Karl der Große: Missionar und Werkzeug Gottes

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Der König nickte nach diesen Worten Alkuins mehrfach bestätigend mit dem Kopf. Für eine kurze Weile war der Raum von Stille geprägt, ehe Alkuin weitersprach: „Die Beschäftigung mit Künsten und Wissenschaften ist nicht nur erlaubt, mein König, sondern es ist Herrscherpflicht, die Untertanen dazu anzuhalten. Es ist deine Aufgabe, die Werkstatt der Wissenschaften wiederherzurichten, die durch die Nachlässigkeit deiner Vorfahren beinahe verödet ist. Unser Bemühen um eine Förderung von Bildung und Studien darf dabei kein Selbstzweck sein und schon gar nicht in einer humanistischen Bewunderung für das Altertum wurzeln, sondern in erster Linie dem besseren Verständnis der christlichen Lehre und dem sorgfältigen Vollzug des Gottesdienstes zugutekommen. Und dir, meinem König, rate ich, nicht nur ein großzügiger Gönner all solcher Bildungsanstrengungen zu sein, sondern selbst als ein Teil dieser unserer Bildungsbemühungen Empfangender und Gebender, Lernender und Lehrender zugleich zu sein. In den Verordnungen, in denen du deine zukünftigen Reformen mit religiösen, sittlichen und geistigen Inhalten ausfüllst, muss erkennbar sein, dass du das Fehlerhafte zu verbessern, das Unnütze zu beseitigen und das Richtige zu bekräftigen suchst. In der Genauigkeit, in der Bescheidung und in der Beharrlichkeit liegt deine Wegweisung, mein König, und die Größe karolingischer Politik. In der Ausfüllung zukünftiger Reformideen musst du der Antreiber, oft auch der Gönner sein“, referierte Alkuin, um dann nach einer Weile, in der er gedanklich innehielt, fortzufahren: „Die Nachwelt wird dich nicht nur als Neugründer einer Staatsidee und großen Reformer erfahren, sondern als den fränkischen Herrscher, der den Weg, den ihm seine Vorfahren gewiesen haben, zu Ende gegangen ist als ein Ordner der Welt. Sie wird in dir den Herrscher sehen, der das germanische Königtum abgelöst hat, das auf der Legitimation des Königs durch Verwandtschaft und Blut beruht. Du wirst einmal später der Begründer und Vollstrecker einer neuen Staatsidee genannt werden, in der das fränkische Königtum fortan auf dem Gottgnadentum beruht und die Legitimation der Frankenkönige sich allein aus ihrer engen Beziehung zum Christentum ergibt. Das ist alles sehr ehrenvoll für dich, und doch ist es viel wichtiger, dass du dein Seelenheil findest, als dass die Generationen nach uns dich einen Großen nennen, wie ja Paulus Diaconus prognostiziert hat.“

Auf Alkuins Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet, er hielt deshalb eine Weile inne, nahm aus einem Körbchen, das auf einer seitlich angebrachten Konsole stand, eines der angefeuchteten Leinentücher und wischte sich damit über Gesicht und Lippen. Ein angenehmer Geruch von Minze und Bärwurz entströmte dem Erfrischungstuch und erfüllte den Raum.

„Ich teile mit Paulus Diaconus die Einschätzung, dass an deinem Hof Elemente des christlichen Glaubens und antikes Bildungsgut aufeinandertreffen und letztlich verschmelzen müssen. Und auch ich will dir ein Geheimnis anvertrauen, mein König,“ fuhr Alkuin geheimnisvoll fort: „Dein Ruf, mein König, dir an den fränkischen Hof zu folgen, ist meine Bestimmung gewesen, so wie sie mir ein heiliger Mann in meiner Jugend prophezeit hat. Es ist für mich eine große Herausforderung und Verlockung zugleich, aus einem bildungspolitischen Niemandsland, einem fränkischen Barbarien, wie ich es noch nicht einmal abwertend nennen möchte, einen kulturellen Mittelpunkt aller Völkerschaften des christlichen Abendlandes zu machen. Die Grundprinzipien unserer Denkart müssen zukünftig Ordnung und Richtigkeit, aber beide überwölbend die Wahrheit sein. Alles, was richtig ist und der richtigen Ordnung entspricht muss mit der Wahrheit vereinbar sein“, forderte Alkuin. „Und das gilt im Besonderen für die Wiederherstellung des authentischen Wortlauts der Bibel, Liturgie- und Gesetzestexte, bei der Vertiefung des Wortverständnisses durch die Verbesserung des Schulunterrichts, beim Ausbau der Artes liberales, bei der Wiederherstellung der richtigen Orthografie und Bereinigung der verwilderten Schriftformen, bei der Säuberung der Kunst von jenen nicht wahren Gestalten, die im Widerspruch zur Bibel stehen. Um die Wahrheit, die letztlich im Schoße Gottes ruht, von Neuem zu pflegen, bedarf es unseres ungebrochenen Einsatzes und muss uns allen religiöse Verpflichtung und eine moralische Aufgabe von hohem Wert sein. Ich möchte, dass wir in den kommenden Jahren gemeinsam daran arbeiten, dass nicht nur Heeressiege zum Frankenlob gehören, sondern auch Schlachten, die mit Wort und Feder ausgefochten und hoffentlich auch gewonnen werden.“

Alkuin wirkte jetzt in seine Gedanken versunken, als er mit gebeugtem Kopf auf sein vor ihm liegendes Pergament schaute und weitersprach: „Und in dir, König Karl, sehe ich den charismatischen Herrscher, der das Wort Platons verwirklichen kann, wonach die Völker erst dann ihre Glückseligkeit finden, wenn die Philosophen Könige und die Könige Philosophen geworden sind.“

„Donnerwetter, für solche vagen Ziele hast du als Lehrer der Kathedralschule in York die berühmteste Bildungsstätte der Christenheit verlassen“, wunderte sich König Karl sichtlich und ließ sich seine Verwunderung in der Mimik auch deutlich anmerken.

„Ja, so ist es und ich hoffe es nicht bereuen zu müssen und habe auch die ehrliche Absicht, dass meine Arbeit auch einmal Früchte trägt“, begegnete Alkuin seinem König recht spitzfindig und doch sehr selbstbewusst.

„Deine Völkerschaften, König Karl, sprechen nicht einmal eine gemeinsame Sprache“, fuhr Alkuin fort. „Fränkisch und Gälisch, Langobardisch, Sächsisch und viele andere Sprechweisen finden wir vor und das Ganze noch einmal in vielerlei Dialekten. Wer soll denn da, mein König, noch durchblicken? Die Aquitanier würden eher Vasgonen als Rheinfranken verstehen und die Sachsen eher Friesen als Neustrier, wenn es nicht Latein und manchmal Griechisch als gemeinsame Fremdsprache gäbe. Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass das Wir-Bewusstsein im Fränkischen Reich nicht ethnisch, sondern territorial geprägt ist und dass die sprachlichen Verhältnisse in deinem Herrschaftsbereich alles andere als eine nationale Einigungskraft besitzen“, analysierte Alkuin kühl.

Er unterbrach für einen Moment seine recht vehement vorgetragenen Argumente, goss sich aus dem großen Weinkrug etwas Wein in ein kleineres Behältnis, verdünnte das Ganze mit ein wenig klarem Wasser, trank einen guten Schluck und fuhr dann in seiner Rede fort: „Unser gemeinsamer Freund Paulus Diaconus muss ein unverbesserlicher Optimist sein, wenn er von dir, dem fränkischen König, die Integration der großen Adelsfamilien in ein neu zu schaffendes fränkisches Staatswesen verlangt und gleichzeitig noch das fränkische Erbrecht geißelt und deinen Söhnen sozusagen das Recht auf deine Nachfolge verwehrt. Obwohl Paulus nach deinem Ableben, mein König, ja eigentlich nur einen ebenso starken, tüchtigen, die Einheit bewahrenden Nachfolger auf den Schild heben will, bewundere ich doch seinen Mut und seine Offenheit, dir so unverblümt unangenehme Wahrheiten ins Gesicht zu schleudern. Bei weniger toleranten Herrschern wäre er wohl wegen Hochverrats und Ketzerei in das Dunkel einer engen Klosterzelle verbannt worden.“

„Nun übertreibe mal nicht gleich, Alkuin“, fuhr ihm Karl rüde in die Parade, „was hast nicht auch du schon alles mir an unangenehmen Wahrheiten aufgetischt und doch erfreust du dich noch immer an deiner uneingeschränkten Freiheit.“

Jetzt mussten beide fast gleichzeitig lachen, bei Alkuin hörten sich solche eher seltenen Gefühlsregungen mehr wie ein recht eigenartiges Glucksen an.

„Auch hier ist Paulus’ Analyse ja vom Grundsatz folgerichtig“, sagte er jetzt fast schon wieder wohlwollend, den Blick fest auf Karl gerichtet. „Das Problem wird aber die Umsetzung solch tiefgreifender gedanklicher Ergüsse sein“, sagte Alkuin spitzfindig und nahm seine Gedanken, dabei die Lippen schürzend, wieder auf. „Werden beispielsweise die unterschiedlichen Völkerschaften in deinem Reich, die vielen Volksstämme, die Adelsfamilien, deine eigene Familie, deine erbberechtigten Söhne es klaglos hinnehmen, wenn sich eine über Generationen verfestigte Geblütsheiligkeit deiner Familie mit einem derzeit mächtigen und großen fränkischen König an der Spitze auflöst und sich möglicherweise sogar Ersatz sucht in der auserwählten, die Einheit unserer Völker bewahrenden Person eines anderen adligen Geschlechts? Wohl eher nicht“, gab sich Alkuin gleich auch die Antwort. „Wenn trotzdem jemand zum Nutzen eines besseren und gerechteren Gemeinwesens, zur Sicherung des Friedens und der Einheit ein solches Kunststück wie die Ablösung seines eigenen karolingischen Geschlechts und damit seine eigene Nachfolge bewerkstelligen kann, dann allerdings nur du, König Karl“, machte sich Alkuin jetzt selbst etwas Mut und bekräftigte: „Griechen und auch Römer haben in der Vergangenheit gezeigt, dass zeitlich begrenzte Macht durchaus zum Wohle eines Staatswesens beitragen kann. Ja selbst bei der Papstwahl versuchen die Bischöfe den vermeintlich Besten unter ihnen zu ihrem geistlichen Oberhaupt zu küren.“

„Lass solche Scherze in meiner Gegenwart, Alkuin“, antwortete der König gereizt, „du weißt wie ich zu gut, dass Bestechung und Ämterkauf den Ausschlag geben, wer die Nachfolge des Petrus antritt.“

„Nun gut, dann lass mich Paulus Diaconus beglückwünschen für seinen an dich gerichteten Satz, dem ich mich in seiner Bedeutung nur anschließen kann: Mein König Karl, hat er ja wörtlich zu dir gesagt, das fränkische Imperium Christianum ist von deiner Gestalt als Begründer dieses christlichen Staatswesens so geprägt, dass sein inneres und äußeres Schicksal ohne dich schwer abzuwägenden Gefährdungen ausgesetzt ist. Trefflicher lässt sich wahrlich deine Bedeutung, König Karl, für den Einheitsgedanken unseres christlichen Reichs nicht ausdrücken.“

 

„Hm, übertreib du mal nicht gleich“, grummelte Karl Alkuin entgegen.

„Ich muss dir gestehen, mein König, auch ich sehe ebenso wie Paulus Diaconus an einem fernen Horizont düstere Wolken heraufziehen, wenn du einmal nicht mehr bist.“

„Alkuin, mal den Teufel nicht an die Wand“, unterbrach hier Karl erneut seinen Berater.

„Daher sehe auch ich großen Änderungsbedarf zur Sicherstellung der Einheit unserer Völkerschaften. Aber wenn ich ehrlich sein darf, ich fürchte mich in der Tat vor der Umsetzung solch meist richtiger, aber doch sehr wagemutiger Gedanken. Ich will dir, mein König, noch einmal deutlich machen, wie weit wir noch von unserer Leitidee, der Christiana religio, einer von den Grundsätzen des Glaubens verpflichteten Gesellschaft entfernt sind. Korruption und Unterschlagung sind an der Tagesordnung, Rechtsverweigerung und massive Unterdrückung der Armen fast die Regel. Das Heeresaufgebot wird in Teilen des Reichs missachtet, Kleriker und Mönche leben nicht nach den Geboten, Amtsvorschriften und Regeln, sondern ahmen in ihrer Lebensführung und Besitzanhäufung das schlechte Beispiel der Laien nach“, zählte Alkuin dem König einige Problemfelder auf. „Mich schmerzt besonders, dass sich unsere Geistlichkeit, die Hirten des Christentums, unfähig erweist, ihre Herden zu hüten, das Evangelium und seine Wahrheiten den Schafen richtig und heilsam zu vermitteln.“

Alkuin nahm einen Schluck Wein, stand auf, ordnete seine Kleidung, ging einige Schritte zum Fenster und blickte eine ganze Weile gedankenverloren in den Innenhof. Dann drehte er sich um und nahm wieder seinen Platz ein. „Vergiss nicht, König Karl, auch das unter deiner Herrschaft derzeit so große und mächtige Fränkische Reich wird einmal ebenso untergehen wie das Reich der Ostgoten unter dem Ansturm der Langobarden und jenes mächtige Reich der Westgoten unter ihrem König Roderich anno 711 unter den Hufen der schnellen Araberpferde, wenn wir uns nicht auf die Kraft besinnen, die nur aus der Einigkeit unserer Völker entstehen kann. Und machen wir uns nichts vor, auch ein Scheitern solch angedachter Veränderungen in Regierung und Verwaltung kann unser Fränkisches Reich ebenso auseinanderreißen und ins Chaos führen wie das von Paulus ja nicht ganz zu Unrecht so angeprangerte fränkische Erbrecht“, formte Alkuin mit solchen Worten eine deutliche Warnung an König Karl.

„Wenn ich einmal vorab zusammenfasse, mein verehrter Alkuin, so teilst du letztlich weitgehendst die Gedanken von Paulus Diaconus, bist nur der größere Hasenfuß, weil du mir die Umsetzung der von ihm geforderten Veränderungen nicht zutraust. Ist es nicht so?“, schob Karl mit einem spöttischen Unterton noch ein wenig nach.

„Nein, ganz so ist es nicht“, erwiderte Alkuin schon sehr vehement, „ich traue dir schon eine ganze Menge zu und nicht zuletzt deine bisherige, fast zwanzigjährige Regierungszeit hat das ja sehr eindrucksvoll belegt, wozu du im Stande bist. Gleichwohl sind auch dir Fehler unterlaufen, die belegen, dass du nicht unfehlbar bist“, traute sich Alkuin durchaus, dem König auch politisches Versagen vorzuwerfen.

„Halt ein, Alkuin, ergeh dich nicht in Allgemeinheiten, sondern nenne Ross und Reiter und zeige mir meine politischen Handlungen auf, die dir so missfallen haben“, unterbrach ihn Karl, stand aus seinem Stuhl auf, um selbst einige Holzscheite im Kamin nachzulegen und die Antwort Alkuins abzuwarten.

„Wie du von mir weißt, bin ich mit deinen Zwangsmaßnahmen, mit denen du die Christianisierung und die Eingliederung der Sachsen ins Fränkische Reich bewerkstelligst, nicht einverstanden. Deine Missionstätigkeit ist nicht vom Geiste des Evangeliums getragen, das Milde, Mitleid und Erbarmen auch mit dem armen Sachsenvolk predigt, sondern von einem für die Verbreitung des Glaubens verhängnisvollen Besatzungsrecht, nämlich dem drakonischen Capitulatio de partibus Saxoniae des Jahres 782 geprägt. Was wurde mit dem damals verkündeten Sachsengesetz nicht alles mit dem Tode bestraft“, klagte Alkuin den König förmlich an. „Zauberei, das Brechen der Fastentage, unterlassener Kirchgang, Kirchenraub, Eidbruch, Brandstiftung und noch eine ganze Reihe von Vergehen, die man bei den Franken nur mit einer Geldstrafe sühnt. Dein Verdener Blutgericht im gleichen Jahr war zu sehr von Rachegedanken aus den Geschehnissen am Berg Süntel geprägt und daher in meinen Augen vollkommen unangemessen. Die Enthauptungen der Sachsen in Verden waren deine ganz persönliche sakrale Rache und eine sakrale Entmannung des Sachsenvolkes für die fränkischen Opfer in der Niederlage am Berg Süntel.“

„Das sagst du mir so einfach ins Gesicht, obwohl du weißt, wie oft die Sachsen ihre mir geleisteten Treueschwüre immer wieder gebrochen haben. Tu si hic sis, alter sentias! Ubi lex, ibi poena! An meiner Stelle würdest du anders denken! Wo ein Gesetz ist, da ist auch Strafe“, giftete der König zurück.

„Ja, ich sehe es nun einmal so“, erwiderte Alkuin unbeeindruckt, hob die Mittelfinger beider Hände und rieb sie mehrmals an der Nase, „wenn schon selbst die im katholischen Glauben erzogenen fränkischen Untergebenen schwer an der Vorschrift, den Zehnten an die Kirche zu zahlen, tragen müssen, wie schwer muss es erst den Sachsen fallen, in denen der Glaube erst gerade Wurzeln gefasst hat. Wenn das sanfte Joch Christi und seine leichte Last mit solcher Beharrlichkeit dem Sachsenvolk gepredigt würden, mit der die Leistungen des Zehnten und sonstiger strenger Bußen für die geringfügigsten Vergehen der Sachsen gefordert würden, dann gäbe es auch kein Zurückschrecken der Sachsen vor der Taufe. Es findet sich übrigens auch kein Hinweis in der Heiligen Schrift, aufgrund dessen auch die Apostel den Zehnten anerkannt hätten.“

„Das mag ja sein, Alkuin“, entgegnete der König, „aber dein Ratschlag, die zwangsweise bekehrten Sachsen solange mit dem Zehnten zu verschonen, bis sie dessen Sinn erkannt haben, verwerfe ich als unnütze Humanitätsduselei. Alkuin, du weißt so gut wie ich, dass der Priesterstand im Sachsenland für die Ethik seines Berufes noch nicht genug Verständnis aufbringt. Ohne den Zehnten, also nur aus religiösem Idealismus stünde er nicht für die unentbehrliche Mitwirkung an der Reichsverwaltung zur Verfügung. Alkuin, du musst einfach zur Kenntnis nehmen, dass der Zehnte als Kirchensteuer eine wesentlich größere weltliche Bedeutung bekommen hat. Der Zehnte ist nicht eine religiöse, sondern eine politische Notwendigkeit“, bekräftigte Karl. „Die Krone verfügt nicht über die Mittel, die kirchliche Organisation, vor allem die Mission im Sachsenland, zu bezahlen. Wenn auch die meisten der Klöster und Bistümer im Missionsgebiet sich dank ihres inzwischen angesammelten Besitzes bereits selbst erhalten können, so liegt der Schwerpunkt der kirchlichen Verwaltung doch weiterhin beim kleinen Priester und Missionar. Auch ist eine Aufhebung der Gesetze über den Zehnten im Sachsenland staatsrechtlich unmöglich. Wo der altgewohnte Christ im Reichsgebiet diese Last des Zehnten tragen muss, wie kann man sie dann dem Unterworfenen im Sachsenland schenken? Wenn ich mich also einer solchen Intervention verschließen muss, so will ich doch versprechen, dass ich mich um eine ordnungsgemäße Eintreibung und gerechte Verwendung dieser Steuermittel einsetzen will. Die Königsboten werden von mir in Zukunft angehalten, als Kontrollinstanz darauf zu achten, dass die bei den Bischöfen eingehenden Kirchensteuern gerecht verteilt werden. Ein Viertel darf der Bischof vereinnahmen, ein Viertel dient als Gehalt für die Dorfpriester, eines dient zur Instandsetzung der Kirchen und ein letztes Viertel geht an die Armen“, erläuterte der König.

„Karl, ich bleib dabei, dein Versuch, die besiegten Sachsen gewaltsam und sofort taufen zu lassen, ist gescheitert. Die Taufe der Sachsen, wie von dir gewünscht in Büchern und Urkunden festzuhalten, ist nicht durchführbar, da ihre Namen zu ähnlich sind. Um eine erste Ordnung in deine sächsischen Eroberungen zu bringen, müssten zunächst alle Hufe aufgezeichnet, die Menschen gezählt, Stammtafeln und die Verwandtschaftsgrade festgehalten werden. Blinde und wilde Taufen bringen nach meiner Meinung überhaupt nichts.“

„Warum nicht?“, fragte Karl. „Wenn ein Sachse Christ geworden ist, kann er es doch sagen.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, seufzte Alkuin. „Glaubst du denn wirklich, dass die Taufe einen wilden Germanen mit einem stark verwurzelten heidnischen Götterglauben so schnell zu einem Christen macht?“

„Getauft ist getauft!“, sagte der Frankenkönig ohne eine Spur von Nachsicht, „und wer nicht weiß, was das bedeutet, muss eben brennen und zur Hölle fahren.“

Alkuin nahm erneut einen Schluck verdünnten Weins zu sich und wischte sich mit einem Tuch, das er aus einem Ärmel seines Gewands zog, den Mund ab. Er ordnete seine Gedanken und fuhr mit Blickkontakt zu König Karl fort: „Karl ich denke, du solltest mehr Milde walten lassen. Fünfzehn Jahre schlägst du dich bereits mit den Sachsen, ohne ernsthaft nachzudenken, ob es nicht bessere Möglichkeiten der Befriedung gibt. Die Franken siegen und siegen und trotzdem ist immer noch kein Ende der Kampfhandlungen abzusehen. Was haben wir letztlich nach Strömen von Blut erreicht? Jeder Sieg über einen ostfälischen oder westfälischen Haufen erwies sich als Schlag ins Wasser. Jede Spur, die du im Sachsenland zu hinterlassen glaubtest, war verwischt, wenn du ein nächstes Mal zurückkamst. Der Grund, auf dem du dich im Sachsenland bewegst, gleicht einem trügerischen Sumpfboden und die Missionsarbeit, die wir dort leisten, gleicht der des Sisyphus“, machte Alkuin dem König doch erhebliche Vorbehalte. „Vielleicht sollten wir nach dem Beispiel der altirischen Mönche und Missionare versuchen, die christliche Idee aus den indogermanischen Mythologien zu entwickeln, die ebenso wie das Evangelium von einem einzigen Urvater-Gott berichten und selbst Wotan als einen solchen Urvater-Gott preisen. Noch ist bei den Sachsen die Tradition nicht erloschen, die gebietet, den Beherrscher des Alls, dem alles unterworfen ist, zu verehren. Jedenfalls ist dem religiösen Empfinden der sächsischen Menschen damit besser gedient. Wir müssen die Sachsen zu Freunden machen und nicht zu unversöhnlichen Feinden. Die Sachsen sind schließlich kein Volk wie die Slawen oder die Griechen, sie sind Nachbarn und Brüder. Wir müssen mit ihnen in Frieden leben können. Wir müssen es einfach“, wiederholte sich Alkuin und stöhnte dabei ein wenig. „Ja, den Wunsch habe ich sicherlich auch, mein verehrter Alkuin, und ich spüre sogar, dass es Gottes Wille ist“, entgegnete Karl schon wieder versöhnlicher darauf. Aber er hatte sich in diesen sächsischen Gegner immer mehr verbissen, sein Wille, ihn zu erledigen, nahm schon manische Züge an.

„Trotz meiner scharfen Zurückweisung deiner bei der Christianisierung Sachsens angewandten, oft blutigen Zwangsmethoden zweifele ich, mein König, jedoch nicht an deiner göttlichen Sendung als Führer, der uns zum Licht des wahren Glaubens führen soll“, sagte Alkuin und schaute dem König dabei fest in die Augen. „Und zu deiner Ehrenrettung muss gesagt werden“, fügte er hinzu, dass auch der heilige Augustinus viele der Ungläubigen mit Gewalt zu Katholiken gemacht hat. Als er merkte, dass seine Versuche, die Ungläubigen in Güte – also durch das Wort – zu bekehren, wenig fruchteten, überzeugte er sie mit Krieg. Die Rechtfertigung für dieses im Grunde höchst unchristliche Verhalten leitete der Kirchenvater direkt aus der Bibel ab. Er bezog sich auf das Lukas-Evangelium 14: 23, das da heißt: Cogite intrare oder Nötigt sie hereinzukommen.“

„Na ja, Alkuin, das ist ja erfreulich zu hören“, erwiderte Karl darauf mit erkennbarem Sarkasmus.

„Das Christentum verbietet nicht, Krieg zu führen, solange der Krieg ein gerechter ist“, rechtfertigte Alkuin die königliche Gewaltanwendung. „Da jeder Krieg den Frieden zum Ziel hat, und da Frieden eine göttliche Gnade ist, kann jeder Krieg gerecht genannt werden. Schon der Apostel Paulus sprach: Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne Gott; wo aber die Obrigkeit ist, so ist sie von Gott verordnet. So gebet nun jedermann, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt“, fügte Alkuin gleich das passende Apostelwort hinzu.

„Als du das Langobardenreich des Desiderius anno 774 unterworfen hast, erfolgte sehr schnell eine politische Angleichung der Langobarden und der Franken unter dem Dach deiner Herrschaft, mein König“, fuhr Alkuin in seinen Belehrungen fort.

„Die erfolgreiche Behauptung des eroberten Langobardenreichs wäre sicherlich nicht möglich gewesen, wenn du dich allein auf Zwang und Gewalt gestützt hättest. Karl, du hast zahlreiche Franken und Alemannen nach dem Süden verpflanzt und selbst mit Bischöfen und Äbten aus dem Norden hast du starke Querverbindungen zwischen den beiden Reichen geschaffen, die als zusätzliche Klammer wirken. Du hast also das Langobardenreich nicht besiegt, um es zu unterjochen, sondern um es als sein bildungsempfänglicher König zu neuem Glanz emporzuführen.

 

Suaviter in modo, fortiter in re – maßvoll in der Art und Weise, aber standfest in der Sache, diesen Spruch des römischen Philosophen Seneca solltest auch du, mein König, dir zu eigen machen“, empfahl Alkuin.

„Diesen Anspruch kann kein Machtpolitiker, und schon gar nicht der König eines fränkischen Großreichs mit so vielen unterschiedlichen Völkerschaften immer erfüllen“, gab Karl zur Antwort.

„Aber dass ein Herrscher überall dort, wo Barmherzigkeit möglich ist, diese der Macht vorzieht, ist das Wesentliche“, ließ Alkuin nicht locker. „Wir alle leben ja im Unvollkommenen, im Kompromiss, mein König“, schlug Alkuin wieder versöhnliche Töne an. „Auch wenn die Verhältnisse im Sachsenland ein wenig anders geartet sind, müssen wir auch hier die Symbiose zwischen den Sachsen und den anderen Völkerschaften des Reichs anstreben“, beschwor Alkuin den fränkischen König jetzt regelrecht. „Selbst bei Alexander ist die Erkenntnis gewachsen, dass sein erobertes Reich nicht von den Makedonen allein bewahrt werden konnte, sondern nur zusammen mit seinen Feinden, den vielen Völkerschaften des persischen Großreichs. Eine solche Zusammenarbeit würde nur wirksam werden, wenn seine Landsleute, die Makedonen und Griechen ihren reaktionären und dünkelhaften Nationalismus ablegten und die besiegten Völker nicht länger als Barbaren ansehen würden. Deshalb strebte er koinonia und homonoia, die Partnerschaft und Eintracht der Völker an und förderte eine gemischte Einwohnerschaft seiner neu gegründeten Städte, gemischte Heeresverbände und selbst Mischehen. Zu Alexanders charakteristischen Zügen gehörte religiöse Toleranz und er fühlte sich als ein von Gott gesandter Weltenversöhner, der Verschmelzung, Versöhnung und Verbrüderung zu seinem politischen Programm entwickelte“, zeigte Alkuin dem König, dass neben dem Eroberer auch immer der visionäre Staatsmann gefragt war.

„Schön, Alkuin, dass nun auch du mir, wie schon Paulus Diaconus, die Staatskunst des Alexander so anschaulich vor Augen führst, wenngleich er bei Gott nicht in allen Belangen zum Vorbild taugt“, erklärte sich darauf der König mit viel Ironie in seiner Stimme und Gestik. „Ich schätze an dir, dass du auch versöhnliche Töne anschlagen kannst, wenn wir mal wieder unterschiedlicher Auffassung sind und du deine Giftpfeile auf mich verschossen hast“, grinste der König.

„Jedenfalls hätte ich meine Aufgabe als dein Berater verfehlt, wenn ich dir, meinem König, nur nach dem Mund reden würde“, gab Alkuin nicht klein bei. „Um dieser Aufgabe als dein Berater gerecht zu werden, darf mich niemand daran hindern, dich, meinen König, auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, wenn du Gefahr läufst, dich zu verrennen oder in einen Aktionismus gigantischen Ausmaßes zu verlieben, dann zu verzetteln und letztlich zu zerreiben. Ohne Zweifel hast du in den letzten Jahren als Frankenkönig neue Konturen hinzugewonnen. Ich will aber nicht, dass du von deinem Umfeld zu jenem allumfassenden Popanz ausstaffiert und aufgebläht wirst, dem alles materielle Substrat abgeht und der schließlich jede Bodenhaftung verliert“, sagte Alkuin schon ein wenig mit geschwellter Brust und sich seiner Bedeutung als Karls langjähriger Berater durchaus im Klaren.

„Ich bemühe mich einfach nur um realistische Einschätzungen der angedachten, in ihren Zielen ja häufig sehr sinnvollen Reformvorstellungen, wenn du so willst, mein König, suche ich für dich immer nur Wege des Machbaren und warne dich im Vorfeld deiner politischen Entscheidungen vor allzu erkennbaren Hirngespinsten. Jedenfalls darf die innere Ordnung des Frankenreichs unter deiner Führung nicht geprägt sein durch eine allzu große Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit“, legte Alkuin nach und schaute Karl dabei schon fast anmaßend an.

„Schon gut, Alkuin, deshalb musst du dich aber nicht gleich ereifern“, bemerkte der König kühl und versuchte den Disput wieder zu versachlichen.

„Aber nun lass mich zu der eingangs angekündigten Bewertung kommen“, nahm Alkuin die Zurechtweisung ungerührt entgegen und folgerte: „Wie schon gesagt, teile ich in weiten Bereichen die Forderungen von Paulus Diaconus, nicht aber seinen unverhohlenen Optimismus bezüglich der Durchsetzung seiner an dich gestellten Maximalforderungen. Für die Umsetzung solch angedachter Veränderungen ist eine erste und darüber hinaus unabdingbare Notwendigkeit, dass die großen Adelsfamilien deines Reichs dir bei solchen zunächst aufrührerisch anmutenden Veränderungen für ein besseres Gemeinwesen folgen müssen. Richtig ist, dass nur eine Führungspersönlichkeit deines Ausmaßes eine solche weitreichende Gefolgschaft des Adels erreichen kann. Und weil das so ist, stellt Paulus Diaconus sich schon jetzt die berechtigte Frage, ob ein ebenso fähiger Nachfolger des fränkischen Königs das von dir Begonnene in deinem Sinne auch einmal fortführen kann. Einem schwachen Nachfolger bleibt wahrscheinlich eine solche Möglichkeit verwehrt, ein solches Unterfangen verlangt nach unbedingtem Führungsanspruch und Charisma, wie nur du es an den Tag legst. Und ich bitte dich, dies nicht als Lobhudelei zu werten, es ist nur die schlichte Wahrheit.“

„Na ja, Alkuin, da habe ich berechtigte Zweifel“, spottete Karl. „Da alles im Leben seinen Preis hat, musst du als fränkischer König den Adel für die ihm abverlangte Loyalität an der Macht beteiligen, sie dann aber gewissermaßen zu vernetzen und zu verklammern suchen. Auch hier teile ich die Denkweise von Paulus Diaconus, ohne sie ständig auf den Markt zu tragen. Du musst zunächst jeden der Großen deines Reichs in Einzelgesprächen für eine neue Staatsidee gewinnen und ihnen dann einen wichtigen Verantwortungsbereich zuordnen, sie gewissermaßen in deine Vorstellungen für ein neues Staatsgebilde einbinden. Ein gesundes Konkurrenzdenken innerhalb des Adels solltest du fördern, es kann deinen Zielen nur dienlich sein. Bei allen kritischen Darlegungen, mein König, will ich aber auch Positives anmerken“, fuhr Alkuin in einem versöhnlicheren Ton fort und grinste dabei. „Ein unter deiner unmittelbaren Schirmherrschaft sich gegenseitig kontrollierendes, sich gedanklich sicherlich auch befruchtendes Machtzentrum mit vielen unterschiedlichen Verantwortungsbereichen in einer zukünftigen Regierungsmetropole, einem vielleicht neuen Rom, wird zwangsläufig eine ungeheure politische Gestaltungskraft entfalten können.“

„Es ist schön zu wissen, Alkuin, dass du nicht nur Haare in der Suppe siehst und dir doch auch ein wenig Optimismus zu eigen ist“, fuhr Karl sein Gegenüber mal wieder etwas rauhbeinig an. „Schon gut, ich weiß, dass du mich während unserer Gespräche immer mal wieder abbürsten musst, aber damit kann ich zwischenzeitlich ganz gut leben“, gab Alkuin schnippisch zurück, um dann einen Schluck Wein zu trinken und in seinen Ausführungen fortzufahren: „Das, was du an anzustrebenden Veränderungen vorgibst, muss von allen Verantwortungsträgern mitgetragen werden und daher in einem Dokument, in Dekreten, Kapitularien von deinen mächtigsten Männern innerhalb deiner Regierung auch abgesegnet und unterzeichnet werden. Ob solche Dokumente schon als fränkische Reichsverfassung bezeichnet werden können oder erst Vorläufer davon sind, lasse ich einmal offen, es ist auch nicht so wichtig. Entscheidend wird sein, um mich eines bildlichen Vergleichs zu bedienen, ob du den Adel als Besatzung für die Ruderbänke eines von dir gesteuerten Regierungsbootes wirst gewinnen können. Es scheint mir ebenso wichtig zu sein, dass dein Nachfolger, wie immer der einmal heißen mag, sich bei seinem Machtantritt diesen Zielen in einem solchen Dokument verpflichtet fühlen muss. Die Ausgestaltung solch umfangreicher Veränderungen wird dir zu deinen Lebzeiten nämlich nicht immer gelingen, entscheidend wird vielmehr sein, ob dir die unumkehrbare und in der fränkischen Reichsverfassung dokumentierte Wegweisung für deine Völkerschaften gelingt. Ich für meinen Teil werde dich dabei mit ganzem Herzen unterstützen und so lange du mich als deinen Berater an deiner Seite duldest, werde ich dich vor unüberlegten Schritten zu schützen wissen. Auch ich vertrete also wie Paulus Diaconus die Meinung, dass du bei allen Unwägbarheiten tiefgreifende Veränderungen, aber im festen Einklang mit dem angestrebten Imperium Christianum, einleiten und nach Möglichkeit unumkehrbar machen musst“, stellte Alkuin noch einmal eindeutig fest.

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