen. Es ist dein Auftrag, dich um die göttliche Wahrheit zu bemühen. Einzig und allein dieser göttlichen Wahrheit in aller Demut nachzuforschen gibt dem irdischen Reich seine Daseinsberechtigung“, sprach Alkuin mit ernster Miene.

„Die Schrift des heiligen Augustinus vom Gottesstaat ist ein Fürstenspiegel“, mein König, „er benennt seine Vorstellungen von rechter Kaiser- und Königsherrschaft wie folgt: Denn wir preisen, so sagt der Kirchenvater, manche christlichen Kaiser und Könige nicht darum glücklich, weil sie länger regierten oder eines sanften Todes starben und ihren Söhnen die Herrschaft hinterließen“, las Alkuin aus einem Pergament vor. „Sondern glücklich nennen wir sie, wenn sie gerecht herrschen, wenn sie trotz aller schmeichlerisch verhimmelnden und kriecherisch unterwürfigen Reden sich nicht überheben und vergessen, dass sie Menschen sind, wenn sie ihre Macht in den Dienst seiner Majestät stellen und die Gottesverehrung ausbreiten. Wenn sie harte Erlasse durch erbarmende Milde und gütige Freigebigkeit ausgleichen. Solche christlichen Könige und Kaiser nennen wir glücklich. Als glücklichen Kaiser und Staatslenker hebt der heilige Augustinus Konstantin den Großen hervor, der von Gott besonders gesegnet sei“, schloss Alkuin fürs Erste seine Darlegungen.

Karl und Alkuin schwiegen jetzt eine Weile. Der König war kurz aufgestanden und schaute grübelnd aus dem Fenster zum Hof.

„Wie stellst du dir den Umgang des fränkischen Königs mit der staatstragenden Reichsaristokratie, den unzähligen weltlichen und geistlichen Günstlingen und Verantwortungsträgern vor?“, wechselte Karl das Thema.

„Seit Jahrhunderten haben neben den Bischöfen und Äbten auch Hunderte von Grafen und Verwalter der Fiskalgüter und Krondomänen, der königlichen Forste und der zu Lehensabgaben verpflichteten Landgüter die Machtbasis und den Rückhalt der fränkischen Hausmeier und später der fränkischen Könige gebildet. Es war und ist auch heute noch ein stetes gegenseitiges Geben und Nehmen, mein König“, holte Alkuin zu seiner Antwort aus. „Nicht Macht und Stärke allein halten das Frankenreich zusammen, sondern ein sorgsam ausgewogenes Geflecht von Vergünstigungen“, analysierte Alkuin sehr treffend.

„Im Grunde genommen hat sich das fränkische Lehenswesen bewährt, wenn starke Führungspersönlichkeiten ihm vorstanden. Aber du musst auch weiterhin unnachgiebig daran festhalten, mein König, dass ein von dir oder schon von deinem Vater Pippin vergebenes Lehen niemals einer Familie, sondern stets einem Einzelnen gegeben wurde. Auch wenn dich entrüstete Adlige aus sehr eigennützigen Interessen davon überzeugen wollen, dass das Erbrecht heilig ist, so musst du hart bleiben bei solchen Forderungen“, beantwortete Alkuin des Königs heikle Frage. „Jeder Nachfolger eines verstorbenen Lehnsmanns soll genau ein Jahr lang in Treue und Gehorsam nachweisen, dass er als Erbe würdig ist, das verliehene Land, den Wald oder die Fischteiche einer Abtei wie sein Eigen zu nutzen und den Wohlstand zu mehren“, fuhr Alkuin fort. „Mit einem solchermaßen aufgebauten und konsequent durchgeführten Lehnswesen behältst du jedenfalls die Zügel am besten und sichersten in der Hand. Es sei daran erinnert, mein König, dass bereits Pippin der Ältere, einer der Gründungsväter deiner heutigen Dynastie einmal bei einer Lehensvergabe gesagt haben soll: es sei dir dieses Lehen geschenkt, aber nur so lange, wie ich dir trauen kann.“

 

„Alles schön und gut, was du mir so erzählst Alkuin, andererseits dürfen wir nicht die Augen darüber verschließen, dass jeder Lehensträger als ein guter Familienvater bemüht ist, den ihm von seinem König zu seinen Lebzeiten übertragenen Besitz an seine Erben weiterzugeben, denen andernfalls der Abstieg ins Elend droht. Diese Erblichkeit kann aber auch dem Interesse des Königs und des Lehnsherrn dienen, wenn sich so die Treue der Nachkommen eines Vasallen sichern lässt. Es wird sich nach meiner Einschätzung dauerhaft nur schwer verhindern lassen, dass die Erblichkeit der Lehen, wenn auch gebunden an die formelle Zustimmung des Lehengebers, üblich wird“, zeigte der König auch hier politischen Weitblick.

„Gefolgschaftswesen und Freundschaftspflichten, private Übereinkünfte zwischen einfachen Leuten und Mächtigen, Vertragsabschlüsse, die Landverteilungen beinhalten, stehen erst am Anfang einer Entwicklung, die zu den Grundlagen einer gesellschaftlichen und politischen Neuordnung des Fränkischen Reichs zählen werden“, fuhr der König fort.

„Was du mir vorträgst, mein König, hätte dann aber zur Folge, dass sich die Menschen nicht mehr ausschließlich an den König, seine Regierung, also die öffentliche Gewalt, sondern zunehmend an die Grundherrn, auch von Klöstern und Bistümern, an die Grafschaften oder an Präfekturen wenden. Das Reich würde in kleinräumige Verwaltungseinheiten aufgeteilt, die auf Anordnung einer Zentralregierung den Rahmen für das Alltagsleben der Einwohner setzen. Der Schwerpunkt des politischen Lebens wäre dann nicht mehr die Residenz des Königs und seiner Regierung, sondern eben diese kleinräumigen Verwaltungseinheiten“, sagte Alkuin die Folgen eines solchen Regierungshandelns voraus. „Wenn du diese Form des Regierens und Verwaltens deines Großreichs über kleinere Verwaltungseinheiten vorsiehst, macht das sicherlich bei der Größe des Landes Sinn. Du musst aber auch wissen, mein König, dass dann dein Reich spätestens bei deinen Nachfolgern in den sogenannten Feudalismus abgleiten wird, wo die Grundherrn, besser sage ich die Feudalherrn, zunehmend nur noch ihre eigenen Machtinteressen im Auge haben und sich einen Dreck um die Einheit und das Gemeinwohl des Fränkischen Reichs scheren werden.“

„Ja, Alkuin, um solche Eigenmächtigkeiten und Auswüchse der Provinzfürsten zu verhindern, bedarf es in der Tat einer starken Zentralregierung mit einem mächtigen Herrscher an der Spitze. Allein der Blick auf die Regierung Konstantinopels zeigt uns aber, dass ein Großreich wie das Unsrige nur über eine Dezentralisierung von Regierung und Verwaltung beherrschbar ist“, zeigte der König die Widersprüchlichkeit politischen Handelns auf und ließ erkennen, dass er das politische Geschäft durchaus verstand.

Nachdem Alkuin sich aus einem Krug noch ein wenig Wein in seinen Trinkbecher nachgegossen hatte, schaute er wieder zum König auf: „Vergiss nicht, Karl, als König darfst du immer nur das befehlen und androhen, was du im Ernstfall auch gnadenlos durchsetzen willst und kannst. Es gibt für einen Herrscher keinen größeren Fehler als die leere und kraftlose Drohung. Jedes Zögern, jedes zaghafte Verharren würde dir der fränkische Adel als Schwäche und Unfähigkeit auslegen“, ermahnte Alkuin den fränkischen König und fügte hinzu: „Ein Princeps, ein König wird nicht zum Ersten unter den Großen bestimmt, weil er sanftmütig und gütig ist, sondern weil er Härte beweist, die manchmal sogar grausam erscheint. Ich will daher auch nicht leugnen, dass ich es als eine kluge machtpolitische Eingebung ansehe, wenn es dir gelänge, die wichtigen Regierungs- und Verwaltungsämter mit loyalen Gefolgsleuten deiner Wahl zu besetzen und mit ihnen die Macht zu teilen“, folgerte Alkuin mit klugem analytischem Sachverstand.

„Paulus hat dir, mein König, eine machtpolitische Vernetzung mit den großen Adelsfamilien unseres Reichs empfohlen. Auch ich teile diese Gedanken. Sollte es dir darüber hinaus auch noch gelingen, innerhalb der zukünftigen Regierungsämter und Verantwortungsbereiche ein Geflecht von gegenseitiger Kontrolle und Überprüfung als ein sich selbstreinigendes System zu schaffen, dann ist dir der ganz große Wurf gelungen“, betonte Alkuin diesen Satz sehr bedeutungsvoll.

„Aber Vorsicht, mein König, denn hier erwarten dich Fußangeln, denn du wirst zwangsläufig aus Gründen der Machtbalance einige der mächtigen Grafen zu hohen Ämtern ernennen, aber bald feststellen müssen, dass ihre Bildung und ihr notwendiges Organisationstalent für ein solches Amt nicht ausreichend sind. Also wirst du ihnen gezwungenermaßen Männer des Klerus an die Seite stellen müssen, die solchen organisatorischen Aufgaben hoffentlich weitgehendst gewachsen sind. Darüber hinaus ist es eine zwingende Notwendigkeit, dass du Verantwortung und Macht auch an Männer deines Vertrauens abgibst, die aus unterworfenen Völkerschaften wie Langobarden, Aquitanier und Sachsen hervorgegangen sind. Denn nur so können unterschiedliche Völkerschaften zu einer Einheit zusammenwachsen.“

„Wenn ich die einzelnen Landsmannschaften unter meinen Beratern sehe, habe ich ja bisher nicht viel falsch gemacht“, fühlte sich der König in diesem Punkt bestätigt.

„Das mag wohl so sein, aber es gilt, das Gesagte auch in allen anderen Verantwortungsbereichen umzusetzen“, erwiderte Alkuin. „Letztlich muss aber der fränkische König immer die Richtlinien der politischen Gestaltung des Gemein- und Staatswesens bestimmen, auch hier bin ich mit Paulus einer Meinung“, fuhr Alkuin in seinen Darlegungen fort. „Ein solcher einzuschlagender Weg gäbe sicherlich zu einer späteren Zeit auch Raum für die Ausgestaltung von Regularien, Anordnungen und Gesetzen innerhalb einer von Paulus sogenannten fränkischen Reichsverfassung. Wo ich nur vor warnen möchte, ist die Gefahr eines unvorbereiteten Aktionismus und Gigantismus bei den sicherlich notwendigen Veränderungen, der wir, wie von mir bereits ausgeführt, keinen ausreichenden Bildungsstand gegenüberstellen können.“

Alkuin räusperte sich, putzte sich mit einem Schnupftuch die Nase, dann fuhr er fort: „Bedenke, Karl, manche der Edlen und Großen deiner Völkerschaften waren schon mit deinem Vater Pippin gegen Aquitanier, Muselmanen, Friesen, Sachsen und Alemannen gezogen, andere haben erst durch dich ihren Rang und Namen erhalten. Auf ihren Schultern müssen zwangsläufig in der Zukunft mehr Verantwortung für das Regieren und Verwalten ruhen. Doch niemals, mein König, darfst du dich täuschen lassen. Respekt und Achtung vor dir und dem fränkischen Königtum sind nicht gottgegeben, sondern müssen stets neu erkämpft werden durch ein höchst anfälliges Geflecht aus Härte und Milde, aus Unversöhnlichkeit und Großmut. Immer wieder musst du hinterfragen, warum welcher Bischof, welcher Abt allen Lippenbekenntnissen zum Trotz, dich, den fränkischen König, über die heilige Kirche in Rom und auch womöglich über die ureigensten Machtgelüste stellt. Alle einzuleitenden Schritte zu Veränderungen müssen mit den Großen deiner Völkerschaften abgestimmt sein und ineinandergreifen, vor allem bedarf es einer guten und sorgfältigen gedanklichen Vorbereitung bei all den anstehenden Reformvorhaben. Wie von Paulus richtig erkannt, rächt es sich einfach, dass deine Vorfahren über Jahrhunderte fast ausschließlich ihren Schwertern vertrauten und Federkiel und Pergament ein Schattendasein erfuhren. Du musst daher zunächst einen Feldzug gegen Dummheit und Unwissenheit führen, bevor du tiefgreifende Reformen angehen kannst, eine Erkenntnis und Zwangsläufigkeit, die mir bei den Ausführungen des Paulus auch ein wenig zu kurz kommt.“