Die unschuldige Königin

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Märgi loetuks
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Die Schule, das ist leicht. Elvira hätte locker eine Klasse überspringen können, aber das will sie nicht. Sie hätte dann erst mal richtig lernen müssen und sie hätte ihre anderen Aufgaben vernachlässigt. Naja, es sind ja nicht nur Aufgaben. Es gibt Freundschaften, und Freundschaften brauchen Zeit und Fürsorge. So ist Elvira im Unterricht manchmal etwas gelangweilt. Manchmal passt sie auch nicht so auf, aber sie braucht nur ihr Summen einzuschalten. Dann erhöht sich ihre Konzentration, sie hört und sieht mehr. Sie kann Zusammenhänge besser erfassen und sie findet dann den Anschluss schnell wieder.

Sie hat durch Lara früh gelernt, hinunter in die Berliner U-Bahn-Schächte zu steigen. Dort gibt es diese Kids, so wie Asha, die jetzt in ihren Armen liegt, und dort hat Elvira echte Freunde gefunden. Die Gruppe im Tunnel ist, wie eine zusammengeschweißte Gemeinschaft. Elvira hilft den Kids immer, wenn es irgendwie geht, und sie kann sich auf jeden einzelnen dieser U-Bahnkids voll verlassen.

Mama weiß natürlich von Elviras Kräften. Sie hatte lange mit Oma Katharina und Lara darüber gesprochen. Dann hatte sie eingewilligt, Elvira ein Stück weit „freizugeben“. So ein Talent, das muss gefördert werden, und bei Oma Katharina ist Elvira gut aufgehoben.

Obwohl Elvira erst zwölf ist, ist sie ungeheuer selbständig. Sie hat ihren eigenen Kopf und sie hat gelernt, gut zuzuhören. Elvira hat bereits das, was man eine Aura nennt, und Elvira ist überall beliebt.

Lara und Opa Leon haben sie immer und immer wieder gewarnt, ihre Kräfte nie zu missbrauchen, aber ist manchmal gar nicht so einfach. Grenzbereiche muss man erst definieren. Als Kind reizt du Grenzbereiche aus, und Elvira weiß inzwischen nur zu gut, dass sie Grenzbereiche schon oft überschritten hat. Manchmal ganz konkret, manchmal stand sie auch nur kurz davor.

Da war zum Beispiel dieser Louis. Louis war Sänger. Er war erst vierzehn, aber er hatte Gefühl und eine wunderbare Stimme, die sich durch den Stimmbruch erst richtig entwickelt hatte. Louis und seine Band waren wirklich gut, aber sie hatten noch nicht den Durchbruch, den sie eigentlich verdient hätten. Er war ein enger Freund und er war liebenswert. Elvira hatte ein paar Mal mit Lara gesprochen. „Können wir da nicht helfen?“ Sie war drauf und dran, das Publikum einzusummen, damit Louis den Erfolg bekam, den er ihrer Meinung nach verdient hätte. Schließlich hatte sie sich das verkniffen und sich an Lara gewandt.

Lara hatte Elvira lange angeschaut und dann entschieden geantwortet. „Nein, durch Einsummen solltest du das nicht tun. Elvira, das sind verbotene Mittel. Missbrauche deine Kraft nicht, um das Publikum zu beeinflussen. Du kannst versuchen Louis damit zu helfen, dass er seinen Stil ein bißchen ändert, dass er die Promotion ein wenig ändert, dass er bei Filmaufnahmen für Videoclips besonders gut rüberkommt, oder dass er seinen Kleidungsstil ein wenig verändert. Manchmal helfen solche Anregungen wie bengalische Feuer auf der Bühne, oder ein paar Tänzer, oder eine bessere Lichtorgel. Hilf ihm, an sich selbst zu arbeiten. Hilf ihm, besser zu werden und sich selbst zu erkennen, aber summe nie das Publikum ein, damit Louis groß rauskommt.“

Sie hatte Elvira durchdringlich angesehen. „Nie, Elvira. Tu das nie. Wir dürfen das tun, wenn wir die Menschen in bestimmten Situationen empfänglich für Argumente machen müssen, so dass sie schwerwiegende Fehler unterlassen. Wir dürfen das tun, etwa um einen Krieg zu vermeiden, oder um eine Massenhysterie zu verhindern, die Todesopfer nach sich ziehen würde. Wir dürfen das aber nie tun, damit wir mehr Geld verdienen oder einen persönlichen Erfolg erringen, der unserer Eitelkeit dient. Rede dich nicht damit heraus, dass du nur deinem Freund hilfst und nicht dir selbst. Das steht auf derselben Verbotsstufe. Geh in den Tunnel. Suche nach diesem seltsamen Wesen, das mit uns sprechen kann, rede mit ihm und halte dich an seine Anweisungen. Überschreite diesen Grenzbereich nie !!!“

Der “schwarze Meister”. So nennt Elvira dieses Wesen, das sie noch nie zu Gesicht bekommen hat, das aber manchmal mit ihr in ihrer Weltsprache spricht. Er schwebt da irgendwo im Metaraum zwischen dem Leben auf der Erde und dem Nichts. Wenn man „in den Tunnel“ geht, der in diese andere Welt führt, kann man nie sicher sein, ob man diesen “schwarzen Meister” auch findet. Wenn es brenzlig wird, dann ist er immer zur Stelle, aber seine Auskünfte sind manchmal sehr schwer verständlich. Wie die Weissagungen der altgriechischen Götter und Hellseherinnen, dieser Nymphen, Sirenen oder wie die hießen. Manchmal sind die Auskünfte wie Rätsel.

Mit Tunnel ist diesmal auch nicht die Berliner U-Bahn-Tunnel gemeint, sondern der Tunnel, den Elvira rufen kann, um sich durch den Raum zu bewegen. Auch wenn sie durch den Raum springt, dann ruft sie diesen Tunnel, der es ihr möglich macht, in nur wenigen Sekunden um den halben Globus zu springen.

Laras Warnung war so eindringlich gewesen, dass Elvira wirklich erschrocken war und in sich ging.

Am Tag darauf hatte sie die Ratten in den Tunneln aufgesucht. Opa Leon hatte immer gesagt, „in vielen Dingen sind die Tiere viel klüger als wir. Versuche, von den Tieren zu lernen.“ Also war Elvira in den Tunnel zu den Ratten gestiegen. Die Ratten hatten schon an Elviras Geruch gemerkt, dass sie gerufen werden. Etwa 200 Ratten hatten sich eingefunden, dort in diesem Quergang, den Elvira manchmal benutzt, um mit den Ratten zu sprechen. Ja, sie bittet die Ratten oft um ihre Hilfe. Sie fragt sie aus nach Gefahren und nach Ereignissen im Tunnel. Die Ratten wissen alles darüber. Sie kennen das riesige verzweigte Netz unter Berlin viel besser als jeder Mensch. Elvira hat sich immer wieder dafür bedankt. Sie hat Essen gebracht und sie hat auch die Ratten mit Informationen versorgt.

Nun erzählt Elvira den Ratten, was Tante Lara ihr geraten hat. Sie ist mit dem Rücken an der Wand heruntergerutscht. Sie sitzt jetzt mit angewinkelten Beinen auf dem Boden des Querganges und sie hat ihre Hände nach vorne gestreckt. Die Anführer der Ratten sind ihr auf die Hände gesprungen und hören ihr aufmerksam zu.

„Ihr Menschen habt schon seltsame Gedanken“, meint Adonis (so nennt Elvira eine der männlichen Ratten, der eine sehr hohe Position im Clan einnimmt).

Er fährt fort: „Bei uns ist das einfacher. Wir Ratten sind alle eine Familie. Dennoch gibt es bei uns besonders kräftige und kluge Ratten, die erkämpfen sich ihre Position und führen den Clan an. Männchen und Weibchen. Alphatiere paaren sich gerne mit Alphatieren. Das erhält die Art. Wenn wir viel zu fressen haben, dann vermehren wir uns viel, und wenn es wenig zu fressen gibt, dann haben wir weniger Nachkommen. Das ist bei uns ein natürlicher Vorgang.“

Er fährt fort: „Ihr Menschen denkt anders. Ihr wollt alles ausbeuten und zerstören, in eurer Gier nach dem eigenen Profit. Ihr denkt nie daran, etwas zu erhalten, das die Art sichert. Denk an meine Worte. Das wird einmal der Untergang der Gattung Mensch sein. Ratten wird es noch geben, wenn einmal der letzte Mensch ausgestorben ist. Wir Ratten, wir denken langfristig.“

Er überlegt kurz. „Nun ja, vielleicht denken nur einige Ratten so, die Kräftigsten und Klügsten, die, die unsere Familien anführen, aber wir tragen alle dieses Gen in uns, das uns das Überleben sichert. Ihr Menschen sagt dazu „Instinkt“, aber es ist letztlich egal, wie man das nennt. Den meisten Menschen fehlt dieses Gen. Dein Großvater hat es, deine Tante Lara hat es, und die andern Großen in deiner Familie haben es auch. Sie haben die Fähigkeit, in die Zukunft zu denken. Es ist immer gut, auf die Alphatiere zu hören.“

Adonis macht eine kurze Pause, dann fragte er direkt, „was gewinnst du, wenn du jetzt diese Menschen so beeinflusst, dass sie alle in die Konzerte deines Freundes gehen und ihm zujubeln? Wird die Welt davon besser?“

Elvira muss unwillkürlich lachen, dann meint sie. „Oh weh, ich fürchte, ich muss noch viel lernen.“

„Das ist nicht weiter schlimm“, antwortet Adonis. „Du bist noch jung. Aber es ist gut zu wissen, dass man nicht alles weiß und das man lernt, auf die zu hören, die mehr wissen, als man selbst. Dein Großvater, der uns manchmal besucht und mit uns redet, der gebraucht gern dieses Wort von der Demut. Wir Ratten haben diese Demut. Wir wissen, wann wir uns dem Stärkeren unterwerfen müssen. Hör auf meine Worte und hör auf deinen Großvater und auf deine Tante Lara. Sie wissen, was Demut bedeutet.“

Plötzlich fiepst es von der Seite des Tunnels. Adonis springt von Elviras Händen, es gibt einen aufgeregten Knäul von Ratten, dann sind sie auf einmal verschwunden.

Elvira steht auf. Sie springt zurück zu Oma. Nur wenig später leuchten die starken Strahlen von zwei Taschenlampen durch den Quergang. Sie tanzen über die Wände und den Boden. Sie ertasten den Kot der Ratten, der dort liegt, und einer der Männer sagt: „Hier müssen wir mal den Kammerjäger herschicken, guck dir den Dreck an“. Elvira hat das schon nicht mehr gehört. Sie macht sich an diesem Abend noch lange Gedanken, dann spricht sie noch mal mit Lara.

Am Schluss nickt sie. „Die Ratten haben mir zu Demut geraten. Was ist denn darunter genau zu verstehen?“

1.3.

Das Gespräch ist nun schon ein paar Wochen her. Elvira hat noch viel darüber nachgedacht. Jetzt liegt sie hier mit Asha zusammen in einem Bett. Ach wie gut, dass gerade Sommerferien sind. Da kann sie all die Dinge tun, für die sie in der Schulzeit nicht genug Zeit und Kraft hat.

 

Wenige Wochen später erfasst sie diesen Hilferuf der quer über den Ozean zu ihrer Cousine Irina läuft. Irina, die dort in Brandenburg bei Großvater Leon lebt, zusammen mit ihrem Bruder Dimmy und ihrer gemeinsamen Mutter Vera.

Der Hilferuf ist nicht für Elvira bestimmt, aber sie hat ihn vernommen. Sie hat auch gespürt, dass Irina sofort in die USA springt und dass Opa Leon ihr am Abend folgt.

Leon.

Opa Leon kennt sie seit ihrer Geburt. Opa Leon ist wundervoll. Er ist mal in Berlin, mal in Brandenburg, mal Sachsen-Anhalt, in England, in den USA, oder in Südamerika, aber immer wenn er gebraucht wird ist er da. Elvira kann sich über Energieströme mit Opa Leon in Verbindung setzen, quer über den Ozean. Opa Leon hat viel Güte, aber er kann auch sehr streng sein.

Auf jeden Fall hat sie von ihm gelernt, sich in Alltagssituationen hervorragend zurechtzufinden. Er hat die Kraft der Familie, aber er pflegt stets zu sagen. „Nutze deine Kraft unauffällig. Sperre die Ohren und die Augen auf. Schärfe deinen Verstand. Versuche, die richtigen Worte und Argumente zu finden. Deine Kraft hilft dir dabei. Suche auch stets die Hilfe der Familie, wenn du nicht mehr weiter weißt.“

Opa Leon hatte 40 Jahre mit Oma Katharina zusammengelebt. Dann hatte er Oma Katharina verlassen. Er ist jetzt mit Vera zusammen, die viel jünger ist als Oma Katharina. Elvira war damals entrüstet gewesen. Sie hatte den Schmerz von Oma Katharina gespürt, als Leon mit Vera zum ersten Mal fremdging. Sie hatte die Qual gesehen, die Oma Katharina in diesen Tagen zerfraß. Aber Elvira hatte nicht helfen können. Dann hatte Tante Chénoa Oma Katharina abgeholt, und sie war mit ihr nach Peru gesprungen und wenige Tage später hatte Opa Leon mit seinen Energiestrahlen alle wichtigen Mitglieder der Familie zu einer Familienkonferenz nach Peru gerufen. Auch Elvira hatte dabei sein dürfen.

Opa Leon hatte sich vor der Familie rechtfertigt. Er hatte Vera liebgewonnen, und er würde in Zukunft mit ihr zusammenleben. Sie hatten in diesen Tagen viel geredet. Nicht nur über Opa Leon, sondern über die Aufgaben und die Moral der Familie.

Oma Mila (die nun wirklich die leibliche Großmutter von Elvira ist, und die in Peru lebt, inmitten einer riesigen Schar von indianischen Freunden), die hatte damals gesagt: „Auch wenn Leon jetzt Vera liebt, so wird er uns nie verloren gehen. Nicht mir und auch nicht Katharina. Wir lieben ihn seit über über vierzig Jahren. Eine Liebe, die ganz auf Gegenseitigkeit beruht. Ich für meinen Teil werde die Liebe von Leon nicht verlieren, auch wenn Leon jetzt mit Vera zusammenleben will. Es gibt Dinge, die Menschen für immer miteinander verbinden. Schließlich haben wir etwas zusammen aufgebaut und wir arbeiten immer noch daran. Jeden Tag. Leon, Katharina, ich, und viele andere. Eine davon ist Vera. Sie gehört nicht erst seit gestern in unsere Familie.“

Sie hatte den Gedanken dann fortgeführt: „Es gibt wichtigere Dinge, als gegeneinander zu kämpfen. Lasst uns immer daran denken, dass wir die gemeinsamen Ziele verfolgen und uns nicht gegenseitig anfangen zu zerfleischen. Manchmal müssen schmerzhafte Einschnitte sein.“

Sie hatte sich der Gruppe prüfend umgesehen und dann sagte sie, „Paco hat einmal viel Mist gebaut und Leon musste damals einschreiten. In dieser Situation war das wohl nötig. In unserem Fall ist das nicht nötig. Niemand wird hier einschreiten. Das, was gerade passiert ist, das betrifft nur Leon, Katharina und mich. Katharina und ich, wir haben uns bereits entschieden Leon loszulassen, und wir wollen, dass alle in der Familie unsere Entscheidung respektieren, auch wenn Katharina und mir ein Stück von Leon verloren geht. Bewahren wir den großen Zusammenhalt.“

Elvira hatte das nicht alles verstanden. Viele andere der Familie hatten diesen „Großmut“ von Oma Mila und Oma Katharina auch nicht ganz verstanden.

Elvira weiß, wie Oma Katharina unter diesem Seitensprung gelitten hatte, aber in der anschließenden langen Diskussion begriffen die Kinder damals eins: Katharina und Mila gaben Leon frei, weil sie wissen, das er ihnen nie verloren gehen wird. So werden sie den Frieden in der Familie erhalten.

Elvira weiß inzwischen, dass Oma Katharina und Opa Leon immer wieder einmal miteinander die Nacht zusammen verbringen, obwohl Leon mit Vera zusammen ist. So richtig hatte sich Opa Leon also von Oma Katharina doch nie getrennt, und naja, in der Arbeit, also in der Sache, da arbeiten Oma Katharina und Opa Leon regelmäßig zusammen, wie ein gut geschultes und geöltes Team. Oma Katharina hatte ihr einmal gesagt. „Wir haben eine gemeinsame Vision. Da ist es nur natürlich, dass wir am selben Strang ziehen.”

Sie sieht auch die Energieströme zwischen Oma Katharina und Leon, und sie staunte immer wieder über diese Einheit aus Gedanken zwischen zwei Menschen. Vera weiß das von Katharina und Leon, und Elvira weiß inzwischen, dass Vera auch damit einverstanden ist, dass Opa Leon und Oma Katharina immer wieder einmal das Bett miteinander teilen. Sie hat die Energieströme zwischen den beiden staunend wahrgenommen. Das sind schon wunderliche Beziehungen. Sie hätte das nie gekonnt, da ist sie sich sicher, aber sie mischt sich da nicht ein. Das ist nicht ihre Aufgabe und der Respekt vor Oma Katharina und vor Opa Leon verbietet ihr das. Sie liebt sie beide.

Schließlich ist es wirklich so, wie das auch Oma Mila das einmal gesagt hatte. „Katharina, Mila, Leon und auch Vera haben ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Aufgabe.“ Es gibt viele ständige Kontakte. Auch sie nennen das so: „Wir haben eine gemeinsame Vision.“

Elvira hat lange mit Lara darüber geredet. Mit Lara, die immer noch nicht verheiratet ist, und die mal mit dem einen, mal mit dem anderen Mann schläft.

Lara hat Elvira lange angesehen. „Du bist noch jung“, hat sie gesagt. „Ich weiß nicht, wie heftig deine erste Liebe sein wird. Ich weiß nicht, ob dies in deinem Leben der einzige Mann sein wird. Eins weiß ich. Papa war seinen beiden Frauen sein Leben lang treu. Das war die große Liebe und das hat 40 jahre lang perfekt funktioniert. Warum? Nun. Sie hatten eine gemeinsame Vision und beide Frauen haben diesen Mann genauso abgöttisch geliebt, wie er sie beide auch geliebt hat. Sie haben voneinander gewusst, aber das Wichtigste war, dass Papa seinen beiden Frauen immer ehrlich gegenüber war.“

Sie fuhr fort: „Manchmal spielt das Leben mit uns Ball, und dann passieren Dinge, an die wir nie zuvor gedacht haben. Wir müssen das akzeptieren, wenn Papa jetzt mit Vera zusammen lebt, obwohl er Katharina und Mila immer noch liebt. Wir freuen uns auch, wenn Papa und Mama sich manchmal das Glück der körperlichen Freuden schenken. Wir spüren das. Wenn Vera damit nicht einverstanden wäre, würde Papa das nie tun. So sind sie alle glücklich. Urteile nie vorschnell über andere, aber versuche, deinen eigenen Weg zu finden. Der muss nicht so aussehen, wie bei deinem Großvater. Er muss nicht so aussehen, wie bei deinem Vater, bei Paco, und er muss auch nicht so aussehen, wie bei mir. Finde deinen eigenen Weg.“

1.4.

In den Tagen nach den großen Ferien heiratet Opa Leon Vera standesamtlich. Es ist ein einfaches Fest, zu dem auch Elvira kommt, dort in das neue Haus von Opa und Vera in Brandenburg. Am Wochenende darauf springt die ganze Familie nach Peru, und es gibt eine Konferenz.

Einer von Elviras Cousins hat richtigen Bockmist gebaut und er hat alle seine übernatürlichen Kräfte verloren. Nichts hilft. Die Kräfte sind weg und Tante Chénoa, die jetzige Clanführerin der Familie, die sagt: „Ich mische mich da nicht ein. Wer auch immer Boris diese Kräfte entzogen hat, der hat uns gewarnt, mit unseren Kräften in Zukunft vorsichtiger zu sein. Wir müssen uns überlegen, was jetzt zu tun ist.“

Elviras Cousine Irina, die jetzt mit Opa Leon und Vera in Wittenberge lebt, die hat die vielleicht erste große Rede in ihrem Leben gehalten. Sie hat eingestanden, dass auch sie schon Mist gebaut hat. Sie weiß das auch von einigen anderen in der Familie. Niemand ist ohne Fehl und Tadel. „Wenn wir jetzt nur immer daran denken, was wir für Fehler gemacht haben, dann bringt uns das nicht weiter. Unsere Familie hat eine große Aufgabe und ein großes Ziel. lasst uns lieber dran arbeiten, wie wir dieses Ziel besser erreichen. Ich möchte endlich alle meine Geschwister kennenlernen. Ich möchte mit all meinen Geschwistern einen ständigen Kontakt aufbauen und ich möchte, dass wir alle als Familie zusammenwachsen. Wir werden unsere Kräfte gemeinsam trainieren, und wir werden uns immer wieder über den Kodex der Familie unterhalten. Was erlaubt ist, und was nicht, das überschreitet manchmal unser Vorstellungsvermögen. Boris hat das zu spüren bekommen. Er ist für seinen Unsinn bestraft worden. Vielleicht gibt ihm dieser “schwarze Onkel”, wie ich manchmal sage, ihm seine Kraft wieder, aber Boris muss zunächst lernen, was Demut bedeutet.“

Da war es wieder, dieses Wort der Demut, von dem auch die Ratten zu Elvira gesprochen hatten. Dann schlagen die Kinder vor, sich jetzt regelmäßig zu treffen. Alle Kinder, auch die, welche von ihrem Vater Paco einmal im Überschwang der Jugend wahllos gezeugt worden waren, so wie Elvira selbst. Sie selbst hat die Kräfte der Familie, weil sie in Opa Leon, Lara, Pablo und Maria gute Lehrer hat. Viele andere Kinder der Familie haben diese Kräfte nur verschwindend gering. Dort hat es bisher keine Lehrer gegeben. Da muss man etwas tun.

Elvira weiß durch ihren Zusammenhalt mit den Kids im Untergrund von Berlin längst, welche Aufgabe die Familie hat. Es geht weiß Gott nicht darum, solche Diebstähle zu tolerieren oder gar gut zu heißen. Aber das sichert das Überleben der U-Bahn-Kids!!! Elvira weiß, dass die Familie alle Anstrengungen unternimmt, um die Kids in die Legalität zu holen, um ihnen Ausbildungsplätze und eine ordentliche Schule zu garantieren. Nur dann, wenn die Gesetzeslage das nicht zulässt, was sollst du dann tun? Du kannst diese Kinder doch nicht verhungern lassen. Es ist ein Akt der Menschlichkeit, sich für diese Kinder einzusetzen. Sie sind außerdem liebenswert und sie sind alle ihre Freunde. Alle. Elvira arbeitet im Kleinen daran, eine freundliche Welt zu schaffen. Andere tun das vielleicht im Großen, so wie Oma Katharina. Elvira weiß Bescheid. Naja, vieles von dem, was Oma Katharina macht, das weiß Elvira noch nicht. Sie ist ja noch jung.

Ja, und die Cousine Irina? Irina ist vielleicht das erste mal über sich selbst hinausgewachsen, mit dieser Rede. Irina hat die volle Unterstützung von Elvira, bei dem was sie gesagt hatte, und wie es sagte. Irina hatte das auf den Punkt gebracht. Elvira ist drei Jahre jünger als Irina, aber sie ist bereits seit Jahren in der Familie aktiv, und sie ist viel weiser, als ihr Alter das verrät. Cousine Irina ist in den Kräften der Familie noch ein Neuling, weil sie mit Opa Leon erst seit kurzem einen ständigen Lehrer hat, aber sie hatte wirklich überzeugend argumentiert.

Elvira hatte dazu innerlich zustimmend genickt. Ja, das muss wirklich in Angriff genommen werden. Die Familie muss über die Ozeane hinweg wieder zusammenwachsen.