Evangelisches Kirchenrecht in Bayern

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2.Vom Staatskirchenrecht zum Religionsverfassungsrecht

Die rechtliche Ordnung der Beziehungen der Institutionen Staat und Religionsgemeinschaften zueinander und die Stellung des einzelnen Mitglieds oder der gesamten Religionsgemeinschaft als Träger von Grundrechten (hier der Religionsfreiheit) gegenüber dem Staat wird traditionell als „Staatskirchenrecht“ bezeichnet. Diese Bezeichnung wurzelt in unserer Geschichte, indem früher die Beziehungen des Staates zu den drei christlichen Hauptkonfessionen (römisch-katholisch, evangelisch-lutherisch und evangelisch-reformiert) Gegenstand eines besonderen Staatskirchenrechts gewesen waren. Demgegenüber war für diesen Rechtsbereich in anderen Ländern oder Rechtssystemen schon von jeher die Bezeichnung Religionsrecht oder Religionsverfassungsrecht gebräuchlich. Bedingt durch die Arbeitsmigration nach 1950 einerseits und die seit den 1990er-Jahren einsetzenden weltweiten Fluchtbewegungen andererseits hat sich mittlerweile aber auch in Deutschland das religiöse Spektrum in einer Weise aufgefächert, wie das vorher unvorstellbar schien. Ganz zu Recht hat sich deshalb für die ursprünglich schwerpunktmäßig auf das Verhältnis des Staates zu den christlichen Kirchen fokussierte Rechtsmaterie zunehmend die Bezeichnung Religionsverfassungsrecht durchgesetzt.

Rechtsquellen des Religionsverfassungsrechts sind einmal das vom Staat selbst gesetzte Recht (Grundgesetz, Länderverfassungen, Gesetze und Verordnungen), soweit es sich mit dem Verhältnis zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften und der Stellung ihrer Mitglieder im staatlich-öffentlichen Bereich befasst, ferner das zwischen Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften im Wege der Vereinbarung gesetzte Recht (Konkordate – so die Bezeichnung auf katholischer Seite – und Kirchenverträge).

3.Modelle des Verhältnisses von Staat und Kirche

Ein allgemein gültiges, für alle Zeiten geltendes „Grundmodell“ des Verhältnisses von Staat und Kirche gibt es nicht, denn in ihren äußeren Erscheinungsformen unterliegen Staat wie Kirche einem geschichtlichen Wandel. Die Vielzahl der aus der geschichtlichen Tradition erwachsenen Modelle lassen sich jedoch auf drei Grundformen zurückführen:

a)Einheitsmodell

Als Einheitsmodell wird die Verbindung von Staat und Kirche bezeichnet, wie sie früher üblich war und auch heute noch mit gewissen Modifikationen in Ländern mit Staatskirchen besteht: z. B. in Großbritannien (England und Schottland), ferner in den skandinavischen Staaten Dänemark, Norwegen, Finnland und Island oder in der islamischen Welt. Kommt bei diesem Modell der Kirche die Oberhand zu, spricht man von Kirchenstaatstum, im umgekehrten Fall von Staatskirchentum.

b)Trennungsmodell

Unter dem Trennungsmodell ist eine strikte Trennung von Staat und Kirche zu verstehen, wie sie erst seit der Neuzeit im Grundsatz verwirklicht ist. Dabei kann diese Trennung in zweifacher Weise bestehen:

Trennung kann im Sinne völliger Neutralität des Staates gegenüber Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften bedeuten, dass diese und der Staat organisatorisch voneinander getrennt sind, schiedlich-friedlich nebeneinander bestehen, jedoch offiziell keinerlei Berührungspunkte miteinander haben, weil Religion und Weltanschauung eine reine Privatangelegenheit sind. Das kann so weit gehen, dass – wie in Frankreich – nach dem Modell des Laizismus religiöse Bezüge in der Öffentlichkeit strikt verboten sind. Es kann aber auch so sein wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo im Sinne der Freiheit und Gleichheit alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften – weder gehindert noch gefördert durch den Staat – in der Öffentlichkeit nach ihren Möglichkeiten im freien Wettbewerb mehr oder weniger öffentlichkeitswirksam agieren können.

Trennung kann aber auch aus einer gerade nicht neutral-liberalen Haltung des Staates heraus dezidiert religionsfeindlich motiviert und gestaltet sein, wie dies in den atheistisch geprägten Staaten des ehemaligen Ostblocks der Fall war. Hier bedeutete „Trennung“ nicht ein Nebeneinander von Staat und Kirche, sondern letztlich die Einschränkung und Überwachung der Kirchen durch den Staat. Dies konnte bis hin zur Unterdrückung kirchlicher Organisation und kirchlichen Lebens gehen.

c)Modifiziertes Trennungsmodell

Das modifizierte Trennungsmodell, also eine prinzipielle und institutionelle Trennung von Kirche und Staat mit Anerkennung der Eigenständigkeit im jeweiligen Aufgabenbereich und dem Willen gegenseitiger Koordination und – zum Teil auch verfassungsrechtlich geregelter – Kooperation in weiten Bereichen (z. B. im sozialen Sektor, im Bildungs- und Erziehungswesen), ist verwirklicht in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und in Teilen der Schweiz. Auch die in den letzten Jahrzehnten – entweder durch Gesetz, Konkordat oder mehrere Einzelverträge – neu geregelten Verhältnisse zwischen Kirche und Staat in den südeuropäischen Ländern (Spanien, Portugal, Italien) und in Schweden entsprechen im Wesentlichen diesem Modell und brachten eine Abkehr von der bis dahin dort in Form von Staatskirchen bestehenden Verbindung von Staat und Kirche. Die neuen Religionsgesetze in den osteuropäischen Ländern, die eine Befreiung der Kirchen von staatlicher Bevormundung, zum Teil auch von Unterdrückung brachten, sehen ebenfalls bei grundsätzlicher Trennung gewisse Formen der Kooperation vor.

Alle drei Grundformen haben im Lauf der Geschichte ihre Verwirklichung gefunden, zum Teil kamen und kommen zahlreiche Übergangs- und Mischformen vor.

4.Das Weimarer Religionsverfassungsrecht als Ausgleichsordnung

a)Das heutige staatskirchenrechtliche System in der Bundesrepublik Deutschland ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung. Es bestimmt sich maßgeblich nach der im Grundrechtsteil des Grundgesetzes verankerten Religionsfreiheit (Art. 4) und nach den durch Art. 140 GG in das Grundgesetz aufgenommenen institutionellen Garantien der Weimarer Reichsverfassung von 1919. Diese Garantien sind in ihrem Kernbereich bereits von Art. 4 umfasst, im Übrigen aber eine notwendige Ergänzung zu diesem Grundrecht. Diese verfassungsrechtlichen Bestimmungen werden ergänzt und zum Teil näher ausgeführt in vertraglichen Regelungen zwischen Staat und Kirche.

Die das Verhältnis von Staat und Kirchen betreffenden Bestimmungen des Grundgesetzes und der Weimarer Reichsverfassung knüpften in vielem an Bestimmungen der (nicht in Kraft getretenen) Paulskirchenverfassung von 1848 an. Dabei besiegelte das Weimarer Religionsverfassungsrecht eine Entwicklung, die spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang genommen hatte und das Band zerschnitt, welches Kirche und Staat seit dem Ausgang der Antike miteinander verbunden hatte. Diese Verbindung, die 313 durch das Mailänder Abkommen (rechtliche Gleichstellung des Christentums mit anderen Religionen) vorbereitet wurde, und unter Kaiser Konstantin faktisch und 380 unter Kaiser Theodosius auch rechtlich durchgeführt wurde (Christentum als Staatsreligion), hielt im Grundsatz mehr oder weniger bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Weimarer Reichsverfassung beendete so die Epoche des „christlichen Staates“, die ausgehend von den „zwei Gewalten“1 innerhalb der einen res publica christiana auch Reformation und Aufklärung überdauert und auf protestantischer Seite im landesherrlichen Kirchenregiment seine besondere Ausprägung erfahren hatte. Durch sie wurde der „weltliche Staat“ geschaffen.

b)Der Sturz der Monarchien in Deutschland infolge der Revolution vom November 1918 bedeutete vor allem für die evangelischen Landeskirchen einen tiefgreifenden Umbruch. Das Fundament ihrer traditionellen rechtlichen Ordnung und ihr politischer Rückhalt waren zerstört; ihre wirtschaftlichen Grundlagen waren auf das Höchste gefährdet. Deshalb reagierten die Kirchenleitungen auf die neuen Verhältnisse besorgt und vorsichtig abwartend, andererseits aber auch nicht mit einer Haltung prinzipieller Obstruktion. Vielmehr zeigten sie sich willig und bereit zur Mitarbeit. Indes war die von radikalen Linken bestimmte kirchenpolitische Linie bestimmt von der lautstarken Forderung nach klarer Trennung von Staat und Kirche – nicht, um die Landeskirchen in die organisatorische Freiheit zu entlassen, vielmehr, um die Religion, die sich mit dem ideologischen Feindbild im Dreiklang von „Nationalismus, Kapitalismus und Konfessionalismus“ konfrontiert sah, nach dem Vorbild Frankreichs oder Sowjetrusslands vollständig aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. So war es auch kein Widerspruch, dass die Revolutionsregierungen nicht etwa sofort mit ihrer Machtübernahme das landesherrliche Kirchenregiment, das bisher von den Monarchen ausgeübt worden war, als beendet betrachteten, sondern sich nicht im mindesten gewillt zeigten, dieses staatliche Aufsichtsinstrument aus der Hand zu geben, gerade um die Kirchen aus traditionellen Positionen, insbesondere im Schulwesen, zu verdrängen, andererseits aber um auf ihre innere Verfassungsordnung im Sinne einer „Demokratisierung“ Einfluss zu nehmen.

Bekanntester Vertreter dieser Linie war der preußische Kultusminister Adolph Hoffmann. Er blieb zwar nur sechs Wochen, bis Anfang Januar 1919, im Amt, als er mit anderen USPD-Genossen – in den Wirren des Spartakus-Aufstandes – wieder aus der Regierung ausschied. Diese sechs Wochen genügten aber, um nahezu alles zu zerschlagen, was an guten Ansätzen für eine Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokratie und Kirchen vorhanden war, und zwar nicht nur für die Revolutionsphase, sondern fast mehr noch für die späteren Jahre. Seinem fanatischen Handeln ist es ganz wesentlich mitzuzurechnen, dass christliche Wähler rechten Parteien in die Arme getrieben wurden. Unter den kirchenpolitischen Entscheidungen, die Hoffmann in seiner kurzen Amtszeit traf, waren vor allem drei, die weit über die kirchlichen Kreise hinaus Aufsehen und Anstoß erregten:

 

–Zunächst verfügte er noch im November 1918, dass die den Kirchen bisher gewährten Staatszuschüsse spätestens zum 1. April 1919 aufzuheben seien.

–Ganz besonders war das „Gesetz, betreffend die Erleichterung des Austritts aus der Kirche und den jüdischen Synagogengemeinden“, das den Kirchenaustritt wesentlich vereinfachte, Anlass lebhafter kirchlicher Kritik.

–Mit Abstand den größten Protest aber löste ein Erlass aus, der den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach für sämtliche Schulen Preußens aufhob und den christlichen Charakter der Schulen beseitigte.2

Als die sozialistischen Parteien bei den Reichstagswahlen im Januar 1919 nicht zuletzt auch wegen ihres unpopulären kulturpolitischen Kurses die Mehrheit verloren hatten und die Mehrheits-SPD eine Koalition mit dem Zentrum und der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) einzugehen hatte, wurde klar, dass die Kirchen- und Kulturfrage nur im Sinne eines Ausgleichs zwischen den divergierenden Positionen zu lösen war:

–Einerseits sollten die unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Prägungen der Bürger als grundsätzlich gleichberechtigt anerkannt und die Religion nicht wie in Frankreich oder Sowjetunion aus der Öffentlichkeit verdrängt und privatisiert werden.

–Andererseits war der grundsätzlichen Freiheitlichkeit und Freiwilligkeit in Bezug auf Religion und Bildung Rechnung zu tragen.

–Bezogen auf das Schulwesen bedeutete dies: die ehedem geistliche Schulaufsicht im staatlichen Schulwesen entfiel; der Religionsunterricht blieb aber ordentliches Lehrfach an staatlichen Schulen, die Teilnahme bzw. Erteilung wurde indes abhängig gemacht von den Erziehungsberechtigten bzw. der freiwilligen Bereitschaft der (staatlichen) Lehrkräfte.

Während der Weimarer Zeit hielten Lehre und Praxis aber teilweise noch an alten staatlichen – durch die Weimarer Reichsverfassung dem Grunde nach aber gerade aufgehobenen – Kirchenhoheitsrechten insofern fest, als nach der sog. Korrelatentheorie dem Staat über kirchliche Körperschaften des öffentlichen Rechts besondere aufsichtliche Befugnisse zugesprochen wurden.

Während der Zeit des Nationalsozialismus blieben die Weimarer Kirchenartikel zwar formal in Geltung. Die verfassungsrechtliche Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften wurde indes zunehmend weniger geachtet, ja mit der Zeit gänzlich negiert, indem – mit dem Ziel einer allgemeinen Entkonfessionalisierung, Entrechtung und Zerstörung der Kirchen – kirchenfeindliche Gesetze erlassen und Anordnungen getroffen wurden.

5.Das Verhältnis von Staat und Kirche unter dem Grundgesetz
a)Inkorporation der Weimarer Religionsartikel

Zur vollen Entfaltung und Wirkung kamen die Weimarer Kirchenartikel erst richtig durch deren Aufnahme in das Grundgesetz von 1949.

Bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland war im Parlamentarischen Rat ein gemeinsamer Antrag von CDU/CSU, Zentrum und Deutscher Partei, den ursprünglichen „Herrenchiemseer Entwurf“ um einen Kirchenartikel zu ergänzen, an föderalistischen Bedenken und an der Warnung gescheitert, die als Provisorium gedachte neue Verfassung zu überfrachten. Schließlich fand ein Vorschlag u. a. des FDP-Abgeordneten und späteren ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss Zustimmung, die Artikel 136 bis 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung in das Bonner Grundgesetz zu integrieren.

Unter dem Grundgesetz entfiel allerdings die in der Weimarer Zeit noch vorhandene besondere Staatsaufsicht für kirchliche Körperschaften im Sinne der Korrelatentheorie. Diese war mit dem neuen partnerschaftlichen und auf positive Zusammenarbeit ausgerichteten Verständnis des Verhältnisses von Staat und Kirche, wie es von der damaligen staatskirchenrechtlichen Wissenschaft postuliert und auch in den neu geschlossenen Staatskirchenverträgen – beginnend mit dem für die niedersächsischen Landeskirchen vereinbarten Loccumer Vertrag von 1955 – fixiert worden ist, nicht mehr vereinbar. In diesem Kirchenvertrag ist nämlich erstmalig das Verhältnis von Staat und Kirche im Sinne eines echten partnerschaftlichen Miteinanders dokumentiert und der vor allem aus dem Missionsbefehl (Matth. 28, 18 ff.) und der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 abzuleitende kirchliche Öffentlichkeitsanspruch, also der aus dem Auftrag der Kirche begründete Anspruch auf öffentliche und gesellschaftliche Vernehmbarkeit und Wirksamkeit,3 wie er vor allem in der Predigt, aber auch insbesondere im diakonischen Handeln, in der Arbeit von Akademien, in kirchenleitenden Verlautbarungen und in Denkschriften des Rates der EKD4 zum Ausdruck kommt, von staatlicher Seite anerkannt worden.

Klaus Schlaich hat diesen Öffentlichkeitsanspruch wie folgt skizziert:

„Die Kirchen und die in ihnen versammelten Christen reden freimütig von der in Christus geoffenbarten Versöhnung Gottes mit der Welt und nehmen mit dem ihnen von daher aufgetragenen Dienst am Nächsten ein Stück Verantwortung für die Welt wahr. Mit der Anerkennung des Öffentlichkeitsanspruchs der Kirchen gibt das politische Gemeinwesen zu erkennen, dass es sich die öffentliche Verkündigung der Kirchen, die daraus resultierende Anrede als Gesellschaft und Staat und den sozialen Dienst der Kirchen gefallen lässt, diesen ernst nimmt, dessen begehrt und ihn fördert.“ 5

Vor allem deshalb lässt sich sagen, dass unbeschadet ihres veränderten Wortlauts die Weimarer Religionsartikel im Gefüge des Bonner Grundgesetzes einen Bedeutungswandel erfahren haben. Das Diktum des Staatskirchenrechtslehrers Rudolf Smends aus dem Jahr 1951, „Wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe6, hat diese Neuausrichtung trefflich auf den Punkt gebracht. In der Folgezeit hat daran vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblichen Anteil gehabt.

Nach der Wiedervereinigung haben die wiederentstandenen Bundesländer im Osten Deutschlands, ebenso wie dies nach 1945 bereits in den meisten westlichen Bundesländern geschehen war, die Weimarer Religionsartikel entweder inhaltlich in ihre Verfassungen aufgenommen oder in Bezug genommen. Teilweise gehen sie darüber hinaus, wenn z.B. Art. 41 der Verfassung des Freistaats Thüringen und Art. 32 Abs. 3 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt sich zur Gemeinnützigkeitsanerkennung und Förderung der von ihnen unterhaltenen sozialen und karitativen Einrichtungen bekennen. Allerdings zählte gerade das Staatskirchenrecht zu den besonders umstrittenen Themen in der Verfassungsdiskussion im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung. Angefragt waren auf politischer Seite vor allem das bundesdeutsche Kirchensteuersystem und der „Dritte Weg“ der Kirchen im Arbeitsrecht, seitens der östlichen Gliedkirchen der EKD zum Teil auch der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen und die Militärseelsorge. Zwar wurde in der Gemeinsamen Verfassungsreformkommission, die nach dem Einigungsvertrag eingesetzt wurde, der Vorschlag einer grundlegenden Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Kirche gemacht. Die Mehrheit der Kommission hat indes keinen Anlass zu Änderungen des Staatskirchenrechts gesehen, sodass die gemeinsame Verfassungskommission in ihrem Abschlussbericht vom 5. November 19937 auch davon absah, entsprechende Empfehlungen abzugeben.

Von wesentlicher Bedeutung ist, dass das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung8 die in das Grundgesetz inkorporierten Weimarer Religionsartikel als „voll gültiges Verfassungsrecht“ bezeichnet, welche dieselbe Normqualität wie die sonstigen Bestimmungen des Grundgesetzes haben. So sind also die Weimarer staatskirchenrechtlichen Artikel durch die Inkorporation in das Grundgesetz kein Verfassungsrecht zweiter Klasse. Sie stehen vielmehr im gleichen Rang wie jede andere Bestimmung des Grundgesetzes. Dementsprechend sind trotz ihres unterschiedlichen Standortes im Grundgesetz Art. 4 und Art. 140 als Einheit anzusehen. Diese beiden Grundvorschriften können mit Rücksicht auf ihren Sinngehalt bei der Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Staat nicht getrennt werden. In ganz wesentlicher Weise hat dabei die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Bedeutungsgehalt der staatskirchenrechtlichen Bestimmungen unseres Grundgesetzes mitbestimmt und näher entfaltet.

b)Säulen des Staatskirchenrechts

Es sind im Wesentlichen die folgenden tragenden Grundsätze („Säulen“), die unser staatskirchenrechtliches System bestimmen:

–die Religionsfreiheit (Art. 4 GG),

–die grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche: „Es besteht keine Staatskirche.“ (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV),

–das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV; Gleichstellung der Weltanschauungsgemeinschaften in Art. 137 Abs. 7 WRV),

–der Korporationsstatus (Kirchen- und Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV),

–das Vertragsstaatskirchenrecht (vertragliche Regelungen zwischen Staat und Kirchen oder Religionsgemeinschaften, (vgl. z. B. den bayerischen Kirchenvertrag vom 15. November 1924 – RS 110 – und den auf Bundesebene vereinbarten Militärseelsorgevertrag vom 22. Februar 1957 – RS 192).

Dieses System zeichnet sich aus durch die Bestimmung des Staates

–als weltanschaulich religiös neutraler Staat (Grundsatz der Neutralität),

–der sich mit keiner auf seinem Gebiet vorhandenen Religion oder Weltanschauung identifizieren darf (Grundsatz der Nicht-Identifikation),

–der diese Religionen und Weltanschauungen formal gleich zu behandeln hat (Grundsatz der Parität), was freilich nicht ausschließt, dass an tatsächlich bestehende Unterschiede angeknüpft werden kann (z. B. Größe, Relevanz in der Öffentlichkeit usw.),

–der die Eigenständigkeit und die Selbstbestimmung der Kirchen und der Religionsgemeinschaften innerhalb der Schranken der für alle geltenden Gesetze anerkennt und gewährleistet und ihnen hierfür das Wirken in den Formen des öffentlichen Rechts ermöglicht,

–der schließlich allen seinen Bewohnern ein umfassendes Recht auf Religionsfreiheit zugesteht.


Der Staat anerkennt den Freiheitsbereich des einzelnen im religiösen Bereich. Dies muss er schon deshalb tun, weil ihm die Würde des Menschen vorgegeben und deren Schutz oberste staatliche Aufgabe ist (Art. 1 Abs. 1 GG). Zu dieser Menschenwürde gehört notwendigerweise auch ein positiver – wie negativer – Transzendenz-Bezug. In dieser Freiheitsgewährung unterscheidet sich unser Staat von ideologisch geprägten Staaten, die dem Menschen auch seine Wertvorstellungen in ihrem Sinne vorgeben. Der Staat unseres Grundgesetzes anerkennt nicht nur den Freiheitsbereich des einzelnen, sondern auch den der religiösen Vereinigungen, der Kirchen, Religionsgemeinschaften oder auch Weltanschauungsgemeinschaften. Durch seine verfassungsrechtlichen Gewährleistungen bietet er diesen einen rechtlichen Rahmen für die Gestaltung ihres Wirkens, den diese durch ihr eigenes geistliches oder weltanschauliches Selbstverständnis füllen. Was Glaube, Bekenntnis, Religionsausübung, kirchliches Selbstverständnis u.ä. ist, unterliegt daher nicht der staatlichen Definition, sondern der je eigenen Ausführung und Sinnbestimmung des einzelnen oder der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Unser staatskirchenrechtliches System ist daher stark freiheitlich geprägt. Es ist ein System der „freiheitlichen Zuordnung der beiderseitigen Aufgaben und des beiderseitigen Wirkens“ von Staat und Kirche.

 

Da Staat und Kirche sich – je von ihrem Ansatz und Auftrag her – jedoch für dieselbe Gesellschaft und für dieselben Menschen verantwortlich fühlen (als Staatsbürger und als Kirchenmitglieder), und es durch die zunehmende Verantwortung des Staates als Sozialstaat mit dem Ziel einer umfassenden Daseinsvorsorge oft zu einer Überlagerung und Konkurrenz staatlicher und kirchlicher Aktivitäten kommt, bedarf es einer „verständigen Kooperation“ zwischen Staat und Kirche. Diese modifizierte oder auch positive Trennung stellt sich daher dar als „wechselseitige Selbstständigkeit innerhalb eines Koordinationssystems oder als Partnerschaft zwischen Kirche und Staat“. Ausgehend von beiderseitiger Freiheit und Unabhängigkeit voneinander hält dieses Modell also Kirche und Staat zu Kooperation an. Gerade weil der Staat Religiöses nicht selbst bestimmen darf, bedarf es dieser Kooperation und Verständigung, wenn beide – Staat und Kirche – in sich berührenden oder auch überlagernden Arbeitsfeldern tätig werden.