Das Leben ist ein Abenteuer

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Kapitel 2. Action Geheime Operationen und geheime Kräfte

1.

Théra kam schon am nächsten Morgen. Sie sagte Eva und Laura kurz Hallo, dann sprang sie mit Papa hinüber zu „dem Dicken“. Dem Mann, der in ihrer Organisation all die geheimen Operationen in Berlin leitete. Sie ließen Nils schlafen. „Mittags sind wir wieder da.“

Als Nils zum Frühstück kam, stellte Mama ihm einen heißen Kakao hin. Nils liebte das zum Frühstück. Dann sah er sich um.

„Papa und Théra sind schon weg. Sie kommen später wieder. Auch Eva ist schon weg. Macht irgendwelche Fotos. Bleib heute Mittag in der Nähe. Papa muss dich noch einweisen. Er kann dich ja anpiepsen, wenn er dich braucht. Nils nickte. „Mama, brauchst du was zum einkaufen? Soll ich dir irgendwie helfen?

Laura machte das Einkaufen manchmal ganz gerne selbst. Unter der Woche hatte sie dafür allerdings wenig Zeit. Bei solchen Gelegenheiten fuhr sie dann in die Stadt, sie wählte alles mögliche aus, und ließ sich das später ins Zentrum bringen. Die Händler und die Fahrer kannten sie schon. Laura gab immer ein gutes Trinkgeld.

„Willst du mich begleiten“, fragte sie. Nils nickte. Es tat manchmal ganz gut, mit Mama einkaufen zu gehen.

Mama machte sich schon lange nicht mehr die Mühe, selbst zu chauffieren. Es gab genug gute Leute in Romans Truppe, die das gerne übernahmen. Sie hatten ein Fahr- und Sicherheitstraining. Sie kannten die meißten Politessen in Berlin und konnten in zweiter oder dritter Reihe Parken, ohne einen Strafzettel zu bekommen. Es gab da eine Reihe von Deals. Schließlich genossen sie auch den Schutz des Innensenators. Wehe dem Polizisten, der es wagen würde, sie aufzuschreiben.

Sie gingen heute groß einkaufen. Käse, Gemüse, Obst, Tiefkühlkost, Fleisch, Brot, eine Pute und verschiedene andere Dinge.

Es gab Geschäfte, da ging Laura besonders gerne hin, wie zu Aysas Vater, der einen Laden in Kreuzberg hatte. Sie wurde stets zuvorkommend bedient. Sie erkundigte sich immer nach den Fortschritten der Kinder. Ging in der Schule alles glatt? Wie ist es im Sportverein? Helfen sie gut im Geschäft? Machen sie ihre Mutter glücklich?

Laura wusste das alles nur zu gut, Sie hatte alle diesbezüglichen Informationen aus ihren verschiedenen Nachrichtenquellen, aber sie fragte stets nach, und vermittelte echte Freundschaft und Anteilnahme. Nils bewunderte seine Mutter. Sie machte das immer toll. Sie nahm sich Zeit. Sie hörte geduldig zu. Es gab niemanden, der ihr etwas abschlagen konnte, und sie half, wenn sie helfen konnte. Er hatte sie oft beobachtet. Mama war ein echtes Genie. Er hatte von ihr gelernt.

So etwas sagen nur wenige Jugendliche von ihrer Mutter. Nils war sich dessen bewusst.

Irgendwann am Nachmittag würden alle diese Dinge gebracht werden. Nils war sich sicher. Dann ließen sie sich zu ein paar Boutiquen fahren. Es waren kleine Läden, in Wohnvierteln. Manche wurden direkt von der Inhaberin beschickt. Es hab hier einige gute Schneiderinnen. Es gab hier Freaks, die Lederkleidung nähten, und nachts auf den Männerstrich gingen, um sich das Kleingeld zum Leben zu verdienen. Vom Verkauf ihrer Klamotten konnten viele nur unzureichend leben.

Nils ging hier gern einkaufen. Diese kleinen Gewerbetreibenden mussten unterstützt werden. Es war kein nobles Viertel, buntgemischt eben. Viele der Kids im Musikzentrum wohnten hier. Die Mieten waren leider ziemlich teuer.

Nils hatte keine Probleme mit Kleidung aus dem Rotkreuzcontainer. Er trug so was oft. Das war eine perfekte Tarnung, aber er konnte sich auch teure Turnschuhe und handgenähte Kleidung leisten. Sie suchten ein bisschen rum, sie lachten und alberten. Nils fand eine neue Jacke. Die alte, mit dem Messerstich hatte er schon sicher entsorgt. Niemand würde sie finden.

Als sie das Geschäft verließen, prallten sie fast mit einer Frau zusammen.

Laura wollte auffahren, doch Nils hielt sie zurück. „Hallo“, sagte er. „Kennen Sie mich nicht mehr?“

Die Frau sah Nils an. „Oh Sorry. Ich bin in Eile. Helen wartet zu Hause auf mich. Wir müssen noch einkaufen.“

„Sie wohnen hier irgendwo?“ fragte Nils, dann meinte er, „Tschuldigung, das ist meine Mutter und das ist Frau... ja wie heißen Sie eigentlich?“ Die beiden Erwachsenen gaben sich die Hand, dann ging oben ein Fenster auf und Helens Kopf erschien. „Mama, na endlich, soll ich runterkommen?“ Nils sah nach oben, „Huch, Nils... wo kommst du denn her?“

Wenig später ging die Tür auf, Helen hatte drei Einkaufstaschen umhängen. Sie gab Nils die Hand und machte einen leichten Knicks vor seiner Mutter. Laura staunte. „Bitte entschuldigen Sie uns“, meinte Helen. „Wir sind in Eile. Heute Mittag darf ich ins Zentrum, aber erst müssen alle Einkäufe erledigt sein.“

Als sie gegangen waren, sah Laura ihren Sohn verblüfft an. „Sowas hab ich ja noch nie erlebt, einen Knicks.“ Sie schüttelte den Kopf. Nils zuckte mit den Schultern, dann erzählte er kurz. „Wer das genau ist, weiß ich auch nicht. Ich weiß nur, dass sie nicht viel Geld haben und beide sehr sportlich sind.“

Sie fuhren zurück.

2.

Papa und Théra waren schon da. Mama und Théra machten eine Kleinigkeit zum Essen, dann schalteten sie das Radio und den Recorder mit Wassergeräusch ein, und sie begannen ihre Abstimmung über die Aktionen der heutigen Nacht.

Théra hatte sich das Szenario ausgedacht. Es war eine blutige Lösung. Sie weihte Nils ein. Nils pfiff durch die Zähne. Der Plan war genial.

Es war nicht, worüber Papa mit ihm gesprochen hatte. Nicht diese elegante Lösung, die Papa vorschwebte, aber es war dennoch genial.

„Und die Ethik“, wagte er zu fragen. „Die ist mir in diesem Fall wurscht“, meinte Théra. „Wir bringen nur eine Lawine ins Rollen. Wir werfen sozusagen den ersten Stein.“

Auch Laura staunte. „Wenn das klappt, dann haben wir hier ein Problem weniger, aber Nils kriegt viel Arbeit, um die Gruppen in den nächsten Wochen zu beobachten.“

Nils seufzte. „Ja ja. Ich mach das schon. Ihr könnt euch auf mich verlassen.“ Dann sah er auf die Uhr. „Ich muss noch mal weg.“

Théra sah ihn mit zusammengekniffenen Augenbrauen an, dann lächelte sie. Sie hatte in ihren Bruder hineingesehen. Nils war verliebt. Er wusste es vielleicht noch nicht, aber Théra wusste es.

„Wenn wir das heute Nacht durchziehen, dann solltest du am Abend zwei oder drei Stunden schlafen. Kriegst du das hin?“

Nils nickte, dann zog er die Tür hinter sich zu und ging hinunter zu Aysa.

3.

„Da war ein Mädchen für dich da“, meinte Aysa. „Sie war in Begleitung von zwei anderen Schönheiten. Ich habe sie in Raum 338 geschickt.“ Sie lächelte. „Nun geh schon, lass sie nicht warten.“

Als Nils den Probenraum betrat, staunte er nicht schlecht.

Die Gruppe „Elan“ war noch jung. Sie hatten eine Leadsängerin, die etwas älter war. Heute fehlte sie jedoch. Die Gruppe spielte einen bekannten Coversong. Cindy stand am Mikrophon und sie aß das Mikro geradezu auf.

Sie flötete und wisperte, sie schrie und juchzte, sie hatte eine Granatenstimme. Nils blieb wie angewurzelt stehen und hörte sich das an. Wie war das möglich? Die Gruppe war noch unbekannt, dennoch stand Cindy da vorn, als hätte sie schon seit Wochen mit der Band geprobt. Vieles war nicht perfekt. Manchmal verpatzte sie ihren Einsatz, aber Cindy war genial. Das sah Nils sofort.

Niemand hatte bemerkt, dass er hereingekommen war. Er lehnte sich an die Wand und hörte zu. Irgendwann in der Mitte des Stücks machte Joe eine Pause. Der Gittarrist sprach mit Cindy und gab ihr ein paar Tipps. „Los, probieren wir es.“ Der Basist begann, der Drummer klinkte sich ein und Joe gab Cindy ein Zeichen, er stellte sich vor sie hin, und dirigierte sie mit den Händen, wie ein Dirigent, Einsätze, Gefühl, und jetzt lass die Sau raus, schien er zu sagen. Cindy schrie sich die Stimme aus dem Leib.

„Mann“, dachte Nils. „Die ist dreizehn. Das ist voll krass.“

Er war so konzentriert, dass er gar nicht mitbekam, dass sich plötzlich eine Hand in seinen Arm schob. Dann merkte er das warme angenehme Gefühl. Er sah zur Seite. Es war Helen. Er legte den rechten Arm um sie, dann suchte er mit der Linken ihre Hand und drückte sie leicht an sich.

Er wusste nichts von diesem Mädchen. Sie wusste nichts von ihm, aber es hatte gefunkt. Er konnte sich das nicht erklären. Er lehnte dort an der Rückwand des Raums. Helen führte seine Hand leicht an ihre Brust. Sie war voll und weich. Nils schloss die Augen. Er atmete die Musik und die leichte Berührung.

Dann ging die Tür auf. Carola kam rein. Sie stockte, dann machte sie das große Licht an. Die Musik erstarb. „Hey, was’n das. Ihr seid wohl meschugge.“ Sie stürmte auf die Bühne und zerrte Cindy vom Mikro weg. „Raus hier, das ist meine Veranstaltung.“

Nils machte sich von Helen los, er ging auf Carola zu und versuchte sie zu beruhigen, aber Carola war nicht zu beruhigen.

Nils zuckte schließlich mit den Schultern, er sah die drei Mädchen an, die völlig betroffen waren, dann gab er ihnen einen Wink. „Kommt.“

Cindy, die Cindy, die sonst so stark schien, war plötzlich nur noch Rotz und Wasser. Sie hatte es doch nur gut gemeint. Sie hatte ausgeholfen. Sie hatte sich gefreut, ihrer Stimme einmal den vollen Lauf zu lassen. Die Freundinnen hatten Cindy in den Armen und trosteten sie.

 

Nils berührte Helen leicht an der Schulter. „Kommt mal mit. Das ist alles sehr bedauerlich. Es tut mir leid. Cindy hat das nicht verdient.“ Dann führte er die drei Mädchen in eins der andern Häuser und öffnete die Tür zu einem Probenraum. Die Musik knallte ihnen entgegen. Das war knüppelharter Rock.

Die Gruppe spielte bisher instrumental. Sie hätten gern einen Leadsänger oder eine Sängerin gehabt, aber sie hatten noch nicht das Passende gefunden. Sie waren um vieles besser als „Elan“ und Nils wusste, dass sie schon einige Stücke für Stimme geschrieben hatten. Wo keine Stimme war, konnte man keine einsetzen.

„Jungs“, sagte Nils beim eintreten, und zog den Stecker. „Verzeiht mir den Interruptus. Ich möchte euch jemand vorstellen. Das sind Cindy, Helen und Lara. Von Helen und Lara weißích nichts. Cindy hab ich grade singen gehört, ihr habt da doch dieses Stück, „Leben um zu lieben“ oder wie das heißt. Habt ihr die Noten da?“ Sven nickte. „Klar doch.“

Nils gab Cindy die Noten. „Hier wird dir das nicht noch mal passieren, was du gerade erlebt hast. Sieh dir mal die Noten an - du kannst doch Noten lesen?“ Cindy sah Nils an, als hätte er sie nicht alle. Dann sah sie sich das Notenblatt an und fing leicht an zu summen. Sie fing noch mal an. Lara ging zu ihr und summte mit, dann begann Cindy von vorn. Lara summte die Grundmelodie. Cindy bildete Worte, sie fing an zu nuancieren. Leise noch, aber dann gab sie den Musikern einen Wink. „Könnt ihr mich etwas begleiten? Ich möchte das noch mal versuchen.“ Sie probierten das drei-viermal. Cindy wurde immer besser. Die Töne kamen jetzt ziemlich klar. Diese Cindy hatte ein unglaubliches Stimmvolumen.

Helen hatte sich wieder bei Nils eingehakt. Sie verfolgten die Entwicklung. Nils staunte. „Woher kann Cindy das“, fragte er. „Ihre Mutter war Sängerin. Sie hat ihre Eltern aber bei einem Autounfall verloren. Cindy lebt jetzt seit sechs Jahren bei uns. Die Musik hilft ihr, das Erlebte zu verarbeiten.“

Nils staunte.

Das Stück war gerade wieder um. Sven hielt die Hand hoch und sah dann zu seinen Freunden. „Schon mal aufgetreten“, fragte er. Cindy nickte. „Hast du Zeit? Willst du in den nächsten Wochen mit uns proben?“ Dann fragte er unvermittelt. „Wie alt bist du eigentlich?“

Cindy senkte den Kopf. „Dreizehn.“ Sven schnaufte. Seine Truppe war fünf jahre älter. Sie waren local heroes - lokale Größen, sie hatten sich in Berlin und Brandenburg schon einen Namen gemacht, aber dieses Mädchen schien ein Naturtalent zu sein.

Sven wandte sich an Nils. „Hast du was dagegen, wenn Cindy mit uns probt?“ Nils schüttelte den Kopf. Das ist eure Sache. Deine und Cindys. Ihr entscheidet das.“

Sven wandte sich an Cindy. „Willst du? Cindy drehte sich glückselig zu ihren Freundinnen um und sah zwei fröhliche und zustimmende Gesichter. Dann fragte sie zurück. „Könnt ihr auch Lara gebrauchen? Als Backgroundsängerin? Sie macht das wirklich gut.“

Sven nickte. „Versuchen wir es.“

Dann gaben sie Cindy ein anderes Notenblatt. „Wenn du Zeit hast, dann versuchen wir mal das nächste Stück. Da ist sogar Background angesagt.“

Nils Handy klingelte. Er sah kurz auf das Display, tippte mehrere Tasten und steckte es wieder ein. „Ich muss weg. Ihr kriegt das hier alleine hin. Die Mädels sind in unserem Haus noch neu. Betreut sie ein bisschen, führt sie ein bisschen herum, ja?“

Zu Helen sagte Nils leise. „ich muss wirklich weg. Mein Vater braucht mich. Sehn’ wir uns wieder?“ Helen drückte Nils einen leichten Kuss auf die Lippen. Ihr Mund schmeckte süss, fast wie reife Kirschen. Nils schmolz wie Schokolade in der Sonne. Er küsste zurück und genoss einen Moment diese warme Glut. Dieses Mädchen war echt unglaublich. Er musste sich losreißen. Er atmete schwer, drückte ihr die Hand und schlüpfte aus der Tür. Draussen lehnte er sich an die Wand und atmete tief ein. Er spürte plötzlich durch die Mauer, dass Helen dasselbe machte. Er schüttelte den Kopf. Das musste ihm gerade heute passieren. Heute brauchte er einen klaren Kopf.

4.

Als er in die Wohnung kam, wartete Théra auf ihn. „Komm, leg dich ein bisschen hin, du brauchst jetzt Ruhe.“ Sie brachte ihn in sein Zimmer, dann setzte sie sich neben das Bett, nahm seine Hand und fing an zu summen. Fünf Minuten später war Nils eingeschlafen.

Papa sah Théra an. „Wird Nils das heute schaffen?“

Théra nickte. „Ich bin mir sicher. Nils ist verwirrt. Er ist von der Liebe wie von einem Blitz getroffen worden, aber er wird heute abend wach sein. Wir können auf ihn zählen.“

Dennis sah Théra stirnrunzelnd an.

„Ja ja, ist gut. Es wird gefährlich heute. Nils muss einen klaren Kopf haben, aber vertrau mir. Nils schafft das.“

Später am abend ging Théra noch mal weg. Dennis ging zu Nils, aber der schlief wie ein Stein. Dennis seufzte.

Er kannte dieses Gefühl. Er sah Laura an und sie nahm ihren Mann in die Arme. „Wenn du dir nicht sicher bist, dann lass Nils zuhause. Du wirst das mit Théra auch alleine schaffen. Dennis nickte, als die Türe aufging. Eva platzte mitten herein. „Oh, stör ich?“ Nein, nein, komm, setz dich zu uns.“

Eva setzte sich schräg gegenüber auf den Sesselrand und fixierte Dennis. „Nils wird das schaffen, glaub mir.“ Dennis sah erstaunt auf und Eva bekräftigte. „Dieses Mädchen hat ihm den Kopf verdreht, aber heute Nacht ist Nils bei klarem Verstand.“

„Aber...“ hatte Laura auf den Lippen... Dennis lachte leise. Seine Kinder waren schon unvergleichlich. Eva hatte das alles gesehen. Deshalb war sie nach Hause gekommen. Sie wusste, dass sie ihn jetzt bestätigen musste. Er lächelte dankbar. Eva ging zu ihren Eltern, kniete sich vor die beiden hin und nahm ihre Hände. „Es wird gefährlich, aber es wird gut gehen. Nur nicht die Vorsicht außer acht lassen. Diese Russen sind wie Skorpione.“

Dann zog sich Eva zurück. Dennis hatte ihr nichts erzählt, aber sie hatte seine Gedanken gelesen. Seine, die von Théra und die von Nils.

5.

Théra kam um halbzwölf wieder. „Ich hab’s“, sagte sie nur. „Jetzt können wir Nils wecken.“ Sie ging hinüber, setzte sich neben Nils, nahm seine Hand und fing an zu summen. Nach drei Minuten schlug Nils die Augen auf. Er starrte einen Moment an die Decke, dann sah er zu seiner Schwester. „Is’ Zeit? Dann mal los. Wir haben heute eine Aufgabe.“

Sie wurden abgeholt. Eine schwarze unauffällige Limousine mit starkem Motor und aufgemotztem Fahrgestell. Eine Granate von Auto. Äußerlich sah man das dem Auto nicht an.

„Wo sind sie jetzt?“ fragte Dennis den Fahrer. „Sie haben grade die Grenze überschritten. Hat ein bisschen gedauert, weil sie unterwegs eine Reifenpanne hatten.“ Dennis nickte. Gut, dann haben wir genügend Zeit. Er sah auf seine Uhr. Kurz vor zwölf.

Sie fuhren hinüber nach Brandenburg. Sie benutzten Landstraßen, der Fahrer fuhr ruhig und sicher. Er hatte das schon oft gemacht. Bloss nichts riskieren. Nicht bei einem solchen Auftrag. Er würde Dennis und seine Kinder irgendwo rauslassen, dann würde er weiterfahren, einen Bogen drehen und nach Berlin zurückkehren. Dennis würde wissen, wie er nach Hause kommt. Dennis wusste immer, wie er zurückkommt.

Er ließ Dennis an einer dunklen Kreuzung raus und zeigte in die Richtung. Etwa eine halbe Stunde in diese Richtung. Dennis nickte. Er hatte den Weg schon ein paar mal gemacht, auch nachts. Er wusste, dass es Wachen mit MP und scharfe Hunde gab. Fledermäusen tun die Hunde nichts.

An einer getarnten Stelle zogen sich Dennis und seine Kinder aus. Sie versteckten die Kleidung unter den Büschen, verwandelten sich in Fledermäuse und schwirrten los. Die Signale der Fledermäuse sind im Dunkeln unnachahmlich. Sie „sahen“ jeden Baum, jeden Strauch, jeden Wachmann und jeden dieser gefährlichen Kampfhunde, die von den Russen benutzt wurden. Dann hängten sie sich unter den Giebel des Bauernhofes, der umfriedet mitten in Feldern lag, die nicht mehr bewirtschaftet wurden.

Das war Russengebiet. Es wurde weiträumig bewacht.

Eine Stunde später sahen sie in der Ferne Lichtkegel. Dann hielten sie an und fuhren nach einer Weile wieder weiter. Unter Nils klingelte ein Handy.

„OK“, sagte einer der Russen, „sie kommen.“ Die Tür ging auf, der Lichtschein fiel kurz nach draussen. Zwanzig Gestalten kamen raus, bewaffnet mit MP’s. Sie verteilten sich im Gelände.

Dann war es still. Nicht einmal das Glimmen einer Zigarette war zu sehen. Das waren wirklich Profis.

Das Gelände war weitläufig durch einen Zaun abgegrenzt. Das Tor wurde jetzt geöffnet und der LKW rollte hinein. Es war ein großer LKW. Der 40-Tonner bremste vor dem Haus, dann ging überall das Flutlicht an.

Nils hörte, dass Dennis und Théra leise summten. Nur er hörte das. Sie wollten die Sprache verstehen. Er war der einzige, der russisch verstand. Papa und Théra mussten ihre Kräfte dafür einsetzen.

Die Fahrer stiegen aus und hoben die Hände. Von zwei Seiten kamen jetzt bewaffnete Männer, je einer untersuchte die Fahrer nach Waffen, dann warf er die Pistolen in das Dunkel außerhalb des Lichtscheins.

Sie befahlen den Fahren, den Schlüssel rauszurücken und sich auf den Boden zu legen. Nur einer der Bewaffneten blieb im Focus der Lampen, die anderen verschwanden wieder ins Dunkel. Wenn etwas mit der Ladung nicht stimmte, würden sie sofort anfangen zu schießen. Dennis und Nils hatten das schon einmal erlebt. Damals hatten die Russen 40 Leute umgenietet. Die Leichen waren nie gefunden worden.

Diesmal ging alles glatt. Der Russe öffnete die Flügeltüren. Darin standen Paletten mit Kartons und einer der Russen kam jetzt mit einem Hubwagen angefahren. Er hob eine der Paletten nach der anderen heraus und stapelte sie im Hof. Dahinter kam noch eine Ladung Paletten zum Vorschein, und er hob auch davon einen Teil heraus. Diese Kartons schienen leer zu sein. Sie waren nur mit Bändern verschnürt, wie echt.

Einer der Männer kam aus dem Dunkel und rief in russisch hinein. „Ihr könnt jetzt rauskommen. Hände über den Kopf. Ihr springt einzeln raus und macht zehn Schritte vorwärts. Dann bleibt ihr stehen. Dawai, dawai,“ bekräftigte er.

Er selbst trat zurück, die MP im Anschlag.

Nun traten die Mädchen einzeln an die Laderampe. Sie blinzelten in das gleisende Licht, dann sprangen sie herunter und nahmen die Hände über den Kopf.

Nils war verblüfft. Irgendwie schienen die Russen heute besonders schlecht gelaunt zu sein, und er war zugleich traurig. Die armen Mädchen. Sie wurden unter irgendeinem Vorwand hierher gelockt, aber das war Frischfleisch für den boomenden Nuttenmarkt in Berlin und anderswo.

Es waren junge Mädchen. Sie waren schlecht gekleidet. Offenbar hatte es in den LKW nicht einmal eine Toilette gegeben. Es stank. Sie sprangen einzeln heraus und sie zitterten vor Angst, Müdigkeit und Hunger. Einige konnten sich kaum auf den Beinen halten. Welch ein Jammer.

Der LKW war wirklich voll. Zum Schluss standen vielleicht hundertzwanzig Mädchen im Scheinwerferlicht, die Hände immer noch über den Köpfen. Es waren Mädchen dabei, die mochten gerade mal 12 sein.

Der Russe trat nun an den LKW, leuchtete mit einer Stablampe hinein und stöhnte. „Was für ein Dreck.“ Er winkte vier seiner Freunde herbei und sie spielten „Hammelsprung“. Sie stellten sich gegenüber auf und winkten die Mädchen herbei. Zwei tasteten die Mädchen ab. Gesicht, Zähne, Brüste, Hüften, Beine. Dann reichten sie die Mädchen zum zählen weiter. Es bildeten sich zwei Haufen. Ein großer und ein kleiner.

Dann kam einer der anderen Russen ins Licht und befahl den Fahrern aufzustehen. Er nahm sie mit zu dem kleineren Haufen, und befühlte die Mädchen alle noch einmal. Einem der Mädchen leuchtete er ins Gesicht. „Wasń das. Pjotr. Komm doch mal her. Er gab ihm die Taschenlampe. „Ins Gesicht“, befahl er. Er fasste dem Mädchen unters Kinn und bewegte das Gesicht hin und her. „Pickel“, meinte er. „Hast du noch woanders Pickel? Arme, Po, Beine?” Er sah, wie das Mädchen den Kopf schüttelte. „Ma’ aufmachen.“ Er zeigte auf den Reißverschluß der Jacke, und als das Mädchen nicht schnell genug reagierte, griff er ihr in die Haare und riß den Kopf hin und her. Das war schmerzhaft und das Mädchen schrie gequält. „Arme hoch“, befahl er. Dann griff er dem Mädchen links und rechts an die Brüste, zog mit einem schnellen Griff den Reißverschluß auf, fasste in die Bluse und riß sie auf, so dass zwei Knöpfe wegsprangen. Das Mädchen zuckte, aber es traute sich vor Angst nicht, was zu sagen. Er griff in die geöffnete Bluse, holte die Brüste raus wie zwei Würste, und befahl, „mehr Licht.“ Dann ließ er die Hände hinunter wandern. „Umdrehen“. Er drückte sich von hinten an das Mädchen, schlang die Hände um die Taille, ließ sie an den Hüften hinunter fahren, befühlte die Oberschenkel und griff ihr in den Schritt. „Wie heißt du?“ „Jasmin“, flüsterte das Mädchen. „Lauter.“ „Jasmin“, wiederholte das Mädchen und der Russe machte zwei Stoßbewegungen von hinten mit der Hüfte. Dann drehte er sie mit einem schnellen Griff um und drückte sich von vorne an sie. Er presste sie an sich, dann griff er ihr in die Haare, ging einen halben Schritt zurück und stieß sie zu dem großen Haufen. Sie stolperte und fiel, aber das schien den Russen nicht mehr zu interessieren.

 

Er prüfte den kleinen Haufen noch einmal. Vier der Mädchen schickte er zu den anderen, die anderen ließ er stehen. „Was sollen wir mit denen machen“, fragte er, „sie erfüllen nicht die Norm.“ Die Fahrer zuckten die Schultern. Sie waren bloss die Fahrer. Sie standen in der Hierarchie immerhin so hoch, dass sie berechtigt waren, das Geld entgegenzunehmen, aber sie waren bloss die Fahrer.

Der Russe war wirklich sauer. Er hatte Vereinbarungen getroffen, was die Qualität der Ware angeht, und er war schon mehrfach enttäuscht worden. Jetzt war Schluss. Sicher. Er könnte den Schrott als billige Arbeitskräfte an eine Hühnerfarm oder an einen Schlachthof verkaufen. Die gutsituierten Bürger in Berlin, Hamburg und anderswo gierten nach billigen Haushaltshilfen. Selbst die Krankenhäuser waren gute Abnehmer. Es gab da genug halbseidene Zeitarbeitsfirmen, denen er die Mädchen verkaufen konnte, aber er würde Verluste machen. Er hatte schließlich für gute Ware auch einen guten Preis vereinbart. Jetzt würde er ein Exempel statuieren. Er würde sich bei seinen Lieferanten Ärger einhandeln, aber er würde diesen Konflikt ausstehen. Notfalls würde er über seine Kontaktleute einen andern Lieferanten finden.

„OK“, sagte der Russe, „ich hab euch schon zweimal verwarnt. Die zieh’n wir von der Rechnung ab. Sagt euren Freunden, wir wollen das nächste Mal ordentliche Ware. Nicht so'n Dreck wie das hier.“ Er machte eine Kopfbewegung. Dann winkte er einem seiner Leute. Der öffnete einen Koffer. Der Russe nahm drei Bündel Geld heraus, blätterte, zog einen Teil davon ab, warf es in den Koffer, steckte sich den Rest in die Tasche, klappte den Koffer zu und gab ihm dem Fahrer. „Ich habe dir nur einen Teil abgezogen. Die da nimmst du wieder mit. Los jetzt“, befahl er den Mädchen, „wieder auf die Laderampe.“

Die Mädchen wussten nicht, wie ihnen geschah, war das nun gut oder schlecht? „Dawai, dawai“, fuhr der Russe sie an, und sie kletterten die Laderampe wieder hinauf.

Dann drehte sich der Russe um, nahm einem seiner Leute die automatische Waffe aus der Hand und feuerte wild in den LKW hinein. Er leuchtete mit der Taschenlampe hinein und schickte noch eine Garbe hinein, dann winkte er seinen Kumpels, die Paletten wieder reinzufahren und die Türen zu verriegeln.

Zu den Fahrern sagte er. „Dein Chef weiß jetzt, was wir mit schlechter Ware machen. Mach hin“, rief er dem Staplerfahrer energisch zu, „los jetzt. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Théra war bereits unerkannt in das Führerhaus des Trucks geflogen. Jetzt die kletterten auch die Fahrer hinein, warfen den Truck an und rollten rückwärts aus dem Tor. „So eine verdammte Scheiße“, fluchte der Fahrer, „wie sollen wir das denn erklären. Jetzt müssen wir auch noch den Dreck da loswerden.“ Dann wendete er und fuhr davon.

Nils war total geschockt, aber Dennis hatte ihm signalisiert, jetzt nicht einzugreifen. Als der Truck losfuhr hatten sie sich schon längst in Bewegung gesetzt.

Sie begleiteten den Truck. Nach drei Kilometern blieb der LKW plötzlich stehen. Dennis und Nils holten auf, Nils verwandelte sich in seine Menschengestalt zurück, öffnete die Beifahrertür und Théra kam herausgeflogen. Sie verwandelte sich, dann kletterte sie in den Truck, holte eine Tasche heraus und drehte sich nach ihrem Vater um.

Die Fahrer waren bereits tot. Théra hatte sich in eine Spinne verwandelt und zugebissen. Das Gifft dieser Sorte Spinnen war absolut tödlich. Das war auch so ein Talent ihrer Familie. Sie hatten das schon ein paar mal benutzt, um sich zu wehren. Auch Nils konnte das.

Théra hatte den Truck an der vereinbarten Stelle gestoppt. Seitlich der Straße gab es ein Wäldchen mit dichtem Gebüsch, von der Strasse getrennt durch einen Bach. Dennis war sofort dahin geflogen und hatte sich zurückverwandelt. An einer gut getarnten Stelle holte er ein Etui aus dem Versteck, das die Freunde „des Dicken“ vor drei Stunden dort hingelegt hatten. Das war Generalstabsarbeit gewesen.

Jetzt hatte Dennis eine Maschinenpistole in der Hand. Es war ein seltsames Bild. Ein völlig nackter Mann mit MP. Nils grinste innerlich. Dann entsicherte Dennis und schickte die volle Ladúng in das Führerhaus, in den Kühler und in die Reifen des Trucks. Es zischte, als die Reifen platt wurden und der LKW vorne in die Knie ging.

Die MP-Salve diente der Tarnung.

Dennis nickte seinen Kindern zu. „Beeilung, sie werden in drei Minuten da sein. Wir haben nicht viel Zeit. Nils, stell jetzt bitte keine Fragen, lass uns abhauen.“ Sie sprangen in ihr Versteck, Théra nahm einen kleinen Beutel, sprang zu dem Lkw zurück und warf das Messer ein Stück von dem LKW weg in das Feld, ohne es mit den Fingern zu berühren. Dann sprang sie wieder zu Dennis und Nils zurück.

Dieses Messer spielte bei diesem Unternehmen die Schlüsselrolle. Théra hatte es Stunden vorher einem Chinesen entwendet, der Hua Guo Lang hieß. Er war der operative Leiter der Berliner Chinesenmafia. Ein vielleicht 35 Jahre alter und ein äußerst intelligenter und brutaler Gangster, der sich ganze Ladungen von Mädchen aus China und Thailand schicken ließ.

Schon lange bestand zwischen den Chinesen und den Russen eine Art Krieg um die besten Märkte in Berlin, Hamburg, Frankfurt, München und in anderen Städten. Das Geschäfte mit der Prostitution war fast genauso gut wie das Rauschgiftgeschäft. Auch in diesem Sektor mischte der Chinese mit.

Er hatte direkten Draht zu Produzenten in den Anbaugebieten in Ostasien. In der Szene war bekannt, dass er dieses Messer hatte. Es war etwas Besonderes. Eine alter Stahl mit mehrfach geschwungener doppelseitiger Klinge, wie das früher in Indonesien benutzt worden war. Er liebte es, die Mädchen damit gefügig zu machen. Kein anderer hatte so ein Messer.

Wenn das Messer jetzt hier lag, dann musste Hua Guo Lang hier gewesen sein. Freiwillig würde er das Messer nie hergeben. Jetzt wartete es dort in der Wiese, bereit, um von den Russen gefunden zu werden. Das würde ein Schlachtfest geben.

Dennis hatte Nils in die Arme genommen, denn Nils schlotterte vor Entrüstung und Wut. „Papa, was ist jetzt mit den Mädchen“, fragte er. Dennis war energisch: „...können wir jetzt nichts machen. Ich werde mich morgen darum kümmern. Jetzt müssen wir hier weg. Wir dürfen nichts riskieren.“

Sie sprangen direkt in das Büro „des Dicken“ und verstauten das Geld. Dennis legte die MP auf den Tisch. „Die lässt du wieder verschwinden.“ „Der Dicke“ nickte. „Alles glatt gegangen?“ Nils seufzte. „Alles. Nur die armen Mädchen tu’n mir leid. Ich möchte die Drecksäue am liebsten alle umbringen.“

„Der Dicke“, der inzwischen von dem Mord auf der Laderampe wusste, sah Nils bedauernd an. „Klar, aber was sollen wir machen. Dann sind wir auch nicht besser als die. Wir haben schließlich unseren Kodex. So ein Gemetzel hab ich auch noch nie erlebt. Die Mädchen? Wir können sie nicht aufnehmen. Das Risiko der Entdeckung ist zu groß. Die Russen werden sie auch nicht freiwillig zurückschicken. Sie haben dafür bezahlt. Das ist lebendes Kapital. Sie werden die Mädchen noch in dieser Nacht verschwinden lassen. Irgendwo in Berlin oder in Brandenburg. Ich weiß nicht wo. Für die Russen brennt jetzt die Luft. Nun müssen sie auch noch diesen Truck loswerden oder sogar das Gehöft aufgeben. Das läuft sowieso über einen Strohmann. Also ich würde an ihrer Stelle dort verschwinden, alles anzünden, um die Spuren zu verwischen und den LKW einfach dort stehen lassen, bis er am Sonntag durch einen Zufall gefunden wird. Es geht jetzt um Schadensbegrenzung.“