Die unschuldige Königin

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Loe katkendit
Märgi loetuks
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1.9.

Als Elvira nach Berlin zurück kommt, ist sie voll mit neuen Eindrücken. An diesem Abend sitzt sie mit Oma Katharina und mit Lara zusammen und sie erzählt, bevor sie Nachhause zu Mama springt.

Lara, die nicht mit in Peru gewesen war, fragt sie, „Ich habe den Eindruck, die zehn Tage haben dir gut getan. Irgendwie hast du so etwas wie einen starken Lebensmut. Ist das so etwas wie ein Neuanfang?“

Elvira nickt. „Ich glaube schon. Es ist das erste Mal, dass ich mit der Familie so eng zusammen war, wie in den letzten Tagen. Ich rede jetzt nicht von meiner Familie unten in den Tunneln unter Berlin, sondern ich rede von meinen leiblichen Schwestern und Brüdern. Ich habe nie vorher gewusst, zu welchen Leistungen wir fähig sind, wenn wir unsere Kräfte bündeln.“

Bis Weihnachten geht sie wieder in die Schule Sie kümmert sich um ihre kleineren Geschwister. Sie kümmert sich um die Freunde in den Tunneln unter Berlin, und sie kümmert sich um die Freunde im Musikzentrum. Diesmal geht sie gezielt ins Zentrum, und sie besucht Louis, den Sänger.

Louis hat irgendwo da unten im Keller einen der Proberäume. Von Oma Katharina weiß Elvira stets, welche Gruppe gerade in welchem Probenraum ist. Sie braucht das nur auf dem PC aufzurufen.

Elvira setzt sich einfach dazu. Sie lehnt hinten an der Wand, auf ihren Füssen hockend. Sie schließt die Augen und hört zu. Diesmal achtet sie auf die Stimme von Louis. Sie achtet auf das Zusammenspiel und die Texte. Sie versucht sich auszumalen, warum Louis nicht mehr Erfolg hat. Schließlich schaltet sie ihr „Gesumm“ ein, mit dem sie sich viel besser konzentrieren kann. Sie versinkt geradezu in der Gruppe.

Dennoch kommt sie nicht drauf. Die Gruppe ist wirklich gut. Warum bleibt der große Erfolg aus?

Bei einem der nächsten Konzerte begleitet Elvira die Gruppe. Sie sitzt hinten im Backstagebereich und hört zu. Später geht sie hinunter ins Publikum und hört zu. Sie hört weniger auf den Gesang, als vielmehr auf die Schwingungen der Menschen. Alles scheint zu stimmen. Dennoch kann sie sich eins nicht erklären, warum bleibt der große Erfolg aus?

Elvira beschließt, mit Oma Katharina zu reden. Oma Katharina seufzt. “Wir haben das oft. Immer und immer wieder. Manchmal ist das eine Zeitströmung. Dann ist die Gruppe dem Publikum einen Schritt voraus, oder zwei oder drei. Manchmal haben sie die Zeitströmung verpasst. Sie laufen ihr hinterher und sie können sie nicht fassen. Manchmal ist es nur eine Frage der Performance. Lara konnte da schon oft helfen. Manchmal hat sich Opa Leon dazugesetzt. Er hat zugehört und er hat auch nicht immer helfen können. Wir sind keine Zauberer. Wenn du herausfindest, warum die Gruppe im Moment nicht den Erfolg hat, den du dir erhoffst, dann hast du das Rätsel gelöst.“

Sie fährt fort. „Deine Tante Cindy, die in der holsteinischen Schweiz lebt, du weist, wen ich meine? Die schreibt ja mit ihrem Mann Texte und Songs für viele verschiedene Musiker. Sie sind wirklich gut im Geschäft. Von den Beiden kann man nur lernen. Ich weiss auch nicht, wie die beiden das immer schaffen, mit ihren Songs so die Seele zu treffen. Aber natürlich gibt es viele Stücke, die auch voll daneben hauen. Ich kann dir nicht einmal sagen, ob die Beiden deinem Freund helfen könnten.“

Sie überlegt noch eine Weile, dann fügt Katharina hinzu. „Versuche nicht, dich auf die Lösung des Problems zu fixieren. Du wirst dabei nur verkrampfen. Lebe deinen Tag. Sei Teil deiner Freunde, beobachte und lache. Vielleicht hast du morgen plötzlich die zündende Idee. Vielleicht in einem Monat oder in einem Jahr. Vielleicht auch nie. Lass dich nicht entmutigen. Manche Dinge müssen wir so nehmen, wie sie sind. Wir können nicht alles steuern und beeinflussen.“

Elvira seufzt. Dann erzählt Oma Katharina, wie Chénoa und Opa Leon einmal einer der Gruppen geholfen hatten, vor vielen Jahren. Damals war die Frontfrau der Gruppe ums Leben gekommen. Die Gruppe war völlig verzweifelt. Chénoa hatte sie eingesummt und ihnen einen neuen Rhythmus und neuen Lebensmut gegeben. Nicht ihren Rhythmus, sondern Chénoa hatte es der Gruppe ermöglicht, den in der Gruppe bereits existenten Rhythmus neu zu definieren. Das hatte damals der Gruppe zu wahrer Größe verholfen. Aber das wäre nie passiert, wenn die Zeitströmung nicht genau zu diesem Zeitpunkt nach diesem neuen „Rhythmus“ verlangt hätte.

Elvira überlegt lange. Sie wacht in den Nächten auf, wälzt sich hin und her und sitzt schließlich aufrecht im Bett. Sie geht zu ihren Freunden in den Bunker. Sie geht zu Konzerten. Sie begleitet Lara zu Produktionen, und plötzlich hat sie einen Einfall.

Es gibt da so ein Mädchen. Sie ist auch erst vierzehn. Elvira kennt sie aus Aysas Café in der großen Halle im Zentrum. Emmi ist italienisch-spanischer Herkunft. Sie heißt eigentlich Emilia und sie hat eine wunderbar weiche Stimme. Weich und doch kräftig. Emilia hat schon einen ziemlich großen Busen, die Jungs gucken ihr hinterher, und sie hat so etwas von einer Rockröhre. Da ist so ein Unterton, der sich in dein Gehirn sägt. Nicht wie eine Kreissäge, mit hohen Nebentönen, sondern wollüstig kratzig. Etwas, was nur wenige Sängerinnen haben, wie etwa Nina Turner. Elvira kennt diese uralten CD’s. Damals, vor vielen Jahrzehnten, da war diese Tina Turner mit dieser Stimme ein Weltstar geworden.

Emmi übt bisher immer Zuhause. Sie imitiert irgendwelche anderen Sängerinnen, und Elvira hatte sie kennengelernt, als sie einmal selbstvergessen auf den Stufen im Zentrum saß, mit den Kopfhören auf. Emmi hatte gesummt. Ab und zu hatte sie die Stimme gehoben und ein paar Takte gesungen. Elvira hatte sich ein paar Bänke weiter hingesetzt und hatte Emmi beobachtet. Sie war in keiner der Gruppen, die im Zentrum probten oder spielten, das wusste Elvira.

Ein paar Tage später hatten sie sich zufällig wiedergetroffen und Elvira hatte Emmi angesprochen. Ein paar Wochen später wurde Elvira von Emmi mit zu sich Nachhause genommen und Emmi sang ihr vor. Emmi war noch unausgebildet, aber sie war gut. Irgendwann vor Weihnachten sah Elvira dann Emmi wieder und plötzlich hatte sie einen Einfall. Sie rief bei Oma an, sie fragte, wann Louis das nächste Mal probt, und sie nimmt zwei Tage später Emmi mit zu Louis in den Proberaum.

Emmi hört eine Weile zu, dann meint Elvira. „Kannst du versuchen, das einmal zu begleiten? Erst mal hier hinten, dann später vielleicht mit dem Mikro?

Emmi hat längst angefangen, das in ihrem Kopf zu tun und sie fängt jetzt an zu summen.

Elvira geht kurz entschlossen hinter die Bühne und holt sich eines der Textblätter. Sie gibt das Emmi und Emmi beginnt. Dann wird Louis aufmerksam. „Was’n das? Kannste nich’ mal hochkomm’n. Haste’ schon mal mit’m Mikro gesung’n?“ An diesem Tag fängt Emmi an, mit Louis zu üben.

Noch vor Weihnachten schreibt die Gruppe einige Texte um. Sie schreiben einen eigenen Gesangspart für Emmi und sie studieren das ein.

An Weihnachten tritt die Gruppe zweimal im Zentrum auf. Emmi darf bei drei Stücken die erste Stimme singen. In den andern bleibt sie im Hintergrund, und versucht Louis zu begleiten.

Elvira steht im Publikum. Sie staunt. Das ist noch unfertig, aber das ist der Sound, der die Menschen einfängt. Sie sieht die Reaktion des Publikums. Sie spürt die Vibrationen, und sie weiß, das ist der Beginn einer neuen Ära.

Kapitel 2. Berlin. Die Jahre 2054 und 2055
2.1

Die Gruppe von Louis lässt sich Zeit. Sie überstürzt nichts. Sie arbeitet an der Musik. Sie arbeitet an den Texten. Sie arbeiteten an Emmis Stimme, und sie arbeiteten an diesem Duett von Louis Gesang und Emmi. Sie entwickeln einen völlig neuen Stil.

Gegen Ende des Jahres 2054 meint Lara, die ein paar mal zugehört hat, „ich glaube, ihr solltet jetzt ins Studio gehen. Es wird Zeit für euer erstes Video.“ Es gibt zunächst eine Single. Lara produziert auf eigene Kosten ein Video. Sie dreht das selbst und überlässt das diesmal nicht ihren Kameraleuten. Lara ist in diesen Dingen wirklich genial. Das Video kommt kurz vor Weihnachten auf den Markt. Lara sorgt dafür, dass der Berliner Rundfunk und das Fernsehen das Video bekommen. Sie sorgt dafür, dass das Video bei MTV ausgestrahlt wird und sie sorgt für einige Interviews.

Die deutschsprachige Musik schlägt ein, wie eine Bombe. In den folgenden Wochen hat die Gruppe richtig zu tun, und in den Tagen um Fasching 2055 füllen sie bereits die Konzertsäle in Köln, München, Stuttgart und Dortmund. Emmi ist 15, die anderen Mitglieder der Band sind zu diesem Zeitpunkt erst 16. Das ist ein Alter, wo du die Kids am einfachsten einfängst.

Von den ersten Gagen kann die Gruppe ihre Schulden bei Lara zurückbezahlen. Naja. Lara ist großzügig gewesen. Sie hat einen Freundschaftspreis gemacht, aber das gehört zu ihren Maximen, dass es professionelle Hilfe nicht zum Nulltarif gibt. Die Kids lernen das im Zentrum, das ein Startbrett nicht umsonst ist. Schließlich profitieren sie ganz gewaltig von Laras Hilfe. Nur Elvira, die hatte abgewunken. Das ist ihr Zentrum. Sie will kein Geld. Sie hat hier alles, und Louis ist ihr Freund. Er würde für sie dasselbe tun.

Jeden Monat kommen jetzt neue Gelder rein. Die CD läuft überall im Rundfunk. Die Gema Gebühren fließen erst spärlich und dann immer kräftiger. Wie gut, dass die Gruppe in den letzten 12 Monaten ein ganzes Dutzend dieser Stücke eingeübt hat. Sie sind alle aus einem Guss und die Gruppe geht jetzt erneut ins Studio, um die erste große CD aufzunehmen.

 

Elvira hatte die Gruppe oft besucht. Sie hatte sie manchmal zu den Konzerten begleitet. Sie hatte mal Backstage gesessen, mal im Publikum. Sie war bei der Aufnahme des ersten Videos dabeigewesen und sie hatte gesummt. Sie hatte der Gruppe geholfen, sich selbst zu entdecken.

Oma Katharina hatte nach dem Erfolg genickt. “Louis hat die Zeitströmung erfasst”, hatte sie gesagt.

Es war nicht das Einzige, was Elvira in diesen fünfzehn Monaten beschäftigte, aber Elvira weiß, dass sie der Gruppe den entscheidenden Impuls gegeben hat. Es ist ihr Erfolg. Ihr persönlicher kleiner Erfolg. Jetzt spürt sie plötzlich, wie sie ihre Macht einsetzen kann. Sie hat für sich selbst einen Weg gefunden.

2.2.

Elvira geht in dieser Zeit weiter wie bisher zur Schule. Sie trifft sich mit den Kids im Untergrund, und sie trifft sich mit ihren Geschwistern. Mal in Peru, mal bei Oma Katharina, mal bei Fred oder mal bei Paco in Mexiko.

Noch etwas anderes ist es, was Elvira in dieser Zeit beeindruckt. Durch Lara hat sie eine Menge Kontakte. Elvira kennt auch all diese uniformierten Ordner, die im Zentrum für Sicherheit sorgen und auch viele der Sozialarbeiter, die sich um die Sorgen der Kids kümmern. Sie weiß, dass viele der Kids aus dem Bunker regelmäßig zum Training gehen. Es gibt da mehrere Kickboxschulen. Sie war ein paar Mal mitgegangen und hatte sich das angeschaut. Ihr Ding ist das nicht.

Durch diesen Kontakt in den Kickboxschulen lernte Elvira aber neue Kids kennen. Einige kennt sie bereits flüchtig aus dem Musikzentrum. Sie weiß, dass die für den Sicherheitsdienst oder als Sozialarbeiter arbeiten, und sie spricht sie direkt an. Ja, das sei ein regelmäßiges Training. Wenn sie mehr wissen wolle, dann solle sie sich mal mit Lara, Katharina, Leon oder mit Rochen unterhalten. Rochen, hatte Elvira gefragt. „Wer ist denn das?“

Also redet Elvira mit Lara und mit Oma Katharina. „Wer ist Rochen“, will Elvira wissen.

Lara seufzt. „Es gibt Dinge, die haben wir dir bisher nicht erzählt. Du bist noch jung und du musst nicht alles wissen, was dich vielleicht belasten würde. Du kennst viele der Ordner hier im Zentrum und du kennst auch Roman, der hier die uniformierten Ordner anleitet, aber das ist nur die sichtbare Organisation. Das, was jeder sehen darf.“

Elvira hört erstaunt zu. „Du meinst, es gibt hinter dieser Organisation so etwas wie eine geheime Verbindung?“

Jetzt mischt sich Oma Katharina ein. „Elvira, hör jetzt einmal genau zu. Lara hat dir eben etwas angedeutet, was du nie, niemals ausplaudern darfst. Einige Mitglieder der Familie wissen das, aber sie reden darüber nicht. Haben wir uns verstanden?“

So kommt es, dass Elvira Rochen kennenlernt. Rochen ist klein und auf den ersten Blick unscheinbar, aber Rochen ist aufmerksam und er scheint mindestens über acht Augen zu verfügen. Sie sind überall. Selbst wenn dich Rochen fixiert, sieht er gleichzeitig alles, was im Raum um dich herum passiert. Rochen ist ein Phänomen. Er macht sich selbst „unsichtbar“, er will in der Menge untergehen und unerkannt bleiben, aber er sieht alles.

Rochen ist vielleicht zwanzig, zweiundzwanzig oder noch älter, Elvira kann das nicht einschätzen. Sie weiß nichts über Rochen aber sie sieht diese Aura dieses jungen Mannes. Sie erfasst das mit ihren Tentakeln, die sie von der Familie geerbt hat, und die durch Laras Ausbildung gewachsen sind. Sie kriecht in diesen jungen Mann hinein und sie staunt. Rochen ist nicht mit den Kräften ihrer Familie gesegnet, aber Rochen ist unglaublich. Elvira versenkt sich in diesen Jungen und sie beobachtet.

„Soso“, meint Rochen. „Du willst also mehr über uns erfahren?“ Als Elvira nickt, meint er. „Lara hat mir gesagt, dass du den Mund halten kannst. Kannst du das wirklich? Nein, nicht nur, wenn du direkt gefragt wirst, sondern wenn man dich ausfragt oder Nachts aus dem Schlaf zerrt?“

Elvira staunt. „So schlimm?“

Rochen lächelt, dann nimmt er Elvira mit zu Conni, einem der Mädchen, die im Zentrum verkehren. Elvira kennt Conni vom Sehen. Sonst weiß sie nichts über Conni. „Kümmere dich mal ein bisschen um Elvira“, meint Rochen. „Bisschen Basiswissen“, fügt er hinzu.

2.3.

In den Folgewochen wird Elvira von Conni unter die Fittiche genommen. Sie sitzen im Zentrum. Plötzlich fragt Conni. „Das blonde Mädchen, was gerade an uns vorbeigegangen ist. Wie war die Farbe des Rocks? Was hatte sie für Schuhe an?“

Als das zum ersten mal passiert, da guckt Elvira nur blöde. Die Fragen kommen jetzt öfters, und Elvira beginnt, ihre Umwelt mit wacheren Augen wahrzunehmen. Sie schaltet auch ihr Gesumm ein. Sie benutzt jetzt die Kräfte, die sie von der Familie geerbt hat.

Dann wird Elvira in die U-Bahn und in die Stadt mitgenommen. Sie verfolgen wildfremde Passanten. Elvira beginnt auf bestimmte Zeichen zu achten. „Das da, das ist ein verdeckter Ermittler“, sagt Conni einmal. „Woher ich das weiß? Achte auf die Details. Sieh, wie er sich bewegt. Sieh zu, wie seine Augen tanzen oder absichtlich vorbeischauen, achte auf Handzeichen. Achte auf Ausbeulungen in den Taschen. Gibt es irgendwo ein Micro und ein Funkgerät? Lass uns den Mann verfolgen. Nein, nur kurz. Er wird das sonst merken.“

Später schickt sie Elvira hinter solchen Männern und Frauen her. „Versuche, ihnen unerkannt zu folgen. Brich deine Verfolgung sofort ab, wenn sie dich spüren. Ja spüren. Sie haben so eine Art inneres Auge. Einen Instinkt für Gefahr.“

Dann beginnt Conni Elvira zu zeigen, wie man sich auf der Straße unerkannt bewegt. Elvira staunt und lernt. „Versuche, mich zu verfolgen“, meint Conni irgendwann. Elvira staunt wieder. Sie hat Conni nach wenigen Minuten aus den Augen verloren. „Zeig mir das Geheimnis“, meint sie.

Elvira lernt. Das ist eine neue Welt. Langsam, ganz langsam begreift sie, dass es auf dieser Welt zwei Arten von Gesellschaften gibt. Eine öffentliche und eine Verdeckte.

Naja. Auch die Kids im Bunker sind eine Art geheime Organisation, aber das hier, das ist die organisierte Heimlichkeit. Eine ganz bewußt trainierte Unsichtbarkeit. Conni ist in diesen Dingen um vieles besser als die Kids im Bunker. Elvira lernt in diesen Monaten, die Augen selbst überall zu haben und alles zu sehen und zu registrieren.

„Das dient deiner Sicherheit“, sagt Conni. Sie muss es wissen. Sie ist wirklich gut.

Elvira fragt nie, wozu das alles gut ist. Sie lernt einfach von Conni.

Conni hätte diese Ausbildung jederzeit abbrechen können, und sie gibt geheime Berichte an Rochen, Lara und Oma Katharina. Oma Katharina nickt dazu. “Ich habe schon immer gewußt, das etwas besonderes in diesem Mädchen steckt. Überstürze nichts. Sei geduldig und behutsam. Verrate nichts, was Elvira jetzt nicht zu wissen braucht.“

Oma Katharina ist in dieser geheimen Organisation eine große Nummer. Sie steht als Leiterin des Zentrums weit über Rochen, und der ist selbst eine „große Nummer“.

Conni hält sich an die Anweisung und sie trainiert Elvira. Es ergibt sich einfach so, dass sie Elvira für geheime Operationen einbezieht. Elvira weiß nicht einmal etwas davon. Conni schickt Elvira zum Beobachten. Dann wird Elvira durch andere abgelöst, Elvira berichtet über Kontakte. Sie beschreibt Personen und Gesichter.

Elvira ist nicht blöd. Niemand hat ihr gesagt, was sie da tut, aber sie weiß, dass sie Teil einer geheimen Operation geworden ist. Es dient ihrer Sicherheit, wenn sie nichts weiß. Sie hätte nichts ausplaudern können. Conni ist ihr einziger Kontakt. Sie kennt die anderen Mitglieder dieser Organisation nicht einmal.

Langsam wächst Elvira in diese Organisation hinein. Irgendwann spricht sie mit Rochen. „Du weist, dass ich als Enkelin von Leon über ein paar Fähigkeiten verfüge, die dir zum Beispiel fehlen?“

Rochen nickt. „Klar. Willst du uns ein wenig mehr helfen?“ So kommt es, dass Elvira anfängt, sich in Vögel oder Insekten zu verwandeln. Sie kann das gut. Das sind Dinge, die ihr Tante Lara schon früh gezeigt hatte. Sie verfolgt jetzt solche „Opfer“ über längere Strecken. Sie merkt sich Gesichter und Kontaktpersonen und sie erstattet Bericht.

Irgendwann wird sie von Lara an der Hand genommen. „Komm mal mit.“ Sie stehen plötzlich in einem Raum, in dem es nur einen Tisch und mehrere Stühle gibt, auf denen mehrere Menschen sitzen. Sie erkennt Rochen und Conni. Dann ist da ein alter Mann, den sie noch nicht kennt. Er wird Roy genannt. Auf dem Tisch liegen mehrere Pakete. „Du musst nicht wissen, wie die Freunde hier heißen“, meint Lara, aber du sollst wissen, warum du in den letzten Wochen beobachtet hast. Der alte Mann (den Elvira nicht kennt) schlägt das Papier von einem der Pakete zurück und er zieht die Reißverschlüsse der Taschen auf und schüttet den Inhalt auf den Tisch. Elvira staunt. Das sind Tausende von Euros. Dann gibt es da noch diese Pakete in Zellophan, mit einem weißen Pulver.

„Heroin“, sagt Lara. „Was du hier siehst, das sind acht Kilo reines Heroin, und das hier“, sie zeigt auf die Geldscheine, „das sind über zehn Millionen Euro. Da muss man lange für arbeiten. Das ist die Ausbeute der Beobachtungen der letzten Monate. Das konnten wir heute Nacht abgreifen, dank deiner Mithilfe.“ Sie nimmt ein Bündel Scheine und drückt sie Elvira in die Hand. „Schau es dir genau an. Das ist schmutziges Geld. Dafür sind Menschen gestorben. Und das hier...", sie gibt Elvira eines der Pakete mit dem Pulver in die Hand. „Das hier ist der Tod, den du gerade in den Händen hältst. Sieh ihn genau an. Du sollst wissen, dass du vielen Menschen das Leben gerettet hast.“

Elvira lässt das staunend über sich ergehen. „Ich???“ Sie schweigt einen Moment betroffen. „Und was macht ihr jetzt mit diesem weissen Pulver?“

„Klo“, sagt der alte Mann. „Das spülen wir ins Klo. Wir wollen nicht, dass dieses Pulver jemals noch ein Leben zerstört. Jetzt weißt du, was du in den letzten Wochen getan hast.“ Er steht auf und reicht Elvira die Hand. „Danke. Du hast uns sehr geholfen.“

Elvira sieht Lara an. „Und das Geld? Das sind doch riesige Mengen. Was machen wir damit?“

Lara lächelt. „Die Kids im Tunnel brauchen Monatskarten. Sie brauchen medizinische Versorgung. Die Suppenküchen in Berlin und die Kleiderläden des Roten Kreuzes brauchen unsere Unterstützung. Wir haben ein paar geheime Wohnungen und wir haben Unkosten. Die Rechtsanwälte müssen bezahlt werden, die eingreifen, wenn mal eins der Kids aufgegriffen wird. Viele junge Musiker und Tänzer im Zentrum erhalten von uns ihre Ausbildungskosten und ihre Wohnungen finanziert. Keine Sorge. Das Geld wird gut angelegt.“

„Sind wir hier fertig“, fragt Lara und der alte Mann nickt. Lara nimmt Elvira an der Hand und springt mit ihr zurück in Omas Wohnung. „Jetzt hast auch du ein Geheimnis“, sagt sie, und hält den Finger an den Mund. „Whow“, sagt Elvira.