Evangelisches Kirchenrecht in Bayern

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4.Schranken der Religionsfreiheit

Fallbeispiel 2:

Am staatlichen Gymnasium in X. ist es üblich, dass täglich zu Beginn des Unterrichts ein gemeinsames überkonfessionelles Schulgebet gesprochen wird. Schülern und Schülerinnen, die nicht am Schulgebet teilnehmen wollen, ist es gestattet, dem Klassenraum während der Verrichtung des Gebets fernzubleiben. Die Eltern des zehnjährigen Siegfried S., der als Einziger in seiner Klasse nicht am Schulgebet teilnimmt, verlangen die Abschaffung des Schulgebets, weil Siegfried aufgrund seiner Nichtteilnahme in eine Außenseiterrolle gerate.

Muss das Schulgebet eingestellt werden?

Fallbeispiel 3:

Der freiberufliche Architekt Markus Möglich beantragt im Zusammenhang mit seiner Einkommensteuererklärung, „die Finanzbehörde möge in geeigneter Weise sicherstellen, dass die von mir gezahlte und noch zu zahlende Einkommensteuer keine Verwendung oder Mitverwendung für militärische Rüstungszwecke findet.“ Außerdem fordert er, dass die laufenden Einkommensteuervorauszahlungen entsprechend dem Anteil des Verteidigungshaushalts am Gesamthaushalt der Bundesrepublik Deutschland herabgesetzt, und falls dies nicht zulässig sei, ihm die Hinterlegung dieses Teils der Vorauszahlungen auf einem Sperrkonto gestattet werde. Zur Begründung führt er aus, dass es ihm sein Gewissen verbiete, diesen Teil der Steuern als mittelbaren Beitrag für Kriegszwecke zu leisten. Wie ist die Rechtslage?

a)Art. 4 garantiert die Religionsfreiheit dem Wortlaut nach ohne Einschränkung und untersteht – anders als z. B. das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) oder die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 2 GG) – keinem Gesetzesvorbehalt. Dennoch gilt dieses Grundrecht nicht schrankenlos. Wie jedes Grundrecht trägt auch Art. 4 eine immanente Schranke (genauer: inhaltliche Bestimmung) in sich. Diese ergibt sich aus dem Umstand, dass die Religionsfreiheit Bestandteil der gesamten Verfassungsordnung ist. Nach dem Grundsatz der „Einheit der Verfassung“ ordnen sich die Grundrechte sowohl nach ihrem Gehalt als auch in ihrer Anwendung in die Grundlagen der Verfassung ein. Von daher erklärt sich die Bindung jeder Verfassungsbestimmung, und damit auch des Art. 4, an die sittlichen Grundlagen der grundgesetzlichen Wertordnung. Geschützt ist daher – mit den Worten des Bundesverfassungsgerichtes – nicht „irgend eine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens, … sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat“28.

b)Einschränkungen durch Gesetze oder aufgrund eines Gesetzes sind nach dem Wortlaut des Art. 4 nicht möglich. Nur solche Grenzen sind gesetzt, die sich aus der Verfassung selbst29, also durch andere Bestimmungen des Grundgesetzes ergeben. Dies können Grundrechte anderer sein oder mit Verfassungsrang ausgestattete Gemeinschaftsinteressen30 bzw. auch Gesetzesvorschriften, die derartige Verfassungspositionen deklaratorisch näher ausfüllen. Zu diesen Gemeinschaftsinteressen im Verfassungsrang zählen z. B.

–die Schulpflicht,

–die Steuerpflicht,

–ein geordnetes Gerichtsverfahren mit Zeugen- und Eidespflicht,

–der geordnete Strafvollzug,

–Handlungs- und Duldungspflichten, die sich aus der Beachtung von Strafgesetzen oder des Schutzes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ergeben.

In jedem Fall hat dann eine Güterabwägung stattzufinden, welche die anderen Grundrechtsverbürgungen oder die sonstigen verfassungsrechtlichen Werte in Beziehung zur Religionsfreiheit setzt und im Bemühen um eine praktische Konkordanz versucht, die einzelnen beteiligten Rechtsgüter zu „optimaler, d. h. auch sich gegenseitig limitierender Geltung zu bringen“.

Eine solche Abwägung ist aber niemals allgemein möglich, sondern nur im konkreten Einzelfall. Dabei kann auch die Religionsfreiheit – trotz ihres hohen verfassungsrechtlichen Ranges – im Einzelfall höherrangigen Rechtsgütern weichen müssen. Bei Kollisionen mit Grundrechten anderer wird dies z. B. immer dann der Fall sein, wenn das Recht auf Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) oder auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) durch die Religionsausübung tangiert werden. Bei Kollisionen mit anderen Grundrechten dagegen oder mit Gemeinschaftswerten im Verfassungsrang wird es auf den jeweiligen Einzelfall ankommen. Dies soll anhand folgender Beispiele aus der Rechtsprechung verdeutlicht werden:

(1) Das Recht auf Religionsausübung umfasst zwar grundsätzlich auch das Recht, für seinen Glauben zu werben und andere von ihrem bisherigen Glauben abzuwerben. Als Verstoß gegen die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und Missbrauch der Religionsausübung ist es jedoch z. B. anzusehen, wenn ein Strafgefangener unter Ausnutzung der besonderen Verhältnisse im Strafvollzug unter seinen Mitgefangenen Glaubensabwerbung betreibt und für Kirchenaustritte Tabakerzeugnisse verspricht.31

(2) Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) anderer wird regelmäßig der Religionsfreiheit vorzuordnen sein – z. B. dann, wenn Eltern aus religiösen Gründen unter Berufung auf ihre Religionsfreiheit und ihr elterliches Erziehungsrecht das Einverständnis zu einer lebensnotwendigen Bluttransfusion für das Kind verweigern. Im Hinblick auf die eigene Person wäre dagegen bei der Verweigerung einer lebensnotwendigen Operation die religiöse Motivation vorrangig zu beachten.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die „Gesundbeter-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts32: Ein einer evangelischen Freikirche angehörender Ehemann war zunächst wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, schließlich aber wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt worden, weil er es unterlassen hatte, seinen Einfluss auf die Ehefrau geltend zu machen, damit diese entsprechend dem ärztlichen Rat sich in eine Klinik einweisen und dort eine lebensnotwendige Bluttransfusion vornehmen lasse. Dies unterblieb jedoch, weil beide Eheleute eine solche Behandlung im ausschließlichen Vertrauen auf das Gebet (Jak. 5,14 und 15) ablehnten. Das BVerfG hat auf die Verfassungsbeschwerde gegen das strafgerichtliche Urteil festgestellt, dass das Verhalten des Ehemannes zwar objektiv rechtswidrig, aber aufgrund der Grenzsituation, „in der die allgemeine Rechtsordnung mit dem persönlichen Glaubensgebot in Widerstreit“ trat, in Abwägung der besonderen Umstände des Einzelfalles nicht als vorwerfbar und schuldhaft anzusehen sei.

(3) Die unter dem Gesichtspunkt christlichen Beistands33 einem Asylbewerber nach Ablehnung seines Asylantrags und Androhung der Abschiebung in kirchlichen Räumen gewährte vorübergehende Aufnahme (sog. „Kirchenasyl“)34 wird nicht durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gedeckt35, weil insoweit die verfassungsimmanenten Schranken der Funktionsfähigkeit der Rechtsordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) und der speziellen Regelungen des Art. 16a GG greifen.36 Es ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass das in vorrechtsstaatlicher Zeit wurzelnde „Kirchenasyl“ im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat keine Anerkennung mehr finden kann, weil es dort keinen rechtsfreien Raum gibt.37

(4) Das Grundrecht der Religionsfreiheit schützt nicht gegen allgemeine staatsbürgerliche Pflichten wie z. B. die Zahlung von Steuern. Gewissensbedenken eines Steuerpflichtigen gegen Rüstungsausgaben rechtfertigen nicht die Kürzung seiner Steuerschuld um den Anteil, der im Haushalt des Bundes für die Organisation und Finanzierung der Verteidigung verwendet wird. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass der Schutzbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) insofern überhaupt nicht berührt ist, weil die individuelle Steuerschuld unabhängig von der Verwendung des Steueraufkommens ist, über die allein das Parlament bzw. die an Aufträge und Weisungen nicht gebundenen Abgeordneten entscheiden (Art. 110 Abs. 2 und 3 i. V. m. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG).38

(5) Als verfassungsimmanente Schranke der Religionsfreiheit ist zunehmend der staatliche Bildungsauftrag im Schulbereich nach Art. 7 Abs. 1 GG relevant geworden.39 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts hat die Schule über Art. 7 Abs. 1 GG den Auftrag, Schüler und Schülerinnen „zu dem Ganzen gegenüber verantwortungsbewussten Bürgern heranzubilden und hierüber eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion.“40 Diese Funktion käme indes nicht zum Tragen, wenn die Schule zu einer kategorischen Beachtung sämtlicher vorgebrachter religiöser Verhaltensgebote verpflichtet wäre. Dementsprechend hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner jüngeren Rechtsprechung klargestellt, dass die Befreiung vom koedukativen Sport- bzw. Schwimmunterricht die Ausnahme bleiben müsse und nur dann in Betracht komme, wenn die Unterrichtsbefreiung für den Grundrechtsschutz der Betroffenen unerlässlich sei. In diesem Sinne ist eine Ausnahmeentscheidung nicht erforderlich, wenn etwa beim Schwimmunterricht den religiösen Belangen durch das Tragen eines Burkini Rechnung getragen werden könne.41 Außerdem müsse gegebenenfalls die Religionsfreiheit zurücktreten, wenn – etwa durch die Verrichtung eines Gebets auf dem Schulflur – der Schulfrieden, der Voraussetzung für die Erfüllung des staatlichen Bildungsauftrags ist, konkret gefährdet würde.42

 

(6) Dass das Grundrecht der Religionsfreiheit nach deutschem Verfassungsrecht nur eingeschränkt werden kann, wenn Grundrechte Dritter oder andere Rechtsgüter mit Verfassungsrang berührt sind, ist auch im Zusammenhang mit der Debatte um ein Verbot der Vollverschleierung deutlich geworden.43 Ein solches kommt insbesondere aus Gründen der Funktionsfähigkeit der Verwaltung in Betracht. In diesem Sinne verbietet das zum 15. Juni 2017 in Kraft getretene „Gesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften“44 die Gesichtsverhüllung bei der Ausübung des öffentlichen Dienstes (z. B. auch als Lehrkräfte und Richter) und für Soldaten und Soldatinnen sowie im Kontext der Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung oder beim Lichtbilderabgleich. Bei Schülern und Schülerinnen kann die Gesichtsverhüllung in der Schule (nicht aber das Tragen eines Kopftuchs) wiederum im Hinblick auf die Erfüllbarkeit des staatlichen Bildungsauftrags (Art. 7 Abs. 1 GG) auf gesetzlicher Grundlage untersagt werden.45

Diese Beispiele machen schwierige Abgrenzungsfragen bewusst. Die Schwierigkeit besteht vor allem darin, dass der Staat wegen des Prinzips der Neutralität und der Nichtidentifikation selbst nicht den Inhalt der Religionsausübung bestimmen darf. Auch der Warnung vor möglichen Gefährdungen durch einzelne Religionsgemeinschaften oder sog. neue Jugendreligionen sind dadurch enge Grenzen gesteckt.46 Dem Staat bleibt lediglich die Feststellung, ob Grundrechte anderer oder die sonstige verfassungsrechtliche Wertordnung verletzt werden, um dann eine entsprechende Abwägung vorzunehmen. Auch Außenseitern und Sektierern muss die ungestörte Entfaltung ihrer Persönlichkeit gemäß ihren subjektiven Glaubensüberzeugungen gestattet werden, „solange sie nicht in Widerspruch zu anderen Wertentscheidungen der Verfassung geraten und aus ihrem Verhalten deshalb fühlbare Beeinträchtigungen für das Gemeinwesen oder die Grundrecht anderer erwachsen“.47

c)Ein weiteres Problem bei der Schrankenziehung ergibt sich daraus, dass Grundrechte in einen Kernbereich und in sog. Randzonen aufteilbar sind. Im Kernbereich, dem eigentlich geschützten Bereich, ist eine Schrankenziehung nur in den oben aufgezeigten engen Grenzen möglich. Der innerste Kern (forum internum), die Glaubensfreiheit als Freiheit des Denkens, ist sogar gänzlich unantastbar. Wo aber der geschützte Lebensbereich nur am Rande berührt wird, fügt sich jedes Grundrecht in die allgemeine Rechtsordnung ein. Auf die Religionsfreiheit bezogen bedeutet dies: Wo es nur um modale Beschränkungen der Bekenntnis- oder Religionsausübungsfreiheit geht, also z. B. um Ort und Umfang der Religionsausübung, sind Beschränkungen innerhalb der allgemeinen Rechtsordnung (also nicht nur der verfassungsrechtlichen Ordnung) ohne weiteres möglich.

So sind z.B. Beschränkungen der Religionsausübung in der Strafhaft im Interesse eines geordneten Strafvollzuges möglich; so besteht ein Anspruch auf seelsorgerliche Betreuung, aber nicht auf Besuch des Sonntagsgottesdienstes in einer außerhalb der Justizvollzugsanstalt gelegenen Kirche. Die Religionsfreiheit ist auch nicht dadurch verletzt, dass Kirchengebäude den Anforderungen der Bauordnung genügen müssen, dass auch kirchliche Angestellte der Sozialversicherung unterliegen, dass bei Prozessionen auf öffentlichen Straßen Verkehrsvorschriften zu beachten sein können oder musikalische Darbietungen im Rahmen der Religionsausübung nicht zu übermäßigen Störungen des öffentlichen Friedens führen dürfen. Auch können z. B. gottesdienstliche Zusammenkünfte und andere Kulthandlungen in Anwendung des Gesundheitspolizeirechts (Seuchengefahr), Bauordnungsrechts (Einsturzgefahr einer Kirche) oder an einem bestimmten Ort unterbunden werden. In all diesen Fällen handelt es sich um bloß modale, d. h. nicht den Inhalt der Religionsausübung, sondern lediglich die zeitlichen und örtlichen Umstände der Religionsausübung regelnde Beschränkungen.48

d)Ein Eingriff in die Religionsfreiheit liegt ferner nicht vor, wenn eine Maßnahme eine ganz andere Intention verfolgt und die tatsächliche Beeinträchtigung nur als unvermeidbaren Reflex mit sich bringen kann.49

5.Grundrechtsbindung, Paritätsgebot und Neutralität
a)Der Staat als Adressat der Grundrechte

Das Grundrecht aus Art. 4 GG wirkt – gemäß dem Charakter von Grundrechten, die als Abwehrrechte gegenüber dem Staat entstanden sind – gegen alle Träger der öffentlichen Gewalt, also gegen die Behörden des Bundes, der Länder, der sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, soweit diese öffentliche Gewalt ausüben, in den Funktionen der Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Rechtsprechung. Mitglieder von Religionsgemeinschaften können diesen Gemeinschaften gegenüber hinsichtlich eigener abweichender Meinung also nicht das Grundrecht aus Art. 4 ins Feld führen.

Über gewisse Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe kann dieses Grundrecht aber auch in das Privat- und Arbeitsrecht ausstrahlen (sog. Drittwirkung der Grundrechte). So ist ein Vertrag, in dem sich jemand wirtschaftlicher Vorteile wegen zum Konfessionswechsel verpflichtet, sittenwidrig (Verstoß gegen die „guten Sitten“, § 138 BGB); ebenso wäre eine letztwillige Verfügung ungültig, die zu bestimmten Glaubensentscheidungen nötigt. Kirchenaustritt oder Konfessionswechsel kann ein „wichtiger Grund“ für eine Kündigung sein, wenn Konfessionszugehörigkeit als Vertragsinhalt vorausgesetzt war. Arbeitgeber können u. U. verpflichtet sein, islamischen Arbeitsnehmern Gelegenheit zur Einhaltung von Gebetszeiten zu geben, soweit dies mit der Betriebsordnung vereinbar ist, oder in der Werkskantine auch Kost anzubieten, die bestimmten Glaubensvorschriften entspricht.

b)Toleranz, Neutralität und Parität

Aus der gegen den Staat als „Heimstatt aller Bürger ohne Unterschied ihrer Religion oder Weltanschauung“50 gerichteten Grundrechtsverbürgung ergeben sich für diesen folgende Grundpflichten:

(1) Neutralität und Nichtidentifikation hinsichtlich der in seinem Bereich bestehenden Religionen und Weltanschauungen:

Das Neutralitätsgebot verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und die Privilegierung oder Benachteiligung bestimmter Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen. Dass der Staat verpflichtet ist, sich in religiösen und weltanschaulichen Fragen der Parteinahme zu enthalten, bedeutet aber weder Indifferenz noch laizistische Unduldsamkeit. Vielmehr darf der Staat bei seinem Handeln religiöses Wirken berücksichtigen, aus dem „große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen“.

In diesem Sinne offene Neutralität schließt daher die staatliche – selbst finanzielle – Förderung von Religion und Religionsgemeinschaften – unter Beachtung des Paritätsgebotes – nicht grundsätzlich aus.51

(2) Toleranz gegenüber allen in seinem Bereich vorkommenden Religionen und Weltanschauungen und deshalb Parität, d. h. Gleichbehandlung aller Individuen und Vereinigungen, unabhängig von ihrer religiösen oder weltanschaulichen Grundhaltung52:

Das Paritätsgebot fordert die rechtliche Gleichordnung und Gleichbehandlung aller Bürger und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, unabhängig von ihrer spezifischen Überzeugung. Es geht dabei aber nicht um eine schematische Ergebnis-, sondern vielmehr um die Chancengleichheit bei der Realisierung der Religionsfreiheit.53 Differenzierungen sind deshalb zulässig, wenn sie sachlich zu begründen sind. Anerkannt sind Differenzierungen am Maßstab der konkreten Größe, der aktuellen (also nicht allein der historischen) Bedeutung bzw. Verbreitung sowie dem Grad der öffentlichen Wirksamkeit einer Religion bzw. Religionsgemeinschaft.54

c)Insbesondere: Religiöse Symbole in Gerichtssälen, Schulen und Behörden

Wie insbesondere das Neutralitätsgebot konkret zu verstehen ist, soll anhand der Rechtsprechung insbesondere des Bundesverfassungsgerichts, die zu religiösen Symbolen, insbesondere in Gerichtssälen, Schulen und Behörden ergangen ist, veranschaulicht werden:

(1) Kreuze und Kruzifixe in Gerichtssälen verletzen die Religionsfreiheit dann nicht, wenn dadurch keine „eigene Identifizierung mit den darin symbolhaft verkörperten Ideen oder Institution noch ein irgendwie geartetes aktives Verhalten“ verlangt wird. Das Vorhandensein eines Kreuzes bedeutet also und verlangt auch keine Identifizierung mit dem christlichen Glauben. Allerdings darf niemand gezwungen werden, auf das Kreuz zu schwören. Der Staat kann und darf ohne Verletzung seiner Neutralitätspflicht den Umstand einer überwiegenden christlichen Bevölkerungsmehrheit und eines nach wie vor vorhandenen religiösen Interesses dieser Bevölkerung zum Anlass nehmen, christliche Symbole in Gerichtssälen – oder auch Schulsälen – zu verwenden, wenn dadurch kein religiöser Zwang ausgeübt und auch das Kreuz nicht zur Form staatlicher Selbstdarstellung wird. Grundsätzlich werden Andersgläubige und Atheisten durch Kreuze in Gerichtssälen in ihrer negativen Religionsfreiheit also nicht verletzt.55 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes kann allerdings in besonders gelagerten Einzelfällen aufgrund einer individuellen Glaubens- und Gewissenshaltung eine Verletzung von Art. 4 gegeben sein, selbst dann, wenn „weite Kreise der Bevölkerung gegen die Anbringung von Kreuzen in Gerichtssälen nichts einzuwenden haben und auch im Übrigen das Maß der in dieser Ausstattung möglicherweise zutage tretenden ,Identifikation‘ mit spezifisch christlichen Aussagen nicht derart ist, dass die Teilnahme … von andersdenkenden Parteien, Prozessvertretern oder Zeugen in der Regel als unzumutbar empfunden wird“. Andererseits besteht kein aus Art. 4 ableitbarer Anspruch auf Ausstattung von Gerichtssälen mit Kreuzen.

(2) Anlass der kontrovers56 diskutierten sog. „Kruzifix-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Mai 1995 (BVerfGE 93,1) war eine in der früheren bayerischen Volksschulordnung enthaltene Regelung, wonach in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen war.57 Diese ist im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde von Anhängern der anthroposophischen Weltanschauung mit der Begründung angegriffen worden, dass das Kreuz-Symbol, insbesondere aber die Darstellung eines „sterbenden männlichen Körpers“ in den von ihren Kindern besuchten Unterrichtsräumen unter Verletzung ihres elterlichen Erziehungsrechts und ihrer Glaubensvorstellungen im Sinne des Christentums unzulässigerweise auf ihre Kinder einwirke.

Im Ergebnis umfassender Abwägung zwischen der von den Beschwerdeführern geltend gemachten Grundrechte, insbesondere zwischen ihrer negativen Religionsfreiheit und der positiven Religionsfreiheit der Eltern, Schüler und Schülerinnen christlichen Glaubens hat das Bundesverfassungsgericht damals bekanntlich die Beeinträchtigung der negativen Religionsfreiheit höher gewichtet als deren Rechte und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die – allgemein staatlich angeordnete – Anbringung eines Kreuzes oder Kruzifixes in den Unterrichtsräumen einer staatlichen Pflichtschule gegen Art. 4 Abs. 1 GG verstoße. Entscheidungserheblich war die Annahme des Gerichts, dass im Zusammenwirken mit der allgemeinen Schulpflicht durch Kreuze in Unterrichtsräumen eine Situation der Unausweichlichkeit entstehe, die dazu führe, dass die Schüler während des Unterrichts von Staats wegen und ohne Ausweichmöglichkeit mit diesem Symbol konfrontiert sind und gezwungen werden, „unter dem Kreuz“ zu lernen.

 

In Reaktion auf diese Entscheidung verabschiedete der bayerische Gesetzgeber die geltende Regelung des Art. 7 Abs. 3 des BayEUG (RS 125), die zwar wiederum allgemein das Anbringen eines Kreuzes in Klassenzimmern, zugleich aber eine Widerspruchsmöglichkeit vorsieht.

Bemerkenswert ist, dass sich zwischenzeitlich zu einem vergleichbaren Fall in Italien zweimal auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit einer Klage gegen das Anbringen von Kruzifixen in Klassenzimmern zu beschäftigen hatte. Während 2009 eine Kammer der zweiten Sektion des Gerichtshofs 2009 noch davon ausgegangen war, dass Kreuze/Kruzifixe in staatlichen Schulräumen die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK verletzten, hat die Große Kammer des EGMR der dagegen von der italienischen Regierung eingelegten Beschwerde mit Urteil vom 18. März 2011 stattgegeben und festgestellt:

„Das Anbringen von Kruzifixen macht die Mehrheitsreligion des Landes in der Schule besonders sichtbar. Das allein ist keine Indoktrinierung. Das Kruzifix ist ein wesentlich passives Symbol. Die italienischen Behörden und Gerichte haben bei ihrer Entscheidung, es in Klassenzimmern zu belassen, den ihnen zustehenden Ermessensspielraum nicht überschritten.“58

(3) Im Hinblick auf die positive Religionsfreiheit, auf die sich unbeschadet ihres staatlichen Anstellungsverhältnisses auch Lehrkräfte berufen können, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner vom 27. Januar 2015 (BVerfGE 138, 296) unter teilweiser Distanzierung von einer früheren Entscheidung (BVerfGE 108, 282) festgestellt, dass ein allgemeines Kopftuchverbot für staatliche Lehrkräfte ein schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht aus Art. 4 GG und unverhältnismäßig sei. Das Einbringen religiöser Bezüge in Schule und Unterricht durch pädagogisches Personal könne zwar den in Neutralität zu erfüllenden staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG), das elterliche Erziehungsrecht (Art. 7 Abs. 2 GG) und die negative Religionsfreiheit der andersgläubigen Schüler und Schülerinnen (Art. 4 GG) beeinträchtigen. Eine nur abstrakte Gefahr der Beeinträchtigung dieser Verfassungsgüter reiche aber nicht aus, um ein Verbot zu rechtfertigen. Erforderlich sei vielmehr eine konkrete Gefährdung. In diesem Sinne sei die Grenze zu einer konkreten Gefährdung überschritten, wenn die Lehrkraft über das äußere Erscheinungsbild hinausgehende Werbung für den eigenen Glauben betreibe und die Schüler und Schülerinnen im Sinne ihrer Glaubensüberzeugungen einseitig beeinflusse.59

Mit Recht ist auch diese Entscheidung heftig kritisiert worden.60 Insbesondere ist es im Hinblick auf die Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1995 nicht nachvollziehbar, dass, wenn es nun auf eine im Einzelfall gegebene konkrete, nicht mehr aber auf eine nur abstrakte Gefährdung der negativen Religionsfreiheit durch die Verwendung religiöser Symbolik ankommen soll, das Kreuz im Klassenzimmer unter dem Gesichtspunkt der religiösen Neutralität des Staates relevanter sein soll als das Kopftuch der Lehrerin.

(4) Auf der Grundlage der zitierten Rechtsprechung ist – unbeschadet der politischen und kirchenpolitischen Diskussion über Sinnhaftigkeit, Notwendigkeit und Motivation dieser Regelung – die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der am 1. Juni 2018 in Kraft getretenen Änderung der Allgemeinen Geschäftsordnung für die Behörden des Freistaates Bayern zu beurteilen, wonach „im Eingangsbereich eines jeden Dienstgebäudes als Audruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns gut sichtbar ein Kreuz anzubringen“ ist (Bayer. GVBl 2018, S. 281).

Relevant ist hier wiederum insbesondere die Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1995. Darin hat das Bundesverfassungsgericht die besondere Situation von Kreuzen in Klassenzimmern deutlich von der im Alltagsleben häufig auftretenden Konfrontation mit religiösen Symbolen der verschiedensten Glaubensrichtungen unterschieden, weil dort nicht derselbe Grad von Unausweichlichkeit wie in der Schule oder auch im Gerichtssaal, wozu sich das Bundesverfassungsgericht bereits 1973 geäußert hatte (BVerfGE 35, 366), gegeben sei. Das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 1995 wörtlich: „Zwar hat es der Einzelne nicht in der Hand, ob er im Straßenbild, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder beim Betreten von Gebäuden religiösen Symbolen oder Manifestationen begegnet. Es handelt sich in der Regel jedoch um ein flüchtiges Zusammentreffen, und selbst bei längerer Konfrontation beruht diese nicht auf einem notfalls mit Sanktionen durchsetzbaren Zwang.“ Wegen der also in der Regel nur flüchtigen und deutlich weniger geringeren Intensität der Begegnung mit dem Kreuzsymbol beim Betreten eines Amtsgebäudes als im Klassenzimmer dürfte die neue bayerische Regelung somit verfassungsrechtlich zumindest vertretbar sein.

Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang nicht unerheblich, dass aufgrund der, wie dargestellt, im Vergleich zum Klassenzimmer deutlich geringeren Intensität der Begegnung dies erst recht für das Kreuz im Eingangsbereich von Behörden gelten dürfte.61 Diese Einschätzung lässt sich zusätzlich mit der auf eine konkrete Gefahr abstellenden zweiten Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, aber auch mit der Kruzifix-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2011 bekräftigen.