Evangelisches Kirchenrecht in Bayern

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6.Verhältnis zu Art. 140 GG und zu Art. 9 EMRK

a)Soweit das Grundrecht aus Art. 4 nicht individual-, sondern auch kollektivrechtlich verstanden wird, also z. B. auch den Religionsgemeinschaften selbst zusteht, wird Art. 4 ergänzt durch die institutionellen Garantien in Art. 140 GG i. V. m. den Weimarer Religionsartikeln (Art. 136–139, 141). Zwar ist ein bestimmter Kernbereich des kirchlichen Lebens und Wirkens bereits durch Art. 4 geschützt. Die Kirchenfreiheit in Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV ist aber eine „notwendige, wenngleich rechtlich selbstständige Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und Religionsgemeinschaften die zur Wahrnehmung dieser Aufgabe unerlässliche Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung“ hinzufügt.62

b)Das Verständnis, dass ein Kernbereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts Ausfluss der Religionsfreiheit ist, liegt auch der Auslegung des Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zugrunde. In dieser Konvention vom 4. November 1950, der die meisten europäischen Staaten beigetreten sind, und die die Grundlage der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg bildet, ist die Religionsfreiheit ebenfalls umfassend geregelt, in Art. 9 Abs. 2 aber – anders als Art. 4 GG – unter einen Gesetzesvorbehalt gestellt. Art. 9 EMRK lautet:

„(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.

(2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

Der Gesetzesvorbehalt des Art. 9 Abs. 2 EMRK zieht aber ebenfalls nur Schranken, die in etwa den Schranken des Art. 4 (Grundrechte anderer und Gemeinschaftswerte im Verfassungsrang) entsprechen. Im zusammenwachsenden Europa wird die Bedeutung vom Art. 9 EMRK sicherlich noch zunehmen und möglicherweise die Gewährleistung von Grundrechten und Grundfreiheiten durch die nationale Verfassung und deren Überprüfung durch die nationalen Verfassungsgerichte zurücktreten lassen. Auch von daher ist bedeutsam, dass mittlerweile geklärt ist, dass der personelle Schutzbereich nicht nur die individuelle, sondern auch die korporative Religionsfreiheit umfasst, die sachlich mit dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften (für das deutsche Religionsverfassungsrecht also Art. 140 GG i. V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV) identisch ist.63 Damit können sich auch die nach dem Grundgesetz organisierten Religionsgemeinschaften auf Art. 9 EMRK berufen.64

Weiterführende Literatur:

P. Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz. Verfassungsfragen zur Existenz und Tätigkeit der neuen „Jugendreligionen“, Tübingen 1989;

A. von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg)., HdbStR Bd. 7: Freiheitsrechte, 3. Aufl. Heidelberg 2009, § 157;

A. von Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht (A.), § 12;

C. D. Classen, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Grundrechtsordnung, Jus Publicum 100, Tübingen 2003;

M. Herdegen, Gewissensfreiheit, in: HdbStKirchR Bd. 1 (A.), S. 481–504;

St. Korioth/I. Augsberg, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität-Erfordern weltanschauliche und religiöse Entwicklungen Antworten des Staates? JZ 2010, S. 828–834;

J. Listl, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR Bd. 1 (A.), S. 439–479;

J.-B. Schrooten, Gleichheitssatz und Religionsgemeinschaften, Jus Eccl. 112, Tübingen 2015;

P. Unruh, Religionsverfassungsrecht (A.), § 4.

1A. von Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht (A.), S. 54.

2BVerfGE 83, 341, Ls. 1 und 353. Zur Problematik der Definition des Religionsbegriffs vgl. A. von Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht (A.), S. 55 ff.

3v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl. München 2005, Art. 4 Rz. 19.

4BVerfGE 32, 98 (106); 24, 236 (245).

5A. von Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht (A.), S. 58 unter Hinweis auf OLG Köln, NJW 1993, 1345, und OLG Hamm, JZ 1956, 701.

6A. von Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht (A.), S. 58.

7Demgegenüber genießt der einfache Stundenschlag als bloßes Instrument akustischer Zeitansage nicht den Schutz des Art. 4 GG. Vgl. dazu BVerwGE 68, 62 und BVerwGE ZevKR 38 (1993), sowie H.-W. Laubinger, Nachbarschutz gegen kirchliches Glockengeläut, Verwaltungsarchiv 83 (1992), S. 623 ff, und A. Hense, Glockenläuten und Uhrenschlag, Berlin 1998.

8BVerfGE 24, 236 (246).

9Grundlegend dazu die sog. „Lumpensammler-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 24, 236) aus dem Jahr 1968. Darin hat das Bundesverfassungsgericht im Übrigen auch klargestellt, dass nicht nur Individuen, sondern auch die Religionsgemeinschaften und die ihnen zugeordneten diakonischen und sonstigen rechtlich selbstständigen Träger den Schutz des Grundrechts der Religionsfreiheit gemäß Art. 4 Grundgesetz genießen.

10Aus Anlass des zu Recht heftig kritisierten Urteils des LG Köln, NJW 2012, 2128 ff., das die religiös motivierte Beschneidung als strafbare Körperverletzung im Sinne von § 223 Strafgesetzbuch angesehen hat, hat der Bundesgesetzgeber im Ergebnis eines Ausgleichs zwischen den kollidierenden Rechtspositionen – körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) und positive Religionsfreiheit (Art. 4 GG) bzw. elterliches Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) – zur Klarstellung folgende Regelung in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt:

„§ 1631d Beschneidung des männlichen Kindes

(1) Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll. Dies gilt nicht, wenn durch die Beschneidung auch unter Berücksichtigung ihres Zwecks das Kindeswohl gefährdet wird. (2) In den ersten sechs Monaten nach der Geburt des Kindes dürfen auch von einer Religionsgesellschaft dazu vorgesehene Personen Beschneidungen gemäß Absatz 1 durchführen, wenn sie dafür besonders ausgebildet und, ohne Arzt zu sein, für die Durchführung der Beschneidung vergleichbar befähigt sind.“

11Vgl. dazu § 4a Abs. 2 Nr. 2 Tierschutzgesetz; danach kann durch die zuständige staatliche Behörde eine Ausnahmegenehmigung vom Verbot des betäubungslosen Schlachten eines warmblütigen Tieres (Schächten) erteilt werden, wenn „zwingende Vorschriften der Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuss von Fleisch nichtgeschächteter Tiere untersagen.“

Durch das Erfordernis einer solchen behördlichen Genehmigung sah sich ein muslimischer Metzger in seinen Grundrechten verletzt. In seiner Entscheidung vom 15. Januar 2002 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 104, 337) darauf hingewiesen, dass vorrangig nicht das Grundrecht der Religionsfreiheit, sondern vielmehr die bei einem Nichtdeutschen durch Art. 2 des Grundgesetzes im Kontext der allgemeinen Handlungsfreiheit gewährleistete Berufsausübungsfreiheit betroffen sei. Diese ist allerdings – im Unterschied zur ohne einen solchen Vorbehalt garantierten Religionsfreiheit – nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung, d. h. all der Rechtsnormen gewährleistet, die formell und materiell mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Die Vereinbarkeit der Regelungen des Tierschutzgesetzes mit dem Grundgesetz hat das Bundesverfassungsgericht bejaht; zugleich hat es aber festgestellt, dass die Ablehnung einer Ausnahmegenehmigung im konkreten Fall durch die vorausgegangenen Gerichtsentscheidungen unverhältnismäßig gewesen seien. Nach dieser Entscheidung ist 2002 ausdrücklich auch der Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz (Art. 20 a) verankert worden. Dieser tritt nun als verfassungsimmanente Schranke seinerseits unmittelbar in Konkurrenz zum Grundrecht der Religionsfreiheit. Das einfach gesetzlich geregelte Genehmigungserfordernis für die Ausübung des Schächtens erscheint damit gewissermaßen als Ausdruck eines praktischen Ausgleichs zwischen den beiden Grundgesetzbestimmungen.

 

12A. von Campenhausen, Religionsfreiheit (W.), Rz. 96 f.

13BVerfGE 83, 341 Ls. 2 b und S. 355.

14Zur Entwicklung der Religionsfreiheit vgl. insbesondere A. von Campenhausen, Religionsfreiheit (W.), Rz. 6–43; zum ALR: A. Schwennicke, Evangelisches Staatslexikon (Neuauflage), Stuttgart 2006, Sp. 1397 f.; für Bayern: H. Böttcher, Die Entstehung der evangelischen Landeskirche und die Entwicklung ihrer Verfassung (1806–1918), in: G. Müller/H. Weigelt/W. Zorn (Hrsg.), Handbuch der Geschichte der Evangelischen Kirche in Bayern. Zweiter Band. 1800–2000, Sankt Ottilien 2000, S. 1–29 (6).

15Vgl. auch Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 Abs. 3 und 4 WRV.

16Art. 7 Abs. 2 GG; Art. 137 Abs. 2 BV; Art. 46 Abs. 4 BayEUG (RS 125).

17Art. 7 Abs. 3 GG; Art. 136 Abs. 3 BV; Art. 46 Abs. 2 Satz 2 BayEUG (RS 125).

18In diesem Falle ist die Frage zwar erlaubt, die Beantwortung jedoch freigestellt (BVerfGE 46, 266).

19BVerfGE 65, 1/38 ff.

20Hess. StGH vom 27. 10. 1965, KirchE 7, 275.

21BVerfGE 52, 223.

22BVerfGE 24, 236/246.

23BVerfGE 24, 236/247 ff.

24K. H. Kästner, Hypertrophie des Grundrechts auf Religionsfreiheit, JZ 1998, S. 974.

25A. von Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht (A.), S. 51 f.

26BVerfGE 33, 23/28 ff.

27BVerfGE 79, 69/76. Im konkreten Fall ging es um die Ablehnung des gemäß Art. 24 Abs. 4 Bayer. Landkreisordnung verlangten Amtseids eines zum Kreisrat Gewählten.

28BVerfGE 12, 1/4. Danach unterliegen die in diesem Zusammenhang häufig zitierten, indes nicht gerade aktuellen Beispiele von glaubensbedingter Polygamie, Ritualmord, Tempelunzucht, Witwenverbrennung u. ä. gerade nicht dem Schutzbereich des Art. 4 GG.

29BVerfGE 32, 98/108.

30BVerfGE 33, 23/32.

31BVerfGE 12, 1/4.

32BVerfGE 32, 98.

33Thesen zum „Kirchenasyl“ des Rates der EKD vom 9./10. September 1994, in: epd-Dokumentation 43/94.

34Dazu B. Huber, Sanctuary: Kirchenasyl im Spannungsverhältnis von strafrechtlicher Verfolgung und verfassungsrechtlicher Legitimation, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 1988, S. 153–158; G. Robbers, Kirchliches Asylrecht? Archiv für öffentliches Recht 113 (1988), S. 30–51; U. K. Jacobs, Kirchliches Asylrecht, ZevKR 35 (1990), S. 25–43; H.-P. Hübner, Christlicher Beistand für verfolgte Menschen – Anmerkungen zum „Kirchenasyl“ aus der Sicht eines Kirchenjuristen, in: Una Sancta 1998/3, S 213–220; M. A. Müller, Rechtsprobleme beim „Kirchenasyl“, Baden-Baden 1999.

35Strafrechtliche Vorwürfe gegen Mitglieder von Kirchenvorständen, die sich zur Gewährung von „Kirchenasyl“ entschlossen und einen Beschluss zur Überlassung kirchlicher Räume gemäß § 21 Nr. 3 KGO (RS 300) gefasst haben, z.B. wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt nach § 92 Abs. 1 AuslG sind deshalb nicht auszuschließen, auch wenn die zuständigen staatlichen Behörden über den Aufenthaltsort des Asylbewerbers und das Ziel des „Kirchenasyls“ informiert sind („offenes Kirchenasyl“) und das „Kirchenasyl“ sich nicht gegen die Rechtsordnung als solche richtet, sondern als ultima ratio vielmehr dazu dient, dem Recht dort Geltung zu verschaffen, wo die bisherige staatliche Handhabung diesem nicht gerecht zu werden scheint und eine Überprüfung der staatlichen Anordnung erreicht werden soll. Umfassend dazu A. Radtke/H. Radtke, „Kirchenasyl“ und die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Mitgliedern des Kirchenvorstandes, ZevKR 42 (1997), S. 23–60.

36P. Unruh, Religionsverfassungsrecht (A.), § 5 Rz. 132, 168.

37Jetzt auch Urteil des OLG München vom 3. Mai 2018 (Az.: 4 OLG 13 Ss 54/18). Vgl. dazu das Rundschreiben des LKA vom 8. Mai 2018 betr. Kirchenasyl und unerlaubten Aufenthalt.

38BVerfG NJW 1993, 455 = ZevKR 38 (1993), S. 99; A. von Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht (A.), S. 70 f; W. Bock, in: W. Bock/H. Diefenbacher/H.-R. Reuter, Pazifistische Steuerverweigerung und allgemeine Steuerpflicht, Heidelberg 1992, insbesondere S. 129–202 und 216–119.

39Eingehend dazu P. Unruh, Religionsverfassungsrecht (A.), § 5 Rz. 132.

40BVerfGE 34,165/182; BVerwGE 94, 82/84.

41BVerwGE 147, 362 ff.

42BVerwGE 141, 223/236 Rz. 43. Krit. dazu H. M. Heinig, Religionsfreiheit auf dem Prüfstand: Wie viel Religion verträgt die Schule? KuR 2013, 8 ff/18 f.; St. Korioth/ I. Augsberg, Neue Religionskonflikte (W.). S. 832 f.

43P. Unruh, Religionsverfassungsrecht (A.), § 5 Rz. 133 a.

44BGBl I, S. 1570 ff., vgl. dazu BT-Drucksache 18/11180.

45Für bayerische Schulen ist dies in Art. 56 Abs. 4 S. 1–2 BayEUG (RS 125) geregelt: „Alle Schülerinnen und Schüler haben sich so zu verhalten, dass die Aufgabe der Schule erfüllt und das Bildungsziel erreicht werden kann. 2Sie dürfen insbesondere in der Schule und bei Schulveranstaltungen ihr Gesicht nicht verhüllen, es sei denn, schulbedingte Gründe erfordern dies; zur Vermeidung einer unbilligen Härte können die Schulleiterin oder der Schulleiter Ausnahmen zulassen.“ Allgemein zur Gesichtsverhüllung in der Schule H. Wißmann, Von Angesicht zu Angesicht – Zum Verbot gesichtsbedeckender Verschleierung in der Schule, ZevKR 63 (2018), S. 345–366.

46BVerwG ZevKR 38 (1993), S. 341.

47BVerfGE 33, 23/29.

48J. Listl, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit (W.), S. 467.

49BVerfGE 6, 278; 13,233; 42,329.

50BVerfGE 19, 206/216.

51BVerfGE 44, 103/104. Dazu Chr. Link, Staat und Kirche in einer sich wandelnden Gesellschaft, in: Byrd, B. Sharon/Joerden, Jan C., Philosphia Practica Universalis. Festschrift für Joachim Hruschka zum 70. Geburtstag, Berlin 2005, S. 257–274 (271 ff.).

52Grundlegend dazu M. Heckel, Das Gleichbehandlungsgebot im Hinblick auf die Religion, in: HdbStKirchR Bd. 1 (A.), S. 623–650.

53P. Unruh, Religionsverfassungsrecht (A.), § 5 Rz. 106.

54BVerfGE 19, 1/10.

55BVerfGE 35, 366 = ZevKR 20 (1975), S. 185; grundlegend E.-W. Böckenförde, Kreuze (Kruzifixe) in Gerichtssälen? ZevKR 20 (1975), S. 119–147.

56Vgl. dazu A. v. Campenhausen, Religionsfreiheit (W.), Rz. 134 m. w. N. in Fn. 323.

57§ 13 Abs. 1 Satz 3 der Schulordnung für die Volksschulen in Bayern hatte bis 1995 folgenden Wortlaut: „In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen.“

58EGMR (Große Kammer), Urteil vom 18. März 2011 – 30814/06 (Lautsi u. a./Italien), NVwZ 2011, S. 737. Dazu H. de Wall, Die Lautsi-Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Jura 2012, S. 960–965.

59Für Lehrkräfte in Bayern gilt Art. 59 Abs. 2 S. 2–4 BayEUG (RS 125). Danach dürfen von Lehrkräften „äußere Symbole und Kleidungsstücke, die eine religiöse oder weltanschauliche Überzeugung ausdrücken, … im Unterricht nicht getragen werden, sofern die Symbole oder Kleidungsstücke bei den Schülerinnen und Schülern oder den Eltern auch als Ausdruck einer Haltung verstanden werden können, die mit den verfassungsrechtlichen Grundwerten und Bildungszielen der Verfassung einschließlich den christlich-abendländischen Bildungs- und Kulturwerten nicht vereinbar ist. Die für den öffentlichen Dienst geltenden Vorschriften über die Gesichtsverhüllung gelten für Honorarkräfte, sonstiges mit erzieherischen oder pflegerischen Aufgaben betrautes Personal sowie die in Ganztagsangeboten tätigen Personen entsprechend.“

60P. Unruh, Religionsverfassungsrecht (A.), § 5 Rz. 133 m. w. N.

61Im Ergebnis ebenso V. Herbolsheimer/Chr. Kukuczka, Der bayerische Kreuz-Beschluss im Neutralitätskonflikt, ZevKR 63 (2018), S. 367–389.

62BVerfGE 53, 366/401.

63Hierzu N. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Berlin 1990; J. A. Frowein, Die Bedeutung des die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit garantierenden Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: H. Heinemann/H. Marré (Hrsg.), Die Einigung Europas und die Staat-Kirche-Ordnung, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 27, Münster 1993, S. 46–60.

64A. von Campenhausen/H. de Wall, Staatskirchenrecht (A.), S. 79, 365; P. Unruh, Religionsverfassungsrecht (A.), § 18 Rz. 590.

§ 8Trennung von Staat und Kirche

1. Der in Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV festgehaltene Grundsatz „Es besteht keine Staatskirche“ (gleichlautend: Art. 142 Abs. 1 BV) legt die prinzipielle Trennung von Staat und Kirche1 und die Unabhängigkeit der beiden Institutionen voneinander fest. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Weimarer Reichsverfassung bedeutete diese Aussage zunächst das Ende des auf evangelischer Seite noch bestehenden landesherrlichen Kirchenregiments mit dem Summepiskopat des Landesherrn und insgesamt die Beseitigung von noch bestehenden Restformen eines Staatskirchentums. Es war dies ein Akt, der einen Schlusspunkt unter die im 19. Jahrhundert angebahnte Entwicklung setzte und die institutionell-organisatorische Verbindung von Staat und Kirche („Bündnis von Thron und Altar“) beseitigte. Bemerkenswert ist, dass das Schlagwort „Trennung“ von Staat und Kirche weder in der Weimarer Reichsverfassung noch im Grundgesetz verwendet wird. Dahinter steht die Einsicht, dass, wie bei den Weimarer Verfassungsberatungen ausdrücklich gesagt wurde, „vielfach mehrdeutige Worte wie Trennung von Staat und Kirche … der Verständigung im Wege stehen“2 Die Weimarer Reichsverfassung hat deshalb einen abstrakten und vieldeutigen Begriff wie den der „Trennung“ vermieden und auch keine übergeordnete Konzeption für das Verhältnis des Staates zu Religionen und Weltanschauungen entwickelt, sondern sie bietet stattdessen Regelungen für konkrete Begegnungsfelder an.3

 

Die Bestimmung des Art. 137 Abs. 1 WRV verhindert zum einen die Wiederherstellung staatskirchlicher Zustände. Zum anderen liegt ihre besondere Bedeutung heute darin, dass Kirchen in die Staatsorganisation nicht eingegliedert und staatlicher Aufsicht nicht unterworfen werden dürfen.4 Bereits aus dem Trennungsgrundsatz in Art. 137 Abs. 1 ergibt sich, was in Art. 137 Abs. 3 noch einmal ausdrücklich festgehalten wird: Dem Staat ist jeglicher Eingriff in Lehre, Ordnung oder kirchliche Betätigung im Bereich der eigenen Angelegenheiten verwehrt.5 Art. 137 Abs. 1 gibt Staat und Kirche die Möglichkeit, jeweils frei von gegenseitiger Bevormundung zu wirken. Der Freiheit der Kirche vom Staat korrespondiert die Freiheit des Staates von der Kirche, aber auch die Freiheit der Kirche im Staat. Das Verbot der Staatskirche bedeutet also auch die Anerkennung der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Kirche.

Daraus folgen für den Staat wiederum die Grundsätze der Neutralität und der Nichtidentifikation sowie das Gebot der Parität.6 Letzteres ist dabei als Verbot einer sachwidrigen Differenzierung anzusehen: Grundsätzlich sind alle Kirchen und Religionsgemeinschaften rechtlich gleichgestellt. Eine schematische Gleichbehandlung ist dadurch jedoch nicht geboten. Mit dem Trennungsgrundsatz und den Grundsätzen der Neutralität und der Parität ist es durchaus vereinbar, wenn Differenzierungen vorgenommen werden, die durch tatsächliche Verschiedenheiten der einzelnen Religionsgemeinschaften bedingt sind, wie z.B. durch ihre Größe oder soziale Relevanz.7

Wenn es z.B. um die Benennung von Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in Rundfunkräten, Kuratorien oder sonstigen Gremien und den Anspruch der Repräsentation der einzelnen gesellschaftlichen Kräfte geht, bedeutet der Paritätsgrundsatz nicht, dass alle Kirchen, Religionsgemeinschaften oder Weltanschauungsgemeinschaften zu berücksichtigen sind. Insoweit kann durchaus an die unterschiedliche gesellschaftliche Bedeutung der einzelnen Kirchen, Religionsgemeinschaften oder Weltanschauungsgemeinschaften angeknüpft werden. Ausgeschlossen wäre lediglich eine durch sachliche Gründe nicht gerechtfertigte rechtliche Besserstellung der Großkirchen im Vergleich zu kleineren Religionsgemeinschaften.8

Unmittelbare Folgen der Trennung von Staat und Kirche und Ergänzung zur Religionsfreiheit sind die Bestimmungen in Art. 33 Abs. 3, Art. 140 GG i. V. m. Art. 136 WRV und Art. 3 Abs. 3 GG: Öffentliche Ämter, bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte und Pflichten sind unabhängig vom Bekenntnis. Niemand darf wegen seines Glaubens oder seiner religiösen Anschauungen benachteiligt werden.9

2. Art. 137 Abs. 1 spricht zwar von der Trennung von Staat und Kirche, richtet aber keine „undurchlässige Mauer“10 zwischen beiden Institutionen auf. Dies ergibt sich bereits aus der Verfassung selbst: Art. 137 Abs. 1 kann nicht isoliert gesehen werden. Er bildet mit den übrigen Absätzen dieser Vorschrift, insbesondere Abs. 3 (Selbstbestimmungsrecht) und Abs. 5 (Korporationsstatus) eine Einheit. Nimmt man noch die Religionsfreiheit in Art. 4 GG hinzu, ergibt sich daraus das „grundlegende Koordinatensystem“ des Staat-Kirche-Verhältnisses: Garantie der individuellen und korporativen, positiven und negativen Religions- und Weltanschauungsfreiheit, „sowie ein freies Religions- bzw. Kirchenwesen im weltanschaulich, religiös und konfessionell neutralen und paritätischen Staat, der zwar als säkularer Staat in der Wurzel von Religion und Kirche getrennt ist, der diese aber als schutzwürdige und für sich selbst bedeutsame Faktoren anerkennt, schützt und Zusammenarbeit mit ihnen ermöglicht.11

Diese Kooperation ist schon deswegen erforderlich, weil die Arbeitsfelder von Staat und Kirche sich in vielem überschneiden. Einige dieser Bereiche sind als sog. „gemeinsame Angelegenheiten“ von Staat und Kirche institutionalisiert, wie z. B. der Religionsunterricht, die Theologischen Fakultäten, das Kirchensteuerwesen, die Anstaltsseelsorge oder das kommunale Friedhofswesen.12 In anderen Bereichen, wie etwa Krankenfürsorge, Sozialfürsorge, Kindergärten usw., die zugleich Bereiche der kirchlich-diakonischen Tätigkeit, aber auch Aufgabenfelder der modernen staatlichen Daseinsvorsorge sind, hat sich der Staat zum Teil etwas zurückgezogen, soweit diese Bereiche durch Tätigkeiten der Kirchen oder anderer Verbände abgedeckt sind. Ein Anspruch auf Vorrang der Kirchen oder auch anderer Verbände im Sinne eines allgemeinen Subsidiaritätsprinzips besteht jedoch nicht.13 Wegen Art. 137 Abs. 1 und der grundlegenden Bedeutung der Religionsfreiheit muss der Staat jedoch darauf achten, dass niemand gegen seine Überzeugung konfessionell vereinnahmt wird, dass also eine Wahlmöglichkeit erhalten bleibt und eine konfessionell nicht gebundene Ausgestaltung der betreffenden Lebensbereiche sichergestellt ist.14

3. Art. 137 Abs. 1 enthält nach alledem keine radikale Trennung von Staat und Kirche. Er befreit zwar von wechselseitigen Abhängigkeiten und unterscheidet die verschiedenen Aufgabenbereiche und Rechtssphären, lässt aber eine verständige Kooperation beider Institutionen zu, ja gebietet sie für die nach ihrem jeweiligen Selbstverständnis für das soziale Ganze gemeinsam bestehenden Aufgaben geradezu.15 Man hat daher nach Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung von einer „hinkenden Trennung“ gesprochen (Ulrich Stutz)16. Treffender ist es wohl, das in Deutschland geltende religionsverfassungsrechtliche System als „modifizierte“, „kooperative“, „positive“ oder „freundliche Trennung“ zu bezeichnen.17 Jedenfalls beruhen die heutigen Beziehungen zwischen Staat und Kirche nicht mehr auf Verschmelzung oder Abhängigkeit, sondern auf Verständigung. Daraus ergibt sich, dass sowohl eine laizistische als auch eine klerikale Interpretation des Trennungsgrundsatzes ausgeschlossen sind.18