Der Clan der Auserwählten

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Artemis beobachtet, aber er urteilt nicht. Diese Menschen sind für Ihn nur Wirte, an die er sich andockt, wie an einen Hund, eine Pflanze, einen Stein oder eine Gaswolke. Er versucht ihre Welt zu verstehen, die sein neuer Lebensraum sein wird. Es gibt Millionen dieser Spezies. Auf eine Million mehr oder weniger kommt es aber nicht an. Artemis greift nicht ein. Nicht in diesem Stadium. Diese Welt bietet ihm Bedingungen zum überleben und durch Zellteilung ein neues Volk zu gründen, und er wird irgendwann dafür Sorge tragen, dass dies auch so geschieht.

Er begreift aber auch, dass dieses Geld, was da hin- und hergeschoben wird, in dieser Gesellschaft eine enorme Bedeutung hat. Es verleiht Macht und Ansehen, nun ja, und auch Annehmlichkeiten, wie Komfort und Luxus. Auch die Eltern des Mädchens sind nicht davon frei. Sie tragen goldene Uhren und wertvollen Schmuck, was sie aber in einem im Wohnmobil eingebauten Safe verstecken, wenn sie sich unter Menschen mischen, die viel weniger besitzen, um keine Begehrlichkeiten zu wecken, oder andere Menschen nicht zu Diebstählen oder Überfällen zu verleiten. Artemis staunt.

Er lernt, dieses Mädchen zu lieben. Es ist das einzige Kind dieses Ehepaars. Katharina ist ein kleiner Wirbelwind. Sie wird von ihren Eltern meist liebevoll Kathy gerufen. Zuweilen sagen sie Katharina, dann spürt Artemis, jetzt ist dicke Luft. Manchmal erfolgt nur eine Ermahnung, die sich in dem einen Wort manifestiert: "Katharina".

Sie ist selbstbewusst, vorlaut, gerissen, aber auch verblüffend offen und herzlich. Sie weiß, wie sie begehrte Streicheleinheiten erhält, oder irgendwelche Dinge, die sie sich in den Kopf gesetzt hat. Sie hat eine eigene Kamera und sie hat einen eigenen Laptop. Sie fotografiert alles und jeden und speichert die Bilder hinterher auf ihrem Rechner ab. Sie hat sogar einen mobilen Drucker in ihrem Mobilhome, und Kathy liebt es, diese Bilder auszudrucken und das ganze Wohnmobil damit zu bekleben, nicht immer zur Freude ihrer Eltern.

Artemis lernt von Kathy vor allem eins. Witz, Esprit, Charme, Phantasie und die Fähigkeit zu Späßen und Albernheiten, bis hin zu Tollkühnheiten. Einiges kannte er bereits aus der Tierwelt seines Planeten, vor allem bei Jungtieren im Welpenalter, aber die sprühende Ideenwelt, die Kathy da umweht, ist für Artemis neu.

Einmal fahren sie durch einen kleinen Ort, wo ein Fest angekündigt ist. Kathy überredet ihre Eltern mit allen Tricks, drei Tage hier in ziemlicher Langeweile auszuharren, nur um dieses Fest zu besuchen. Das Szenarium geht vom anschmiegen, lachen, Geschichten-Erfinden, Spiele-Spielen, dem Wunsch, jetzt unbedingt Skateboard zu fahren, oder einen frischen Erdbeer-Milchshake zu trinken, dem Verstecken des Zündschlüssels, bis zum Vortäuschen einer Übelkeit. Am Ende fügen sich die Eltern, obwohl dieser Stopp so nicht geplant war. Manchmal sehen sie sich an, zwinkern, oder schauen kurz weg, um leise zu lachen. Sie durchschauen dieses Spiel, aber Kathy ist ihr Liebling, ihr Augenstern. Artemis erkennt darin die unendliche Geduld, Aufopferung und Fürsorge, die er auch von Tiermüttern im Umgang mit ihren Jungtieren kennt. Später wird er lernen müssen, dass nicht alle Eltern so fürsorglich zu ihren Kindern sind.

Artemis sieht bei dem nachfolgenden Event zum ersten Mal Bullenreiten. Er kriecht in diese Tiere, um sie zu spüren. Er sieht ein Riesenrad und er sieht Schaubuden mit Zuckerwatte, Marsh-Mallows und Lose. Es gibt ein Bierzelt und Artemis sieht spät am Abend, was dieses vergorene Getränk mit den Menschen macht. Da hat sich die kleine Familie längst in ihrem Wohnmobil verkrochen, aber Artemis geht noch einmal aus, um die Menschen zu studieren.

Auch wenn Artemis hier viel Herzlichkeit erfährt, was auf dem flachen Land in den USA vielleicht noch typisch ist, so sieht er auch hier soziale Unterschiede. Es gibt Arbeiter und Angestellte, die harsch angeraunzt werden. Es gibt eine Hackordnung, und auch hier bestimmt das Geld eindeutig das Laben der Gemeinschaft.

Sie überqueren auf ihrer Fahrt die Rockys und sie besuchen den Tahoe National Forrest. In Frisco bleiben sie noch zehn Tage, dann geben sie den Camper zurück, und lassen sich mit einem Taxi zum Flughafen bringen. Einen Großteil ihres Gepäcks lassen sie einfach da. "Verschenkt das", sagen sie der freundlichen Dame an der Mietwagenrezeption. Irgendjemand wird sich über Westernhüte, nagelneue Roller Blades, kaum gebrauchte Koffer, Kleidung und Spielzeug freuen. "Kann man alles wiederbeschaffen", erklären die Eltern ihrer Tochter.

Hier in dieser Mietwagen-Filiale beschließt Artemis, sich zu teilen. Er hat in den letzten Wochen genug Kräfte gesammelt, dass er dies jetzt gefahrlos tun kann. Er spaltet zwei Teile ab, die jetzt auch alle Erbinformationen der Cantara in sich tragen, und er gibt ihnen den Rat, dem Fluss des Geldes zu folgen, und immer mit ihm vernetzt zu bleiben, um die Erfahrungen auszutauschen.

Artemis weiß nicht, wie weit dieses Europa entfernt ist. Es wird vielleicht unmöglich sein, sich auf solche Entfernungen mit der Energie der Cantara auf direktem Weg zu verständigen, aber er hat begriffen, dass Computer und Smartphones eine Kommunikation über den gesamten Globus ermöglichen. Er hat seinen Nachkommen diese Fähigkeit mitgegeben, diese technischen Geräte effektiv zu nutzen. Es wird einfach sein, stets miteinander vernetzt zu bleiben.

Die Reise hatte 3 Monate lang gedauert. Artemis ist ungefähr die Hälfte davon mitgefahren. Er hat längst gelernt, dass es auf diesem Planeten eine Zeitrechnung gibt, und dass Tag und Nacht sich abwechseln, anders als bei seinem Heimatplaneten.

Jetzt also sitzt Artemis mit diesen drei Menschen im Flieger nach Berlin. Unerkannt und ohne Ticket. Er ist gespannt auf diesen neuen Erdteil, den die Menschen Europa nennen.

2.3. Folge dem Geld

In den nächsten Wochen wird Artemis viel lernen. Er ist stets vernetzt mit seinen beiden Spähern, die in Frisco geblieben sind.

Sie docken sich einfach an die verschiedenen Menschen an. Sie besuchen Golfplätze, Reitturniere, Tennisplätze, Gestüte, Farmen, um sich mit der Spezies der Wohlhabenden und Reichen vertraut zu machen.

Sie dehnen ihren Radius aus, bis nach Sacramento und ins Silicon Valley und nehmen Kontakt auf zu den Bossen der Hih-Tech-Unternehmen. Sie besuchen Los Angeles, mit den Beverly Hills und den Filmstudios in Hollywood.

Es ist eine regelrechte Parallelwelt, die sie da vorfinden. Eine Welt der Reichen, gewiss, aber auch eine Welt der Snobs, der Macht, der Unterwerfung anderer, der Konkurrenz, und sie lernen wieviel Bedeutung tatsächlich dieses Geld über den Menschen hat. Nicht nur das. Einige dieser Menschen haben die Macht über wesentliche Kommunikationsmittel, die sich wie ein Netz über den Globus spannen.

Eine höchst interessante Erfahrung. Sie kriechen auch in die Großcomputer und beobachten diesen Fluss von ständigen Informationen und Energien.

Sie tauschen sich mit Artemis regelmäßig aus, denn Artemis hat in derselben Zeit ganz andere Erlebnisse, und sie beschließen, sich jetzt in bestimmten Abstännden immer neue Wirte zu suchen, um dieses System noch besser zu verstehen, und vielleicht die Kontrolle darüber zu erhalten.

Sie verstehen aber auch, dass diese Menschen, in deren Köpfe sie da kriechen, nach dem Verständnis der Cantara eine Spezies sind, die man zähmen muss, wenn man auf diesem Globus ein Gleichgewicht der Arten herstellen will, denn das ist eine Aufgabe, die im Erbgut der Cantara verankert ist.

So leicht ist das nicht. Sie sehen in den Computern, dass es diese Spezies auf dem ganzen Globus gibt. Was können drei Überlebende der Cantara da machen?

So gibt Artemis die Losung aus, vorerst weiter zu beobachten, und das Problem, dass sie da sehen langsam, bedächtig und nachhaltig anzugehen. Sie haben ja Zeit. Noch kann ihnen diese Spezies nicht gefährlich werden. Absolute Tarnung und Unsichtbarkeit ist die Vorraussetzung des Überlebens der letzten Überlebenden der Cantara.

2.4. Die neuen Kontakte des Artemis

Zurück zu Artemis, der ganz andere Erfahrungen macht.

In Berlin zieht Artemis mit der Familie in ihr großes Haus ein. Es gibt hier viele Zimmer mit unendlich vielen Dingen, wie Wasserhähne, Betten, eine Waschmaschine oder eine Mikrowelle. Einiges hatte Artemis schon auf der zurückliegenden Reise kennengelernt. Es gibt ein Kindermädchen, was jetzt dafür Sorge trägt, dass Kathy wieder in die Schule geht und den Lernstoff nachholt, den sie versäumt hat. Es gibt sogar einen Chauffeur und einen Gärtner, und er sieht, dass sich die Eltern bald wieder verabschieden. Sie haben einen Job, bei dem Reisen zum Handwerk gehört. New York, Tokio, Frankfurt, London. Überall, wo es große Börsen gibt, an denen das Geld umgesetzt wird, um sich zu vermehren. Dass Geld sich vermehren kann, ist etwas, was Artemis zunächst nicht begriffen hat. Das ist doch nur tote Materie, und manchmal nur ein ideeller Wert. Inzwischen weiß er, dass es sich nur um eine fiktive Vermehrung handelt, und dass diese Vermehrung nichts zu tun hat mit Zellvermehrung, oder auch mit dem, was den Familien zum Leben bleibt. Nun, bei einigen schon, bei den meisten jedoch nicht, aber dies ist Artemis zunächst nicht bewusst. Einige wenige Wochen reichen nicht für den kompletten Durchblick, und es gibt so unendlich viel zu lernen.

Er wird bald mehr wissen von diesem Geld, wenn er die ersten Berichte seiner beiden Späher erhalten wird.

Artemis lernt vor allem, dass Urlaub und Arbeit für die Eltern zwei Lebensbereiche sind, die nicht unbedingt vermischt werden. Sie haben jetzt Aufgaben. Sie wollen neues Geld verdienen. Sie wollen reisen. Sie brauchen die Kontakte, und die Bestätigung, erfolgreich zu sein.

 

Katharina bleibt alleine Zuhause, in Begleitung des Kindermädchens, das nun die Rolle der Ersatzmutter übernimmt und dem Chauffeur, dessen Aufgabe es ist, Einkäufe zu erledigen und das Kind zur Schule, in den Sport, oder zum Reitunterricht zu fahren.

Nachdem die Eltern abgereist waren, sieht Artemis, dass Kathy wirklich ihren eigenen Kopf hat. Manchmal geht sie zu diesen Reitstunden, manchmal zum Sport, aber nicht immer, dann schwänzt sie diese Stunden. Sie liebt es, mit der U-Bahn zu fahren, und sie hat dort offenbar eine ganze Menge Freunde, die das genauso halten.

Artemis lernt zum ersten mal eine Gang aus Jugendlichen kennen. Er lernt andere Gangs kennen, und er lernt, dass sich diese Gangs untereinander befehden. Es geht manchmal um einen Ehrenkodex, manchmal um Geld und Macht und Imponiergehabe. Manchmal ist das äußerst rigide, über Erpressung bis hin zur nackten Gewalt. Das Geschehen bedroht ihn nicht, er findet das spannend, und er beobachtet das Geschehen, neutral, wie er sein kann, als ein Studierender.

Kathy ist in einer Gruppe, zu der mehr als fünfzig Kinder gehören. Sie sprechen von Haus aus unterschiedliche Sprachen, und sie stammen aus unterschiedlichen Ländern, aber sie benutzen untereinander ein Kauderwelsch, das aus mehreren Sprachen zusammengesetzt ist. Es gibt viele Worte, welche nur diese Kinder benutzen. Andere verstehen den Inhalt jedoch nicht. So können sich die Kids untereinander verständigen, und sie zeigen sich damit zugleich, wir alle sind ein Teil desselben Clans. Einige der Kinder leben vom Diebstahl, aber nicht alle.

Ein Großteil dieser Kinder ist irgendwie nach Deutschland eingewandert. Sie haben ihre Eltern verloren oder verlassen, und sie haben sich zu einer Schutztruppe zusammengeschlossen. Ein Teil der Kinder lebt sogar in den Tunneln der U-Bahn. Sie fühlen sich hier zu Hause, und kennen den Fahrplan in- und auswendig. Sie kennen die Schächte. Sie kennen die Signale. Sie wissen, wann sie Schutz suchen müssen, wenn einer dieser Züge auf sie zurollt, ja, sie haben sogar eine eigene Schule gegründet, weil sie keine Papiere haben, die ihnen den Besuch einer regulären Schule erlauben, die von den Menschen geführt wird, die da oberhalb der U-Bahnröhren leben.

Dank seines Gespürs findet Artemis bald heraus, dass es solche, oder ähnliche Gruppen auch in Paris, London, New York und anderen Städten gibt, aber die Gruppen haben grenzübergreifend keinen Kontakt. Sie agieren nur lokal und regional, völlig unabhängig voneinander.

Katharina ist eines dieser Bandenmitglieder, die den Kontakt nach Aussen herstellen, und welche die Gruppe immer wieder mit Informationen und Geld versorgen. Sie ist eine sehr geschickte Diebin, und wird von der Bande bevorzugt für heikle Aufgaben eingesetzt, wo es um viel Geld und ein hohes Risiko geht. Artemis staunt. Dieses kleine Mädchen hat ein Doppelleben. Zu Hause mimt sie die brave und fleißige Tochter, aber tatsächlich liebt sie den Nervenkitzel. Sie ist dabei so geschickt, dass sie noch nie erwischt wurde.

Die Gruppe wird von zwei weißen Jugendlichen geführt. Der eine wird Robert gerufen, oder kurz Roy. Er ist ein wahres Multitalent und ein hervorragender Organisator. Auch er hat Witz und die Fähigkeit, viele anstehende Probleme über Lachen und Späße zu lösen. Er ist für die Kids, wie ein Ersatzvater. Manchmal milde, manchmal sehr energisch und bestimmt. Der andere wird Spek genannt. Er heißt eigentlich Winfried Broseke, aber das sagen nur ein oder zwei der Jugendlichen, wenn sie unter sich sind. Spek ist eben Spek, und er hat die Leitung von ein paar Kids, die besonders geschickt sind. Sie trainieren gemeinsam in einer Kampfschule Karate, Taekwondo und Kickboxen, und sie sind in einem Kampf Mann gegen Mann ziemlich gefährlich. Sie sind eine Schutztruppe und sie greifen manchmal ein, um die anderen Kids ihrer Gruppe vor Übergriffen zu bewahren. Sie besorgen aber auch Geld. Illegal erwirtschaftetes Geld, und sie sind richtig gut darin, andere Gangs abzuzocken. Kathy macht bei diesen Touren nur manchmal mit. Sie läßt sich nirgendwo fest verplanen. Sie hat ihren eigenen Kopf, sie ist bereits jetzt eine Art Unterchefin, die andere gut anleiten kann, trotz ihrer jungen Jahre. Sie behält fast stets den Überblick, und sie steht treu auf der Seite ihrer Bandenmitglieder.

Dieser Spek ist eine besondere Hausnummer. Obwohl noch jung an Jahren, ist er der geborene Teamplayer. Er kann ruhig sein und zuhören. Er kann vor Wut explodieren. Er führt eine Art Regime, und er ist der ungekrönte König in seinem Bereich der Aktivitäten. Seine Truppe kann sich aber auch hundertprozentig auf ihren Anführer verlassen. Er steht zu ihnen. Er haut sie heraus, wenn es notwendig ist. Er kann aber auch regelrecht brutal werden, wenn es darum geht, sich gegenüber anderen Gangs durchzusetzen. Dabei ist Spek äußerst erfindungsreich in der Auswahl seiner Methoden und Mittel. Er ist schwer durchschaubar, und man muss immer mit ihm rechnen. Spek könnte eine große Karriere als Mafiaboss vor sich haben, aber er sieht seine Aufgabe im Schutz von Schwachen. Dabei kann Spek sehr kooperativ sein. Er teilt sich mit Roy die Aufgaben, und sie reden sich nicht gegenseitig hinein.

All das ist für Artemis neu und aufregend. Auch das ist eine Parallelgesellschaft, die er bisher nicht kannte.

Er lebt eine Weile unerkannt bei diesen Kindern. Manchmal im Tunnel, manchmal oberirdisch. Er erlebt Konflikte. Er erlebt Schiebereien. Er erlebt Diebstähle und Messerstechereien. Er erfährt, was ein Überlebenskampf bedeutet, der aus Nahrung, Kleidung, Zuneigung und gegenseitigem Schutz besteht, und auch etwas, was als Bildung oder Wissen bezeichnet wird. Er sieht aber auch, was Armut heißt. Er lernt den Begriff der Freundschaft kennen, und so etwas wie einen geheimen Code. Roy sagt dazu Aufgabe, oder auch ethische Verpflichtung. "wir haben eine Aufgabe...", sagt er dann, denn das sind nicht nur kriminelle Kids. Sie besitzen einen strengen Ehrenkodex. Sie haben sich verpflichtet, sich gegenseitig zu schützen, um gemeinsam zu überleben, und zugleich, um ausgewählten anderen Kids Schutz zu bieten, die auch am Ende der Armutsskala stehen.

Sie haben Kontakt zu anderen Kindern und Jugendlichen, die irgendwo in Berlin leben, zusammen mit ihren Eltern, und die in normale Schulen gehen. Öffentlich und ganz legal. Einige dieser Kinder werden von ihnen sogar unterstützt. Dann, wenn es Auseinandersetzungen mit anderen Kids gibt, so dass sie Hilfe brauchen, dann, wenn sie ihre Chancen, oder etwas, was Roy den Lebenstraum nennt, ohne die Gruppe nicht hätten ergreifen können. Eines dieser Kinder ist Beatrice, oder kurz Bea genannt. Bea galt bereits in jungen Jahren als Wunderkind. Schauen wir deshalb ein paar Jahre zurück.

Bea war schon im Kindergarten aufgefallen durch ihre melodische Stimme und ihr gutes Gehör. Irgendwann hatte sie mit ihrer Mutter vor einem Musikladen gestanden. Sie hatte all die Instrumente betrachtet. Sie hatte viele Fragen. Dann war der Inhaber aus dem Laden gekommen, um eine Zigarette zu rauchen, und als er Bea so stehen sah, fragte er sie, ob sie nicht mal reinkommen wolle. Bea hatte die Instrumente betrachtet und vorsichtig über die Saiten gestrichen. Der Verkäufer hatte die glänzenden Augen gesehen, und hatte ein Etui mit einer 1/16 Zoll Geige geöffnet, sie gestimmt und ihr erklärt, wie man die Geige hält. Bea war damals gerademal vier Jahre alt gewesen. Sie hatte ihre Eltern überredet, ihr diese Geige zu Weihnachten zu schenken. Sie war gebraucht, und kostete damals 200 Mark. Viel Geld für eine Vierjährige. Viel Geld für die Eltern, die sich finanziell gerade so über Wasser halten konnten.

Die Großeltern steuerten einen Teil dazu bei, und nun zeigte die vierjährige ein erstaunliches Talent. Sie sang immer, wenn sie ihr Instrument versuchte zu spielen, und es gelang ihr schon bald, die anfangs nur quitschenden Töne des Instruments zu verwandeln. Sie nahm die Mutter manchmal an die Hand und besuchte den Ladeninhaber. Sie überredete ihn, ihr ein paar Handgriffe und Techniken zu zeigen. Innerhalb von nur einem Jahr konnte sie einfache Kinderlieder spielen, und als es im Kindergarten ein Adventskonzert geben sollte, bat sie darum, die Kinder auf der Geige zu begleiten. Das war der Tag, wo sie vielen Eltern als ein Talent auffiel, das man fördern müsse. Die Eltern von Bea hatten gleichwohl kein Geld für eine Musikschule, und deshalb sprach die Kindergärtnerin mit den anderen Eltern, ob sie ein paar Mark in einen Fonds zahlen wollten, so dass Bea ab und zu eine Übungsstunde bekommt. Das war nicht nötig, weil eine der Mütter selbst Geige spielte, und sich anbot, Bea zu unterrichten. Bea machte schnell Fortschritte, die Geige wurde ausgetauscht gegen eine 1/10 Geige und als sie in die Grundschule kam, wurde

Artemis lernte Bea kennen, da war sie sieben. Sie spielte inzwischen auf einer 1/4 Geige, und spielte inzwischen mit ihre Lehrerin Duette. Sie würde ihre Lehrerin wohl bald an Können überflügeln.

Inzwischen hatte Bea auch die Kids im Untergrund kennengelernt. Es war auf einem der U-Bahnsteige. Sie kam gerade vom Geigenunterricht. Ein Paar Kinder pöbelten sie an und versuchten ihr die Geige zu entreißen. Katharina stand ein Stück weiter, zusammen mit drei ihrer Freunde. Sie sah das, und griff spontan ein, um Bea zu schützen. Das war der Beginn ihrer Freundschaft.

Artemis besucht diese Bea. Er wohnt ihrem Unterricht bei, und er nimmt diese Schwingungen in sich auf, die von dieser Musik erzeugt werden. Er kennt Schwingungen, die von Wind, Regen, dem Rascheln der Blätter, den Rufen von Tieren oder den Flügelschlägen der Vögel entstammen. Er hat auf seiner Reise quer durch die USA Musik gehört, die aus dem Radio kam. Er hat Musikgruppen mit ihren Instrumenten gesehen. Hillbilly, Gospel, Hiphop, Country und Western, aber diese Musik von Conny ist einzigartig. Diese Schwingungen sind einzigartig. Artemis ist sich sofort darüber im Klaren, dass man dieses Talent fördern muss.

Diese Bea ist ein ernstes Kind, aber sie ist mit einer Begeisterung für ihre Musik gesegnet, die Artemis tief beeindruckt. Das ist wahre Hingabe, wahre Liebe zu einer Ausdrucksform, die andere Menschen in gewaltige Schwingungen versetzen kann. Kurz: Bea geht ganz in ihrer Musik auf, aber sie vernachlässigt auch nie ihre neuen Freunde in ihrer Kindergruppe. Mit Katharina verbindet sie inzwischen ein enges Band.

Katharina bittet ihre Eltern, eine Patenschaft zu übernehmen, um Bea den Unterricht an einer richtigen Musikschule zu finanzieren. Sie würde im Gegenzug gerne auf die Tennisstunden verzichten. Das wäre sowieso nicht ihr Ding. Das Reiten wollte sie indes nicht aufgeben, und sie dürften immer gratis in eines der Konzerte gehen, das Bea in Zukunft geben würde.

So kam es, dass Bea in der anerkannten Schule einer Berliner Musikerin unterkam, die früher selbst die erste Geige bei den Berliner Philharmonikern spielte, bis durch einen Unfall der rechte Arm und die Schulter mehrfach gebrochen wurden, so dass sie damit aufhören musste.

Dann gibt es noch einen Jungen, der heißt Leon Mendez. Er hat einen spanischen Vater und eine dänische Mutter. Sie leben in Berlin, und auch Leon hat sich dieser Gruppe angeschlossen. Er ist ein äußerst interessantes Kind, aus der Sicht von Artemis. Ähnlich wie Katharina, ist Leon hellwach. Er spricht das Deutsch fließend, aber er kennt auch die Grundzüge in Spanisch und Dänisch. Das hat er von seinen Eltern gelernt. Er hat auch gelernt, sich schon in jungen Jahren selbstständig durch die Röhren der U-Bahn zu bewegen. Zunächst nur in den Zügen und auf den Bahnhöfen, später, nachdem er Roy und Kathy kennengelernt hat, auch zu Fuß, durch die Röhren und seitlich davon abgehende Schächte. Er schafft es immer wieder, von Zuhause auszubüchsen, und weil beide Eltern arbeiten, ist er an den Nachmittagen unbeaufsichtigt, so dass er seinem Hobby unkontrolliert frönen kann. Er hat schon früh im Umgang mit anderen Gangs gelernt, dass man sich schützen muss. Er hat sich eine richtige Truppe aus guten Freunden zugelegt, die oberhalb der U-Bahnwelt kaum einen Schritt alleine machen, zum eigenen Schutz, und er hatte irgendwann auch diese Gruppe der U-Bahnkids um Roy kennengelernt.

Obwohl alle diese Kids der Bande ungewöhnlich sind, erlebt Artemis, dass einige dieser Kids als Alphatiere geboren wurden. Roy, Spek, Kathy, Bea und Leon sind eindeutig Menschen, die durch ihren genetischen Code bereits auserwählt sind, um andere Menschen zu führen, und in ihrem Leben etwas Großartiges zu leisten.

 

Artemis schlüpft manchmal in die Köpfe von Roy und Spek. Er hat inzwischen ständigen Kontakt zu Bea und Kathy. Er begleitet Leon ein paar Wochen lang, und dann fällt er einen Entschluss.

2.5. Der neue Wirt

Artemis könnte so weiter leben, wie bisher. Unerkannt und unsichtbar, und er wird irgendwann sterben. Er hat zwar noch einige Jahrhunderte vor sich, aber insgesamt ist seine Zeit begrenzt.

In diesen Kids sieht er ein Potenzial, dessen er sich bedienen kann. Menschen, denen Freundschaft über alles geht. Menschen mit Weitblick und sozialer Verantwortung. Menschen, die schon jetzt einen Führungsanspruch in sich tragen. Wenn er dieses Potenzial unter seine Kontrolle bringt, dann hat Artemis vielleicht die Chance auf diesem Planeten etwas zu bewegen. Nicht sofort, aber Artemis hat ja Zeit.

Er weiß inzwischen auch, dass dieses Geld die Welt und das Denken der meisten Menschen beherrscht. In diesen Kids sieht er etwas anderes. Die Bereitschaft, zu teilen. Artemis weiß inzwischen aber auch, dass zu den Aufgaben, die sich gerade in seinem Kopf entwickeln gehört, über notwendige Geldmittel zu verfügen, um auf dieser Welt etwas zu bewegen.

Es ist ein Wagnis. Ein Neuanfang. Er wird dafür Sorge tragen, dass diese Menschen ihren Wurzeln treu bleiben. Auch das wird vielleicht nicht ganz einfach, aber Artemis ist zuversichtlich.

Artemis kann durch Zellteilung neue Nachkommen zeugen, jetzt, wo er wieder bei Kräften ist, und er wird dies wohl bald wieder tun, aber er braucht so etwas, wie einen sicheren Ausgangsort, wie eine Heimat, oder wie einen Wohnort, von dem er aus sicher operieren kann. Er beschließt, in den Kopf und in den Körper dieses Jungen einzuziehen, der Leon Mendez genannt wird. Er könnte im Wald leben, oder irgendwo auf den Plantagen, die von den Menschen angebaut werden, er könnte in Viren schlüpfen, oder in die Körper von Fliegen, aber er sucht die Nähe dieser Spezies, die versucht, sich den Planeten untertan zu machen. Das gelingt ihnen nur partiell. Sie haben zwar Mittel gegen Insekten, Bakterien und Viren entwickelt, aber gegen diese winzig kleinen Lebewesen sind sie letztlich machtlos. Artemis hat das bereits festgestellt. Gegen die Quadrilliarden Insekten ist kein Kraut gewachsen, und die Viren verändern sich schneller, als die Menschen Immunstoffe entwickeln können. Insekten und Viren und Insekten leben aber auch von den Menschen. Es ist ein Kreislauf. Die Menschen verstehen diese gegenseitige Abhängigkeit nur nicht. Nun ja, einzelne schon, die sich mit dem Immunsystem der Menschen oder mit Virologie beschäftigen.

Dennoch hat es diese Spezies geschafft, die Welt gewaltig zu verändern. Das hat Artemis begriffen. Sie sind zu einer Gefahr für das Leben auf dem Planeten in der jetzigen Form geworden.

Einer der Gründe für die Wahl von Leon ist, dass dieser Leon zu seinen Freunden eine besondere Beziehung pflegt, die von gegenseitiger Rücksicht und Achtung geprägt wird. Er ist kein Schläger. Er stiehlt nicht ungehemmt, und nur, um die anderen Kinder zu unterstützen. Er ist hilfsbereit, direkt und offen, auch wenn er seinen Eltern nicht ehrlich sagt, was er an diesen Nachmittagen treibt, wenn er unbeaufsichtigt ist, und Leon hat immer warme Hände, die Wohlgefühl vermitteln, wenn sie dich berühren. Außerdem ist Leon jung und formbar, und er verfügt über die Fähigkeit sich in Sprache auszudrücken. Artemis hat schon mitbekommen, dass die Sprache bei Kindern im allgemeinen unfertig ist, aber das stört ihn nicht. Er wird schon dafür sorgen, dass dieser Junge schnell lernt. Vor allem, dass er lernt, den Maximen der Cantara zu folgen.

Also zieht Artemis eines Nachmittags in den Körper von Leon, und er macht sich dort breit. Für Artemis ist dies zunächst ein Experiment. Er kann jederzeit aus diesem Körper wieder ausziehen, aber er kann diesem Jungen auch einen Teil seiner Kraft geben, um ihn in seinem Sinn zu beeinflussen und zu steuern. Er kann die Augen, Ohren, Geschmacksnerven, den Tastsinn, und die verbale Sprache des Jungen nutzen, um noch viel mehr von der Welt zu erfahren.

Er hat diesen Jungen bewusst ausgewählt. Er hätte auch in die Köpfe von Kathys Eltern einziehen können, oder in einen ihrer Geschäftspartner, in den Gärtner, in den Körper von Kathy, Bea, Roy, oder in einen x-beliebigen Politiker oder Wirtschaftslenker, aber nein, dieser Junge scheint ideal und Artemis hat Zeit. Er kann seinen Wirt auch jederzeit verlassen, und einen neuen wählen, wenn er nur will.

Für Leon wird diese überraschende Symbiose zu einem Energieschub. Er beginnt besser zu sehen, zu hören und zu riechen. Er entwickelt eine enorme Reaktionsschnelligkeit, ein gewaltiges Organisationstalent und ein Gespür für alles, was ihn umgibt. Er nimmt Kontakt zu Ratten, Mäusen und Vögeln auf und beginnt mit ihnen zu sprechen. Er knüpft Kontakte zu einigen wenigen Fledermauskolonien, die sich in einigen Schächten der U-Bahn niedergelassen haben, und er wird in der Schule so gut, dass die dort gestellten Aufgaben locker und leicht erledigt. Er könnte ohne weiteres ein Schuljahr überspringen, aber er hat an den Nachmittagen so viele selbstgestellte Aufgaben, dass er seine Energie in der Schule darauf beschränkt, dass hier zwischen den verschiedenen Interessengruppen Frieden herrscht. Leon entwickelt sich zu einem genialen Mediator, zu einem Strippenzieher, der Konflikte zwischen rivalisierenden Gruppen steuert, oder auch ausschaltet, weil er seinen Frieden haben will. Er kann diese Gruppen schon bald aufeinander hetzen, wenn ihm das dient. Er lernt vor allem, die Sprache so zu benutzen, dass er andere Menschen in seinem Sinn beeinflussen kann.

Artemis beobachtet das ganze Geschehen, und die Entwicklung dieses Jungen, und er lächelt. Dieser Junge ist für ihn wie ein Quell neuen Wissens. Was er sieht, das gefällt ihm.

Leon entwickelt Qualitäten, die ihm helfen, seine Aufgaben besser zu bewältigen. Er versteht Tiere nicht nur, sondern er lernt, sich mit ihnen in ihrer Sprache zu unterhalten, egal ob Libelle, Biene, Vogel oder Hund. Das geht soweit, dass Leon lernt, sich in Tiere zu verwandeln, zu denen er einmal Kontakt aufgebaut hat. Eine Fähigkeit, die Artemis diesem Jungen aber erst nach vielen Jahren gestattet, in denen sich dieser Junge bewähren muss. Leon lernt aber sehr schnell eine Sprache, von der er nie zuvor gehört hat. Ein seltsames Gemisch von Lauten und Elektroimpulsen, das ihm erlaubt, Kontakt zu anderen Kulturen aufzunehmen. Dieses Gemisch ermöglicht ihm, fremde Sprachen im Handumdrehen zu erlernen. Leon sieht auch die Ströme von Energie, die er aussendet, wenn er diese Laute anstimmt. Als Drittes erhält er ein unglaubliches Gespür für die Empfindungen von Menschen, deren geheime Wünsche und Gedanken. All das geschieht nicht sofort, sondern das ist ein langsamer und zäher Prozess. Die zuletzt genannte Eigenschaft ist es vor allem, die aus Leon später einen genialen Scout machen wird. Schließlich lernt er, den Raum zu überwinden. Es ist nicht so, dass er wie bei einem GPS eine bestimmte Strasse in New York oder in Singapur eingeben kann, und dann automatisch dorthin geführt wird. Er muss den Ort schon kennen, dann öffnet sich vor ihm ein Tunnel, durch den er rasend schnell fliegt, bis er dort ist, wo er hin will. Er löst sich bei dieser Fahrt in seine Atome auf, angetrieben nur durch die Energie, die Artemis dem Jungen zur Verfügung stellt.