Evangelisches Kirchenrecht in Bayern

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

6.Besonderheit des deutschen Systems

Mit der verfassungsrechtlichen Gewährleistung eines näher ausgeformten Systems institutioneller Garantien (Art. 140 GG i. V. m. den Weimarer Kirchenartikeln) neben der Garantie der Religionsfreiheit unterscheidet sich das deutsche staatskirchenrechtliche System von anderen Rechtsordnungen. Diese kennen meist nur die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Religionsfreiheit selbst, während institutionelle Garantien zum Teil als von dieser umfasst angesehen werden, zum Teil auch in besonderen Religionsgesetzen oder Konkordaten oder Einzelverträgen näher festgelegt werden. Auch diese Besonderheit ist historisch bedingt: Das alte deutsche Reich war der einzige größere Staatenverband, in dem mehrere, sich zudem theoretisch ausschließende Konfessionen gleichberechtigt nebeneinander bestanden, während in den anderen Ländern im Wesentlichen eine Konfession bestanden hat. Dieses konfessionelle Nebeneinander wurde ermöglicht durch die Festschreibungen im Augsburger Religionsfrieden (1555) und dem Westfälischen Frieden (1648). In dieser paritätischen Behandlung der damals drei Konfessionen liegen die Wurzeln der verfassungsrechtlichen institutionellen Garantien, die dann 1919 auf alle Religionsgemeinschaften ausgedehnt worden sind.

Beide Garantien – die institutionellen des Art. 140 und die Religionsfreiheit des Art. 4 – sind als Einheit anzusehen. Beide sind die Grundlagen der Gestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, d.h. unserer staatskirchenrechtlichen Ordnung. Es sind Garantien, die die Freiheit des einzelnen und der Gemeinschaften sichern und schützen und dadurch ein Zusammenleben unter dem Bekennen verschiedener Anschauungen erst recht ermöglichen. Nicht um Privilegien von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften handelt es sich bei diesen Garantien, sondern um eine angemessene Berücksichtigung des vom Staat ohnehin nicht bestimmbaren Eigenlebens und der sich daraus ergebenden Eigenständigkeit von religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften.

Weiterführende Literatur:

Th. Boese, Die Entwicklung des Staatskirchenrechts in der DDR von 1945 bis 1989, Baden-Baden 1994;

A. v. Campenhausen, Steht das Religionsverfassungsrecht vor einem Wandel? Literatur zum Staatskirchenrecht und Kirchenrecht, in: Theologische Rundschau 69 (2004), S. 273–313, = ders., in: Gesammelte Schriften II, Jus Eccl. Bd. 109, Tübingen 2014, S. 91–127; ders., Religionsfreiheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 7 (Freiheitsrechte), 3. Aufl. Heidelberg 2009, § 157, insbesondere Rz. 6–43;

H. de Wall, Heinrich, Das Staatskirchenrecht des Grundgesetzes: Zeitgemäß und zukunftssicher? Rechtliche Perspektiven, in: Ph. W. Hildmann/ Stefan Rößle (Hrsg.), Staat und Kirche im 21. Jahrhundert, Hanns-Seidel-Stiftung, Berichte und Studien 96 (www.hss.de), S. 27–58.

Cl. Fuchs, Das Staatskirchenrecht der neuen Bundesländer, Jus Eccl. Bd. 61, Tübingen 1999;

St. Heitmann, Die Entwicklung von Staat und Kirche aus der Sicht der „neuen“ Länder, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, Bd. 39 (1994), S. 402–417;

E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart u. a. O. 1981;

A. Kupke, Die Entwicklung des deutschen „Religionsverfassungsrechts“ nach der Wiedervereinigung, insbesondere in den neuen Bundesländern, Berlin 2004;

Chr. Link, Ein Dreivierteljahrhundert Trennung Kirche und Staat in Deutschland, in: Becker, Bernd u.a. (Hrsg.), Festschrift für Werner Thieme zum 70. Geburtstag, Köln u.a. O. 1993, S. 95–122; ders., Staat und Kirche in der neueren deutschen Geschichte. Fünf Abhandlungen, Frankfurt/M. 2000; ders., Staat und Kirche in einer sich wandelnden Gesellschaft, in: Byrd, B. Sharon/Joerden, Jan C., Philosphia Practica Universalis. Festschrift für Joachim Hruschka zum 70. Geburtstag, Berlin 2005, S. 257–274, ders., Kirchliche Rechtsgeschichte (A.), insbesondere §§ 26, 31 und 33;

St. Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 7 (Freiheitsrechte), 3. Aufl. Heidelberg 2009, § 159.

1Erstmals von Papst Gelasius (492–496) vertreten, dann sich fortsetzend in der mittelalterlichen Zwei-Schwerter-Lehre, wie sie etwa auch in den bekanntesten mittelalterlichen deutschen Rechtsbüchern, dem Sachsenspiel und dem Schwabenspiegel, aus dem 13. Jahrhundert enthalten ist: zwei Schwerter hat Gott zum Schutz der Christenheit verliehen, das geistliche Schwert dem Papst, das weltliche dem Kaiser. Nach der extremen kurialistischen Theorie erhält der Kaiser das weltliche Schwert vom Papst, sodass also die weltliche Macht der geistlichen untergeordnet ist. Im Investiturstreit fand diese Auseinandersetzung ihren Höhepunkt mit der Durchsetzung des päpstlichen Weltherrschaftsanspruch. Zunehmend gewann jedoch die staatliche Seite in den allmählich zu eigenen Staaten sich herausbildenden Territorien zumindest faktisch, zum Teil auch rechtlich die Oberhand.

2K. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. I (1918–1934), Frankfurt/M. u. a. O. 1977, S. 19 f.

3Grundlegend dazu W. Huber, Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973; K. Schlaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, in: HdbStKirchR Bd. 2 (A.), jetzt auch in: ders., Gesammelte Aufsätze, Jus Eccl. Bd. 57, Tübingen 1997, S. 480–523; G. Klostermann, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen – Rechtsgrundlagen im kirchlichen und staatlichen Recht, Jus Eccl. 64, Tübingen 2000; ders., Der kirchliche Öffentlichkeitauftrag, in: HevKR (A.), § 22 (S. 775–796.

4Vgl. dazu die Denkschrift des Rates der EKD zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche „Das rechte Wort zur rechten Zeit“, Gütersloh 2008. Die Denkschriften des Rates der EKD, von denen insbesondere die Ost- und Vertriebenen-Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ (1965) und die Demokratie-Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“ (1985) hervorzuheben sind, sind u. a. über das Internet-Portal der EKD abrufbar.

5K. Schlaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, Gesammelte Aufsätze, S. 480.

6R. Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz, in: ZevKR, Bd. 1 (1951), S. 4–14 (4).

7BT-Drucksache 12/6000.

8Zuletzt Bundesverfassungsgericht vom 22.10.2014, BVerfGE 137, 273.

§ 7Religionsfreiheit
1.Bedeutung

Die Religionsfreiheit genießt in unserer Rechtsordnung eine besondere Stellung. Dies wird schon dadurch deutlich, dass sie in den Verfassungen (Art. 4 GG – RS 100; Art. 107 BV – RS 105) in den Grundrechtsteil aufgenommen ist, während sie beispielsweise in der Weimarer Reichsverfassung noch an der Spitze des Abschnittes „Religion und Religionsgesellschaften“ stand (Art. 135), also im Zusammenhang mit den Religionsartikeln. Dies wird weiter dadurch deutlich, dass es sich bei ihr um ein Menschenrecht handelt, das nicht nur den deutschen Staatsbürgern, sondern allen Menschen gewährleistet ist, welches ferner – wenigstens formal – ohne Vorbehalt gilt und auch nicht nach Art. 18 GG verwirkt werden kann. Die Religionsfreiheit steht in engem Zusammenhang mit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), zu der der Bezug zur Transzendenz und damit auch die Frage nach dem Lebenssinn gehört. Sie gehört damit zu den fundamentalen Normen nicht nur des Religionsverfassungsrechts, sondern unserer Rechtsordnung überhaupt: Durch die Gewährleistung der Religionsfreiheit erkennt der Staat das Bedürfnis des Menschen nach religiöser oder weltanschaulicher Orientierung als grundlegendes menschliches Bedürfnis an. Dadurch ist er auch gehindert, sich gegenüber denjenigen Gemeinschaften, die der Befriedigung dieses Grundbedürfnisses dienen, indifferent oder gar ablehnend zu verhalten.

Ergänzt und in bestimmten Teilbereichen konkretisiert wird Art. 4 durch weitere Vorschriften im GG, nämlich

–Art. 3 Abs. 3 (keine Bevorzugung oder Benachteiligung wegen des Glaubens oder religiöser Anschauungen),

–Art. 33 Abs. 3 (staatsbürgerliche Rechte und Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig von religiösem oder weltanschaulichem Bekenntnis),

–Art. 140 i. V. m. Art. 136 WRV (staatsbürgerliche Rechte und Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig von religiösem oder weltanschaulichem Bekenntnis; grundsätzlich kein Zwang zur Offenbarung religiöser Überzeugungen; kein Zwang zur Teilnahme an kirchlichen oder religiösen Handlungen); sowie

–Art. 7 Abs. 2 und 3 (Religionsunterricht in der Schule als Ausfluss der Religionsfreiheit).

2.Schutzbereich

a)Im Einzelnen sind durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützt:

–die Glaubens- und Gewissensfreiheit, d.h. die Freiheit des Denkens, das sog. forum internum,

 

–die Bekenntnisfreiheit, d.h. die Freiheit des Redens, die Freiheit, seinen Glauben oder Unglauben zu äußern oder auch zu verschweigen, aber auch die Freiheit, seinem Glauben gemäß zu leben,

–die Religionsausübungsfreiheit, d. h. die Freiheit des Handelns, die Freiheit zur Vornahme aller denkbaren kultischen Handlungen und der Beachtung religiöser Gebräuche,

–die religiöse Vereinigungsfreiheit, d.h. die Freiheit, aus gemeinsamem Glauben sich zu einer Religionsgemeinschaft zusammenzuschließen, einschließlich der Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr.

Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnis-, Religionsausübungs- und religiöse Vereinigungsfreiheit sind nach heutigem Verständnis Ausfluss eines einheitlichen, für die Lebensgestaltung des einzelnen umfassenden Rechts der Religionsfreiheit. Diese verschiedenen Bereiche überlappen sich zum Teil, insbesondere geht die Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 Abs. 2) inhaltlich in der Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1) auf.1 Die Einzelaufzählung dieser Bereiche erklärt sich aus historischen Gründen, nämlich einem in früherer Zeit abgestuften und nicht allen in gleicher Weise zustehenden Recht auf Religionsausübung, und vor allem aus der Abwehrhaltung gegenüber Störungen der Religionsausübung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.

b)Die Glaubensfreiheit als innerster Kern der Religionsfreiheit schützt das Recht, einen Glauben, eine religiöse Überzeugung zu haben. Dabei ist nicht das Fürwahrhalten jedes beliebigen Meinungsinhaltes geschützt, sondern nur der Glaube, der auf eine – wie immer geartete – Gottesvorstellung gerichtet ist. Wegen der Gleichstellung des weltanschaulichen Bekenntnisses sind aber auch Überzeugungen ohne transzendenten Bezug, der Glaube an weltanschauliche Gedankensysteme geschützt, die auf eine Sinndeutung der Welt im Ganzen abzielen, eine Gottesidee aber gerade nicht kennen. Eine genaue Abgrenzung zwischen religiösem und weltanschaulichem Bekenntnis erübrigt sich wegen dieser Gleichstellung eigentlich. Es wird jedoch, um unüberschaubare Ausuferungen zu vermeiden, auch für Weltanschauungen, die dem Schutz des Art. 4 unterfallen, eine ähnliche Geschlossenheit und Breite gefordert, wie sie den Religionen eigen sind. Der Glaube an Inhalte herkömmlicher oder auch neuer Religionen steht also rechtlich gleich den Überzeugungen etwa anthroposophischer, existenzphilosophischer oder marxistischer Weltanschauungen. Allerdings können nicht allein die Behauptung und das Selbstverständnis, eine Gemeinschaft bekenne sich zu einer Religion und sei eine Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft, bereits den Schutz des Art. 4 rechtfertigen. Es muss sich vielmehr auch tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion bzw. Religions- oder Weltanschaungsgemeinschaft handeln. Ob dies gegeben ist, obliegt – als Anwendung von Art. 4 als Regelung der staatlichen Rechtsordnung – den staatlichen Organen, letztlich den Gerichten. Diese haben dabei allerdings keine freie Bestimmungsmacht, sondern müssen „den von der Verfassung gemeinten oder vorausgesetzten, dem Sinn und Zweck der grundrechtlichen Verbürgung entsprechenden Begriff der Religion zugrunde legen“.2

Geschützt sind die Freiheit der Glaubenswahl, die Informationsbemühungen, die Zuwendung zur Glaubens- oder Weltanschauungsgemeinschaft, als Folge davon auch der Beitritt zu, der Austritt aus oder der Wechsel von Glaubensgemeinschaften. Diese „elementare Freiheit der inneren Überzeugung“3, sei sie religiös, areligiös oder antireligiös, wird durch Art. 4 GG geschützt.

c)Die Bekenntnisfreiheit umschließt nicht nur die Freiheit des kultischen Handelns, der Propaganda, des Werbens für den eigenen Glauben und der Abwerbung von fremdem Glauben, sondern auch die Freiheit, den Glauben zu manifestieren, zu bekennen und zu verbreiten. Sie gewährt dem Einzelnen „einen vom staatlichen Eingriff freien Rechtsraum, indem er sich die Lebensform zu geben vermag, die seiner Überzeugung entspricht“. Hierzu gehört insbesondere das Recht, „sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“.4 Dies ist Folge und Anerkenntnis dessen, dass religiöse Überzeugungen gerade im alltäglichen Geschehen umgesetzt sein wollen, auf Verwirklichung im praktischen Leben zielen.

Hierzu zählen, um nur einige Beispiele herauszugreifen, die religiöse Erziehung der Kinder, das Tragen einer bestimmten Kleidung (Ordenstracht, Kopftuch) und die Beachtung religiöser Feiertage. Feiertagsregelungen, die an „kirchlichen Feiertagen“ den Gottesdienstbesuch während der normalen Arbeitszeit zulassen, gelten wegen Art. 3 Abs. 3 GG in gleicher Weise für christliche wie nichtchristliche Religionen. Dazu gehört auch das Recht, nicht ausgerechnet an einem hohen Feiertag der eigenen Glaubensgemeinschaft zu einer gerichtlichen Verhandlung, als Jude am Samstag oder als Christ am Sonntagvormittag zur Zeit des Gottesdienstes zum Verkehrsunterricht nach § 48 der Straßenverkehrsordnung geladen zu werden.5 Die Ordnung staatlicher Einrichtungen hat auf die Erfüllung religiöser Wünsche Bedacht zu nehmen. In besonderen Statusverhältnissen kann dies bedeuten, dass der Staat durch positive Vorkehrungen den betreffenden Personen die Wahrnehmung ihrer religiösen Rechte oder die Erfüllung ihrer religiösen Pflichten zu ermöglichen hat. Krankenhaus-, Gefängnis- oder Militärseelsorge sind hierfür Hauptbeispiele.6

d)Zur Freiheit der Religionsausübung zählen kultische Handlungen und die Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche. Als selbstverständliche Beispiele nennt das Bundesverfassungsgericht etwa: Gottesdienst, Sammlung von Kollekten, Gebete, Sakramentenempfang, Prozessionen, Zeigen von Kirchenfahnen, liturgisch begründetes Glockenläuten7, ferner religiöse Erziehung, im Rahmen der Weltanschaungsfreiheit: frei-religiöse und atheistische Feiern (Jugendweihe), sowie andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens.8 Ferner wird von der Freiheit der Religionsausübung auch die diakonisch-karitative Tätigkeit umfasst.9 Zur Religionsausübung gehören ferner nicht nur die altvertrauten religiösen Gebräuche; vielmehr können auch fremde, neue oder aus anderen Religionen stammende Kultformen diesem Schutzbereich unterfallen, wie z. B. die Beschneidung von Jungen10 und das Schlachten von Tieren ohne Betäubung (Schächten) als Kulthandlung bei israelitischen Kultusgemeinden oder nach islamischen Religionserfordernissen.11

Gemeinschaften, die sich zwar als Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften bezeichnen, in erster Linie aber auf eine wirtschaftliche Tätigkeit abzielen, genießen indes nicht den Schutz des Art. 4.12

e)Die religiöse Vereinigungsfreiheit umfasst die Freiheit, aus gemeinsamem Glauben sich zu einer Religionsgemeinschaft zusammenzuschließen und zu organisieren, damit dieser Gemeinschaft eine rechtliche Gestalt zu geben und am allgemeinen Rechtsverkehr teilzunehmen. Damit ist allerdings kein Anspruch auf eine bestimmte Rechtsform verbunden, z. B. die eines rechtsfähigen Vereins oder einer sonstigen Form der juristischen Person. Gewährleistet ist die Möglichkeit einer „irgendwie gearteten rechtlichen Existenz einschließlich der Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr“.13

Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 4 WRV eröffnet den Religionsgemeinschaften die Möglichkeit, die Rechtsfähigkeit nach den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu erwerben, z. B. nach den Vorschriften des Vereinsrechts. Dabei gebietet es die religiöse Vereinigungsfreiheit, das Eigenverständnis der Religionsgemeinschaft, „soweit es in dem Bereich der in Art. 4 Abs. 1 als unverletzlich gewährleisteten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit wurzelt und sich in der durch Art. 4 Abs. 2 geschützten Religionsausübung verwirklicht, bei der Auslegung und Handhabung des einschlägigen Rechts, hier des Vereinsrechts des Bürgerlichen Gesetzbuches, besonders zu berücksichtigen“. Dies umfasst nicht nur die volle Ausschöpfung von Gestaltungsspielräumen, soweit sie das Recht zulässt, sondern auch – bei Anwendung zwingenden Rechts – die Nutzung von gegebenen Auslegungsspielräumen zugunsten der Religionsgemeinschaft. Unvereinbar mit der religiösen Vereinigungsfreiheit wäre jedenfalls ein Ergebnis, das eine Religionsgemeinschaft im Blick auf ihre innere Organisation von der Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr ganz ausschlösse oder diese nur unter unzumutbaren Erschwerungen ermöglichte.

3.Positive und negative Religionsfreiheit

Fallbeispiel 1:

Der neue Chefarzt Dr. Freimut am Städtischen Krankenhaus in M. nimmt daran Anstoß, dass entsprechend einem Stadtratsbeschluss Patienten bei ihrer Aufnahme, unter Hinweis darauf, dass die Frage nicht beantwortet zu werden brauche, danach gefragt werden, welche Konfession sie haben und ob sie einen Besuch des Krankhausseelsorgers oder der Krankenhausseelsorgerin wünschen. Dr. Freimut möchte dies zunächst mit der für die Seelsorge an diesem Krankenhaus zuständigen Pfarrerin Katharina Klug besprechen.

Was wird Pfarrerin Klug dazu sagen?

a)Das Grundrecht des Art. 4 hat nicht nur eine positive, sondern auch eine negative Komponente, die historisch gesehen zunächst im Vordergrund stand.

Exkurs zur geschichtlichen Entwicklung:

Im Augsburger Religionsfrieden (1555) kam es zu einer Gleichstellung des katholischen und evangelischen Bekenntnisses. Anerkannt war hier aber nur das Recht der Landesherren auf Konfessionswahl und auf Festlegung des Bekenntnisstandes (ius reformandi). Die einzelnen Untertanen hatten der Landesreligion anzugehören (cuius regio eius religio); abweichende Konfessionen konnten verboten, deren Anhänger vertrieben oder auch toleriert werden. Nur in Ansätzen war für die Untertanen „Religionsfreiheit“ insoweit anerkannt, als sie unter bestimmten Bedingungen in ein Land ihrer Konfession auswandern durften (ius emigrandi). Der Westfälische Friede (1648) ging einen Schritt weiter, indem er auf das öffentliche exercitium religionis des „Normaljahres“ 1624 abstellte und die Reformierten als dritte Religionspartei anerkannte. Aus dem Emigrationsrecht der Anderskonfessionellen und derjenigen, die 1624 kein Recht zur öffentlichen Religionsausübung hatten, erwuchs das Recht zu bleiben und ihren Glauben wenigstens in nicht öffentlicher Form (Hausandachten) ausüben zu können; Besuche des öffentlichen Gottesdienstes in benachbarten Gebieten ihrer Religion waren erlaubt. Die Anerkennung einer individuellen Religionsfreiheit mit Glaubens- und Gewissensfreiheit für jedermann erfolgte dann zuerst in Preußen im Allgemeinen Landrecht von 1794 (§§ 1 ff. II 11 ALR). Allerdings war nur ein Kirchenübertritt, kein völliger Kirchenaustritt möglich. Letzteres wurde erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesetzlich geregelt. Allerdings blieb auch nach dem ALR die Religionsausübung weiterhin abgestuft. Nur die drei anerkannten Konfessionen hatten das Recht der öffentlichen Religionsausübung, einschließlich des Rechts auf Kirchturm und Glockengeläut (§ 25 II 11 ALR). Andere Konfessionen sowie Sekten hatten den Status „geduldeter Kirchengesellschaften“, denen nur die freie Ausübung von „Privat-Gottesdiensten“ gestattet war (§ 22 II 11 ALR).

Ähnlich war die Rechtslage in Bayern nach Anerkennung einer individuellen Glaubens- und Gewissensfreiheit, zuerst durch die Amberger Resolution vom 10. November 1800, durch das Toleranzedikt vom 26. August 1801 und das Religionsedikt vom 10. Januar 1803. Das Religionsedikt vom 18. Mai 1818 (RE) kannte wie das ALR die öffentliche Religionsausübung nur durch die drei anerkannten Konfessionen (§ 28 RE), während die anderen Glaubensgemeinschaften „Privat-Gesellschaften“ waren (§ 32 RE) – mit der Befugnis der freien Ausübung ihrer „Privat-Gottesdienste“ (§ 33 RE) ohne Glockenrecht (§ 35 RE).14

 

Umfasst ist von Art. 4 sowohl die Freiheit, religiös zu sein, aber auch areligiös oder gar antireligiös. Garantiert ist nicht nur das Recht, eine religiöse Überzeugung zu äußern, und bestimmte kultische Handlungen vorzunehmen, sondern auch das Recht, keine religiöse Überzeugung zu äußern und kultischen Handlungen fern zu bleiben.15 Mit anderen Worten: Geschützt ist die Freiheit zu glauben oder auch nicht zu glauben, einen Glauben zu bekennen oder ihn zu verschweigen, sich von ihm loszusagen und einem anderen Glauben zuzuwenden, ihn auszuüben oder auch nicht auszuüben. Der Kirchenaustritt, die Möglichkeit, Schüler von der Teilnahme am Religionsunterricht abzumelden16, die Befugnis staatlicher Lehrkräfte, nicht gegen ihren Willen Religionsunterricht erteilen zu müssen17, die Möglichkeit der Verweigerung der Angabe der Konfessionszugehörigkeit in bestimmten Fällen (z. B. bei der Aufnahme in ein Krankenhaus)18 finden hier ihre Grundlage. Gemäß Art. 140 GG/136 Abs. 3 WRV besteht ein behördliches Fragerecht mit korrespondierender Auskunftspflicht nur, wenn davon Rechte und Pflichten auch im staatlichen Bereich abhängen (z. B. die Konfessionsangabe bei der Meldebehörde im Hinblick auf die Verpflichtung zur Zahlung der Kirchensteuer) oder eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung dies erfordert (z. B. Volkszählung19).

b)Zu schwierigen Abgrenzungsproblemen kann es kommen, wenn positive und negative Religionsfreiheit aufeinandertreffen. Als Beispiel sei hier der sog. Schulgebets-Fall angeführt: Das Bundesverfassungsgericht hat – unter Aufhebung eines Urteils des Hessischen Staatsgerichtshofes20 – entschieden, dass das allgemeine Schulgebet im Grundsatz auch dann verfassungsrechtlich unbedenklich sei, wenn ein Schüler oder dessen Eltern der Abhaltung widersprechen. Deren Grundrecht der negativen Religionsfreiheit sei jedenfalls dann nicht verletzt, wenn über die Teilnahme am Gebet frei und ohne Zwänge entschieden werden könne. Die bei Beachtung des Toleranzgebotes regelmäßig vorauszusetzende Freiwilligkeit sei aber dann nicht mehr gesichert, wenn der Schüler nach den Umständen des Einzelfalles der Teilnahme nicht in zumutbarer Weise ausweichen könne. Es dürfe keinesfalls zu einer Diskriminierung des oder der Andersdenkenden kommen. In diesem Fall hätte die negative Religionsfreiheit Vorrang.21 Bei Kollisionen von positiver und negativer Religionsfreiheit ist, wie auch bei sonstigen Grundrechts- oder Verfassungskollisionen, eine Abwägung zwischen dem Inhalt der verschiedenen widerstreitenden Rechtsgüter (hier: positive und negative Religionsfreiheit) vorzunehmen und diese zu einem möglichst schonenden Ausgleich zu bringen. Die Freiheit, etwas anderes oder nichts zu glauben, umschließt jedenfalls nicht die Freiheit, andere mit staatlicher Hilfe an der Entfaltung ihres Glaubens zu hindern.

c)Die Freiheiten des Art. 4 gelten nicht nur für den einzelnen selbst, sondern auch für die Religionsgemeinschaften als solche. Damit sind diese selbst grundrechtsfähig und insoweit auch berechtigt, Verfassungsbeschwerde wegen Grundrechtsverletzungen zu erheben. Als Gemeinschaften, als Gemeinde der Gläubigen, haben also auch sie den Freiheitsanspruch auf Glaubensüberzeugung, Glaubensbekenntnis und Glaubensbetätigung. Dies gilt auch für Vereinigungen, die mit Kirchen oder Religionsgemeinschaften organisatorisch oder institutionell verbunden sind, aber auch für andere selbstständige oder unselbstständige Vereinigungen, „wenn und soweit ihr Zweck die Pflege oder Förderung eines religiösen Bekenntnisses oder die Verkündung des Glaubens ihrer Mitglieder ist“.22 Dabei ist bei der Frage, was im einzelnen Religionsausübung ist, das Selbstverständnis dieser Religionsgemeinschaften im besonderen Maße zu beachten23; andererseits darf dieses – im Hinblick auf zwingende staatliche Sicherheits- und Gefahrenabwehrerfordernisse gegenüber extremistischen religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaften – nicht zu einer „Hypertrophie“24 des Grundrechts der Religionsfreiheit führen.25

Geschützt ist aber auch eine nur vereinzelt auftretende Glaubensüberzeugung, die von den offiziellen Lehren der Kirchen und Religionsgemeinschaften abweicht.26 Wer beispielsweise überzeugt ist, ihm sei durch eine Glaubensvorschrift jede Leistung eines Eides – einschließlich einer Fassung ohne religiösen oder transzendenten Bezug – untersagt (vgl. etwa Matth. 5, 33–37), kann als Zeuge vor Gericht unter Berufung auf Art. 4 die Eidesleistung verweigern, auch wenn diese Überzeugung nicht die Mehrheitsauffassung seiner Religions- oder Glaubensgemeinschaft ist. Aus dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes hat der Gesetzgeber die Konsequenz gezogen und den Zeugen im geltenden Prozessrecht die Möglichkeit einer „eidesgleichen Bekräftigung“ eröffnet. Die Möglichkeit einer Verweigerung der Eidesleistung unter Berufung auf religiöse Gründe hat das Bundesverfassungsgericht inzwischen auch auf den Amtseid von Mandatsträgern ausgedehnt.27