Der Clan der Auserwählten

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Es ist mehr als das. Leon ist jetzt ein Staasbürger Perus, und als solcher genießt er einen größeren Schutz als vorher. Es war im Prinzip ein genialer Schachzug, um seine Ziele noch besser durchsetzen zu können.

Mila schenkt an Weihnachten einem gesunden Mädchen das Leben, und sie nennt sie nach dem alten indianischen Namen Chénoa und dem spanischen Zusatz Maria, und auch sie beantragt jetzt den Künstlernamen del Sol, so dass ihre Tochter zukünftig Chénoa Maria del Sol heißen wird. Leon hatte beim Amtsgericht hinterlassen, dass er einverstanden sei, dass auch Mila und seine leiblichen Nachkommen diesen Künstlernamen tragen dürfen, der sonst nur einmal beantragt werden darf. Eine Heirat kommt für Leon jedoch nicht in Betracht. Er fühlt sich auch viel zu jung, um solche Entscheidungen zu treffen.

2.6.4. Chénoa wird nicht die einzige Nachkomme von Artemis bleiben, die auf natürliche Weise gezeugt wird, nach der Art, wie das die Menschen tun. Sie werden in ihrer äußeren Form ganz den Erdlingen gleichen, und sich damit nicht von anderen Menschen unterscheiden, aber sie werden Talente und Fähigkeiten entwickeln, die anderen Menschen weit überlegen sind. Es ist für die Cantara die ideale Tarnung.

Die Tochter des damaligen peruanischen Ministers für Fremdenverkehr und Archäologie, der ein Angehöriger der weißen Oberschicht ist, die verliebt sich einige Jahre später ausgerechnet in diesen Indio Nakoma, der sich inzwischen Nakoma del Sol nennt. In bestimmten Gesellschaftskreisen gilt eine solche Verbindung zwischen den Rassen als Skandal. Doch auch ohne seinen Adoptivvater Leon hat sich Nakoma mittlerweile einen Namen gemacht, als genialer Fremdenführer, als Tierflüsterer und als blutjunger Leiter der Indioschule, so wie des neu entstandenen Kulturzentrums in Ciudad del Sol. Er hat ein ausgesprochen glückliches Händchen im Umgang mit Tieren und Menschen.

Mercedes und Nakoma beschließen gegen den Willen ihres strengen Vaters zusammenzubleiben. Was zunächst ein riskantes Spiel ist, das entwickelt sich bald zu einer Love Story. Während Mercedes Tiermedizin studiert, absolviert Nakoma eine Ausbildung als Tier-Heilpraktiker. Er hat eine seltene Gabe, die Sprache der Tiere zu verstehen und sie von allen möglichen Krankheiten zu heilen. Warum also soll er diese Fähigkeit nicht nutzen, und sich einen Rahmen schaffen, der ihm ermöglicht, diese Tätigkeit offiziell ausüben zu dürfen.

Seine Fähigkeiten als Tierflüsterer gewinnen schon bald Anerkennung in konservativen Kreisen, denn auch in Peru gibt es sehr wertvolle Tiere. Hunde, Koys, Angorakatzen, Rennpferde. Nach anfänglicher Ablehnung nimmt man gern die Dienste dieses Indios in Anspruch, der ausgesucht höflich und kompetent ist, und der inzwischen über ungewöhnlich gute Manieren verfügt. Tatsächlich hilft ihm auch die Adoption durch Leon, und weil Nakoma bereits einer der Direktoren der Stiftung ist, verschließt sich der Minister der Verbindung zwischen Nakoma und Mercedes nicht länger. Dennoch ist diese gesellschaftliche Verbindung ungewöhnlich. Ein Sakrileg eben, Talent hin oder her, zumindest dann, wenn die Frau eine Angehörige der weißen Elite ist und der Ehemann "nur" ein Indio.

Anfangs war der Minister gegen diese Liebe. Er kennt den Sprengstoff dieser Verbindung. Durch seine gesellschaftlichen Verbindungen weiß er von diesen Goldfunden. Keine Einzelheiten. Auch die Lage der Adern ist nur in etwa zu umreißen. Durch geschicktes Taktieren könnte man diesen Besitz gewiss in die eigenen Hände bekommen. Es war seine Frau, die ihn lange angesehen hatte. "Wenn die Beiden heiraten, dann gehört dieser Fund automatisch auch unserer Tochter", hatte sie ihn beschworen, und sie hatte hinzugefügt, "ohne dass du einen Finger krumm machen musst. Außerdem solltest du lieber darauf achten, dass Mercedes glücklich wird. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie diesen Mann liebt, und auch ich habe meine Kontakte aktiviert, und diesen jungen Mann beobachten lassen." Sie hatte damals gelächelt. "Er scheint unsere Tochter aufrichtig zu lieben. Also verwende deine Kraft lieber dafür, die beiden zu beschützen, so lange das anhält. Wenn er ihr das Herz bricht, dann kannst deine heimlichen Pläne ja wieder aufnehmen." Sie hatte ihm die Hand auf den Arm gelegt, und ihn hintergründig angesehen. Da hatte er sich gefügt. Er ist ein starker Charakter, aber die Frau an seiner Seite war ihm bisher stets eine gute und sichere Ratgeberin gewesen. Sie hatte bisher immer recht behalten.

Auch er weiß inzwischen, in welches ungeheure Talent seine Tochter da verliebt ist. Nakoma ist ein Leisetreter. Seine Überzeugungskraft und seine Aura sind effiziente Waffen. Seine Fähigkeiten als Tierflüsterer sind bereits weit über die Landesgrenzen Perus hinaus bekannt. Sie waren das bereits, bevor er seine Ausbildung zum Tierheilpraktiker überhaupt begonnen hatte, und das, obwohl er aus einer armen Familie stammt, in der nichts und überhaupt nichts besonders oder auffällig ist, außer der tiefen Armut, welche viele dieser Indianerfamilien in den Anden kennzeichnet.

Nicht lange nach der Hochzeit schenkt auch Mercedes einem gesunden Jungen das Leben. Auch bei ihm sind die innewohnenden Kräfte äußerlich nicht sichtbar, denn er ist - natürlich - auch ein Kind von Artemis.

Die Mutter von Mercedes hilft ihrem Schwiegersohn Nakoma, dem Staat in den Bergen ein großes Grundstück abzukaufen, zu dem auch mehrere Täler und Seitentäler mit Flüssen gehören, und das er als Ranch für die Zucht von Pferden ausbauen will. Er ist zwar noch sehr jung, aber die Gattin des Ministers spürt die ungeheure Kraft, die sich hinter der freundlichen Fassade verbirgt. Sie ist sich sicher, dass einmal etwas ganz Großes aus ihm werden wird. Offiziell gilt Nakoma jetzt immerhin als Mestize, weil sein Adoptivvater Leon del Sol ein weißer spanischstämmiger Geschäftsmann ist.

2.6.5. Niemand weiß von der Existenz des Volkes der Cantara und der Hilfe, die sie Leon, Nakoma, und ihren Kindern angedeihen lassen. Nicht nur ihnen, auch den nächsten Freunden in Peru und Berlin, so dass die Stiftung schon bald einen außerordentlichen Ruf begründet, eine Ansammlung von besonders talentierten jungen Leuten zu sein.

Niemand weiß, dass Artemis jetzt in der neu gegründeten Siedlung der peruanischen Indios lebt, die am Fuße der Ausgrabung entsteht, und die man Ciudad del Sol genannt hat.

Es ist äußerst praktisch, dass sich Leon, Mila und Nakoma jetzt alle del Sol nennen, und dass die Tochter des Ministers in die Familie del Sol einheiratet, die sich in Peru bereits einen Namen gemacht hat. Es ist inzwischen fast wie ein Adelstitel, denn den Indios der Aymara und der Quechua gelten Leon und Nakoma bereits als von Gott gesandte Boten, um ihnen zu helfen, in diesem Land eine neue soziale Stellung zu erringen, die auf Gleichberechtigung beruht.

Artemis wiederum kann sicher sein, dass die Xorx den weiten Weg zur Erde mit ihren Raumschiffen niemals finden werden. Zu weit, zu lang und zu gefährlich.

Er hat dafür gesorgt, dass seine Sippe auf diesem Planeten eine neue Bleibe gefunden hat. Heimlich und unsichtbar.

Er wechselt jetzt manchmal den Standort. Mal ist er in Berlin, mal in Peru. Er dockt sich einfach an Leon an, um ihn auf seinen Reisen zu begleiten. Völlig unerkannt. Er ist über seinen Energiefluss stets verbunden mit den Gehirnen von Leon und Nakoma, und jetzt auch mit Chénoa Maria de Sol, Nakomas Sohn Pedro Gonzales Eanathotès und seiner Tochter Ana Théla, die nur zwei Jahre später zur Welt kommt. Sie tragen alle die Kraft ihrer Väter in sich, durch den Akt der Zeugung, nun, genau genommen ist es die Kraft von Artemis. Sie sind die ersten Kinder zwischen einem Menschen und einem Außerirdischen. Würde man den Genstrang von Chénoa Maria de Sol, Pedro Gonzales, oder Ana Théla untersuchen, würde man Seltsames finden. Er hat nicht die übliche Spiralform, sondern die Form einer durchbrochenen Kugel, in der die verschiedenen Elemente auf mehreren Ebenen ineinander greifen und ständig ihre Position wechseln. Auch die Hirnmasse dieser Mutanten ist ein gutes Stück größer, als bei einem normalen Menschen, und sie wird viel effektiver genutzt. Es ist ein Privileg. Chénoa wird später 35 Prozent ihrer Gehirnmasse aktivieren, und das wird sie zu ungeheuren Leistungen befähigen. Ana Théla ist nicht viel weniger stark, aber sie bildet ihre Stärken auf ganz anderen Gebieten aus als ihre Schwester. Nun eigentlich sogar ihre Tante. Beides eben.

Im Vergleich zu den Fähigkeiten von Artemis ist das dennoch gering, und er steuert diese Prozesse. Er will die Kontrolle darüber behalten, was da geschieht. Er will die Entwicklung ganz in seinem Sinn beeinflussen.

Die Kinder von Leon und Nakoma werden jetzt in der Tradition der Cantara erzogen. Diese Tradition ist dem Erbe der Indianer der Anden in vielen Teilen sehr ähnlich. Die Indianer Südamerikas verehren die Mutter Erde. Auch heute noch. Sie verehren Pflanzen und Tiere. Der Mais gilt ihnen sogar als Gottheit. Sonne und Regen gelten als willkommene Lebensspender. Das ist ganz im Sinn von Artemis und seiner eigenen Nachkommen.

Später verhilft Artemis dem Vater von Mercedes zum Posten des Ministerpräsidenten, und der wird dieses Amt über viele Jahre ausüben, weil er ein geschickter Taktierer ist. Es ist Artemis einfach wichtig, dass Leon, Nakoma und Mila in der Regierung einen mächtigen Befürworter bekommen. Er lässt einen seiner Nachkommen im Kopf des Ministerpräsidenten einziehen, aber er wird ihm die Macht seines Clans nur soweit zur Verfügung stellen, dass er einer der Freunde des Clans wird, und sogar polizeilichen und militärischen Schutz gewährt. Artemis wird dafür sorgen, dass sich seine Sippe auf diesem Planeten vermehrt und beginnt, die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Prozesse zu steuern und zu überwachen, um diesen Lebensraum zu schützen und zu erhalten.

 

In der Wirtschaft würde man von einer freundlichen Übernahme sprechen, aber in diesen Kategorien ist Artemis noch nicht wirklich bewandert. Er tut das, weil es einfach richtig ist.

Er hat noch viel zu lernen. Auch Leon und Nakoma haben noch viel zu lernen, und auch die Kinder Chénoa Maria de Sol, Pedro Gonzales und Ana Théla. Artemis akzeptiert das vorbehaltlos. Er hat hier eine Bleibe gefunden, die vorerst sicher scheint, aber er sieht auch, dass auf dieser Erde Prozesse im Gang sind, die er als unbefriedigend und zerstörend versteht. Noch ist er Gast, und noch ist er weit weg davon, alle Vorgänge auf dieser Erde zu begreifen, aber er kann sich Zeit lassen. Selbst wenn er jetzt sterben würde, gibt es bereits Nachkommen, die seine Aufgabe fortsetzen werden.

Seine beiden Nachkommen in den USA springen immer noch von Wirt zu Wirt. Manchmal in Abständen von wenigen Tagen oder Wochen. Manchmal ziehen sie auch für Monate ein. Sie haben sich inzwischen geteilt und die kleine Gruppe der Cantara beginnt sich über das Land zu verteilen und in den Zentren der Macht festzusetzen. Manchmal sind das Wirtschaftskapitäne, manchmal Politiker und manchmal Musiker oder Schauspieler, die einen enormen Einfluss auf die öffentliche Meinung haben.

Artemis hat sich einfach an die Bedingungen angepasst, die er auf der Erde vorgefunden hat, und er beschließt, von Zeit zu Zeit weitere Zellabspaltungen vorzunehmen, um sie in die Gehirne von Menschen zu pflanzen. Unsichtbar, aber hoch effizient. In Europa, in Südamerika, und irgendwann auch in Asien oder Afrika

Leon und Nakoma vermehren sich vorläufig auf natürliche Weise, in der Art, wie Menschen das tun, also durch einen Akt der Zeugung.

Diese behutsame Vermehrung ist aus der Sicht von Artemis ein Grundstock. Er hat es nicht eilig, und er ist kein Aggressor, der danach strebt, sich die Menschheit untertan zu machen. Immerhin hat er inzwischen zu diversen Populationen auf dieser Erde engen Kontakt. Zu Insekten, zu Nagern, zu Einzellern, zu Viren. Es ist ein Leichtes, einen Virenstamm so zu modifizieren, dass er die Menschheit als Gesamtes bedroht, wenn diese Menschheit dem Volk der Cantara gefährlich werden würde. Die Cantara würden bei einem solchen Angriff weiterhin unsichtbar bleiben, und nur die verschiedenen Spezies dieser Erde für ihren Vernichtungsfeldzug nutzen.

Artemis hat aus dem Angriff der Xorx auf seinen Heimatplaneten gelernt. Er hat begriffen, dass eine Unterwanderung die sicherste Methode ist, um seinem Volk langfristig eine neue Heimat zu bieten. Er wird das weiter heimlich und unerkannt tun, und das wird auch so bleiben, und er wird auch seinen Wirten zeigen, wie sie die Gesellschaft unterwandern, um ihre Ziele zu erreichen. Ihre jetzt schon bekannten, und die Ziele, die noch gesteckt werden müssen, sobald die Kompetenz aufgebaut worden ist, um sich neue Ziele zu stecken. Artemis ist sehr pragmatisch. Er muss auf dieser Erde Schritt für Schritt voran gehen. Jedes Erzwingen einer völlig neuen Situation bringt nur Unruhe und Gefahren, die er vielleicht nicht einschätzen kann. Dafür ist seine Position auf diesem Planeten noch viel zu schwach.

Noch eins hat Artemis auf dieser Erde begriffen. Das Zeit-Raum-Kontinuum war auf seinem Heimatplaneten für das Volk der Cantara (rückwärts gewandt) ein Faktor, den man durch das historische Gedächtnis der Spezies leicht überwinden konnte. Hier auf der Erde funktioniert das nicht, da er auf das sehr unvollkommene, sehr selektive und kurzzeitige menschliche Gedächtnis zurückgreifen muss. Vielleicht wird er eines Tages lernen, auch auf diesem Planeten das Zeit-Raum-Kontinuum zu überwinden, etwa indem er das Gedächtnis von Bäumen oder Steinen benutzt. Noch scheint das nicht notwendig zu sein.

Inzwischen hat Artemis auch mit dem Bekanntschaft gemacht, was die Menschen mit Philosophie bezeichnen. Es gibt da unterschiedliche Schulen, die sich gegeneinander abgrenzen. Manchmal in regelrechter Feindschaft. In seinem Land gab es nur eine hochintelligente Spezies, und nur eine Philosophie. Zumindest bis sich der Überfall der Xorx ereignete.

In der zurückliegenden Zeit hatte das Volk der Cantara viele Wechsel miterlebt. Dürren, Kälteperioden, Vulkanausbrüche, Eiszeiten. Die Sonne ist ja kein statischer Klumpen, sondern ein hochexplosives Gemisch aus flüssigem Metall, Kristallen und Gasen, und sie beeinflusst ständig die umliegenden Planeten. Jede Sonneneruption kann das Leben auf den umherkreisenden Planeten beeinflussen, jede Sonnenimplosion kann eine Eiszeit hervorrufen, aber auch gewaltige Stürme, die einen Planeten sogar aus der Umlaufbahn werfen können. Auf diese Weise ist der Planet Cantara einmal aus seiner früheren Umlaufbahn geworfen worden, die damals viel näher an der Sonne lag.

Damals war der Planet Cantara ein glühend heißer und unbewohnter Ball. Erst in seiner neuen Umlaufbahn entwickelte sich dort Leben. Andere Planeten wurden damals sogar in viel weitere Entfernungen von der Sonne gekickt, und sind heute Eisklumpen, auf denen nichts mehr wächst. Das ist jetzt viele hundertmillionen Jahre her, längst bevor das Volk der Cantara entstanden war.

Würde das Leben auf Cantara durch natürliche Einflüsse wieder erlöschen, hätten die Cantara sogar die Möglichkeit, sich an Steine, Sand, Metalle oder Gase anzudocken, und könnten auf diese Weise noch sehr lange überleben.

Es ist also nicht so, dass Veränderungen von den Cantara grundsätzlich als negativ empfunden werden. Veränderungen sind Erscheinungsformen, die überall im Weltall zu finden sind, und die sehr pragmatisch einem bestimmten Lebenszyklus und einem Zeitfenster unterliegen, der zwischen der Geburt und dem Erlöschen eines Sonnensystems angesiedelt ist. Forscht man weiter, so ist zu fragen, ob es nicht letztlich egal ist, dass die Veränderungen auf der Erde durch den Menschen geschehen, oder durch natürliche Einflüsse. Alle beide sind Per se Veränderungen. Im Universum hat diese Zeitspanne, die dem Menschen, oder auch dem Volk der Cantara gegönnt ist, ohnehin keine größere Bedeutung als eine Millionstel Millimeter auf einer Skala von hundert Kilometern, und wenn der Planet Erde durch das Eingreifen des Menschen versteppt, erlischt ja nicht automatisch das Leben. Es sterben nur viele tausend Arten, die einige Millionen Jahre später wieder in einer völlig neuen Form entstehen können. Für das Überleben der Cantara ist das bedeutungslos.

Teil 3

Leon und Chénoa

Die Food Company, die Stiftung,

die Philosophie des Clans,

und die Konferenz der fünf Freunde

Teil 3 Kapitel 1.

Wittenberge an der Elbe. Der Boss und die Praktikantin.

1.

Leon del Sol ist jetzt 47. Er steht im Versuchslabor der Mac Best Food Corporation in Brandenburg und bespricht sich mit seinem Chefchemiker, den er seit nunmehr 13 Jahren mit seinem Nickname anredet, Dan. So lange arbeitete Dr. Daniel Koslowski schon für den Lebensmittelkonzern Mac Best.

Die Mac Best Food Company ist ein multinationales Unternehmen mit über 130.000 Schnellrestaurants, 75.000 davon alleine in den USA. Leon und seine Freunde hatten das Unternehmen vor Jahren übernommen und den Namen einfach belassen, weil man einen Markennamen nicht ändert, ohne triftigen Grund. Der Name passt auch ganz zur Unternehmensphilosophie, beste Nahrung zu verkaufen. Es geht hier allerdings nicht um Sterneküche für Gourmets, beste Weinlagen und Jahrgänge, sondern um "Food for the World", um Essen für alle, um die Sicherstellung eines bezahlbaren, aber gleichwohl guten und gesunden Essens für möglichst viele Menschen auf der Welt. Mac Best bietet kein Junk Food, sondern eine ausgewogene Nahrungspalette aus ausgesuchten Anbaugebieten und mit dem Anspruch, möglichst großer Transparenz, dem Erhalt nachwachsender Energien und der wirtschaftlichen Produktion und Vermarktung. Damit ist Mc Best anders als alle anderen Restaurants, und anders als alle anderen Fast Food Ketten, oder die Hersteller von Massenware im Bereich von Fleisch, Gemüse oder Süßprodukten.

Wegen der phonetischen Nähe zu Shakespear's Mc Beth werden immer mal Witzeleien gemacht, aber damit kann Leon gut leben, weil es im Endeffekt den Umsatz sogar steigert. Wohin geh'n wir heute? Zu Mac Beth... (Lacher). Nun ja. Nicht Jeder hat in seinem Leben einmal von Shakespears Dramen gehört, oder sie gar gelesen, aber solche Namensveränderungen machen schnell die Runde, vor allem dann, wenn solche Ableitungen bereits von Vorschulkindern verwendet werden, die das irgendwo aufgeschnappt haben, und dann spielerisch verändern: Mac Bean, Mac Salad, Mac Sausage, Mac Tomato-sauce, Mac Strawberry icecream, Mac Plumpudding... (Kicher kicher)...

Die Kinder sind für Mac Best fast die wichtigste Zielgruppe. Wenn man die begeistern kann, dann kann man diese Verbraucher ein Leben lang an den Konzern binden. Natürlich verändert sich das Essverhalten im Laufe der Zeit. Die Kleinen wollen vor allem Fritten, Sauce, Burger, Würstchen, Eis, Säfte, gegrillte Marshmallows und Cola, bunt garniert und mit Sonnenschirmchen, Strohhalmen und auf Tabletts mit Kindermotiven. Mac Best hat eigene Kinderabteilungen eingerichtet, mit kleinen Tischen, innenliegender Rutsche, Bällen, Clowns, und Stühlen in Form von Treckern, Lastwagen, oder Dreirädchen. In einigen Restaurants gibt es eine Eisenbahn, die rund um das Lokal fährt, und eine Haltestelle direkt im Kinderparadies hat. So nennt sich das bei Mc Best. Von den Decken hängen lustige Lampions, die in allen Farben leuchten und blinken. Man kann diese Einrichtungsgegenstände für die heimischen Kinderzimmer sogar kaufen. Es gibt einen Online-Katalog, der voll ist mit bunten Bildchen. Es gibt darin sogar Tapeten, Kopfkissen, Bettbezüge, Puzzles, Brettspiele, Sammelbildchen, Sticker und verschiedene Baukästen. Es gibt Malpapier, Stifte, Schulranzen, Kinderbekleidung. Natürlich gibt es auch Artikel aus dem Food-Bereich. Nahrung in Dosen, Nahrung in Flaschen, Schokoriegel, Müsli, Chips. Die bestellten Artikel werden dann direkt mit dem Lieferwagen oder der Drohne nach Hause gebracht, und dieses Sortiment floriert, besonders in den USA, aber auch in China, Japan, Thailand, Australien und Europa. Das Programm ist ausbaufähig.

Irgendwann hatte sich Leon an Weihnachten mal einen besonderen Werbegag einfallen lassen. Es gab ja schon lange Tomatenmark, Senf und Mayonnaise in Tuben. Er ließ jetzt Sahnekäse, Kräuterfrischkäse, Mischungen mit Leberwurst, Sardellen-, Paprika- oder Lachsgeschmack, aber auch Marmelade-, Erdbeer- oder Bananemischungen in Tuben abfüllen, und machte daraus einen Werbefilm. Man konnte mit den Tuben wunderbare bunte Bilder auf Brot oder auf Fleischstücke malen, und gut schmeckte das auch noch. Die Grafikabteilung entwickelte verschiedene Muster. So bekam man in den Restaurants jetzt Cracker, Schwarzbrot, Laugenbrezeln, Pizzatörtchen, aber auch Mürbegebäck, Blätterteigstückchen oder auch Apfeltörtchen mit leckeren Malereien, mal als Clown, mal als Fisch, mal als Smily. Je nach Wunsch süß, sauer oder salzig.

Wer wollte, konnte das Ganze mit dem Löffel, dem Messer oder dem Finger verstreichen. Eines seiner Promoter Teams probte das an einem Kindergeburtstag in einem der Restaurants. Leons Tochter Eva war damals schon eine begnadete Videokünstlerin. Sie drehte, mischte den Ton ab, ließ Kommentare dazu sprechen und machte noch einen weiteren Werbefilm daraus. Seitdem waren diese Tuben in jedem Restaurant, jedem Haushalt und auf jedem Kinder-geburtstag der Renner. Zu Weihnachten wurden Christbäume auf Teller gemalt, manche süß, mit vielen bunten Zuckerperlen. Aus dieser Aktion, die zunächst nur als Gag geboren war, entwickelte sich ein wahrer Hit, nicht nur in Europa, sondern auch in den USA und in Fernost. Es gab Tuben mit blauem, gelbem, schwarzem, roten oder violetten Inhalt. Die Farbe von Beeren, Wurzeln, Schalen, Früchten oder auch Lebensmittelfarben machten das möglich. Heute findet man diese Tuben in jedem Supermarkt, und die Mitbewerber waren auch schon längst auf diesen Zug gesprungen. Nichts funktioniert in diesem Geschäft langfristig so sicher, wie die Kinder an den eigenen Konzern zu binden.

 

Anfangs waren die Tuben nur in den üblichen Größen einer 200 ml-Senftube. Das bemalen der Speisen wurde eigenhändig von den Mitarbeitern vorgenommen. Man wollte in den Restaurants keine Sauereien und keine Essensschlachten. Schon bald wurde das Sortiment durch 20ml-Probetübchen ergänzt, mit einem Griff aus Plastik in Form einer Banane, einer Erdbeere, einer Paprika oder einer Leberwurst... Es gab 10er Päckchen in verschiedenen Geschmacksrichtungen, süß oder salzig, um damit die Cräcker oder Stückchen selbst zu bemalen. Die Inhalts-Menge ist so gering, dass man Sauereien im Restaurant gut verhindern konnte. Auch die Kinder, die noch nicht lesen konnten, die erkannten an den bunten Griffen sofort, was in der Tube drin ist, und das entfachte einen wahren Begeisterungssturm.

Jede Aktion findet irgendwo noch eine Steigerung. Im nächsten Jahr gab es einen heißen Sommer. Leon ließ in einem der US-Restaurants auf der grünen Wiese ein Planschbecken aufstellen und lud die Kinder zu einer Garden-Party ein. Man konnte im Freien essen und malen. Die Kinder mit nacktem Oberkörper und Sonnenhütchen. Natürlich gab es Cräcker, Salzgebäck oder auch Plätzchen. Dazu gab es Eiscreme, Shakes, Säfte und Limonade. Die Kinder konnten sich die leckeren Tubeninhalte direkt in den Mund spritzen, vom Teller lecken, oder vom Finger schlecken. Anschließend wurde gebadet und abgeduscht. Das Restaurant stellte Badehandtücher mit bunten Motiven zur Verfügung. Die Kindermöbel in der Außenfläche waren aus Plastik, damit man sie mit dem Schlauch abspritzen und desinfizieren konnte.

Was als Einzelfall und als Werbegag gedacht war, für Partys Zuhause oder gelegentliche Events, entwickelte sich zum Verkaufsmagneten. Immer mehr Restaurants mussten jetzt solche Gardenpartys anbieten, wenn sie denn eine Freifläche besaßen.

Solche Ereignisse und Matschorgien bleiben positiv in der Erinnerung der Kinder haften. Noch Jahrzehnte später.

Einige Eltern waren anfangs entrüstet. Das Matschen mit Speisen war nicht schicklich. Es gab heftige Diskussionen um Regeln. Kinder müssen lernen, anständig zu essen, aber die Idee setzte sich durch. Die Kinder bestimmten diesen neuen Trend. Sie wollten das, was ihnen schmeckt, mit allen Sinnen genießen. Es geht aber nicht, dass man andere Kunden verschreckt und vertreibt. Ein Drahtseilaktakt, weil sich Kinder nicht immer an das halten, was die Eltern verlangen. Irgend-wie hatten die geschulten Mitarbeiter von Mac Best diesen Spagat hingekriegt. Auch die konservativen Eltern waren beruhigt.

Kinderzonen und Erwachsenenbereich waren in den Restaurants stets deutlich voneinander getrennt. Optisch und akustisch, denn bei solchen Kinderspielen entwickelt sich manchmal deutlicher Lärm.

Natürlich konnte man diese Tuben kaufen. Natürlich enthielten sie Haltbarkeitsmittel. Mac Best musste schließlich gewährleisten, dass die Produkte nicht gefährliche Substanzen entwickeln, wenn sie eine Weile in der prallen Sonne, oder im Auto liegen, wo sich im Wageninnern die Temperatur an heißen Tagen locker auf 70 Grad erhitzen kann.

Heute ist dieses Produkt einer der Topseller im Angebot von Mc Best. Nicht nur in den USA, sondern überall. Es ist schon gut, wenn der Chef aufgeschlossen ist und über Weitblick, Witz und Humor verfügt. Aber natürlich. Leon ist kein Possenreißer. Er ist durchaus ernsthaft und bemüht, aber er steht neuen Ideen gegenüber stets aufgeschlossen gegenüber, und überzeugt oft mit einem Zwinkern in den Augen und mit einem Scherz auf der Zunge.

2.

Heute geht es zwischen Leon und Dr. Daniel Koslowski allerdings um neue Serien und ein neues Projekt der Belieferung von Werkskantinen, Schul- und Universitätsküchen in Nordamerika. Man verspricht sich davon eine Verdopplung des US-Umsatzes.

Bei der Burgerkette in den USA werden bisher überwiegend die traditionellen Hamburger, Hähnchen, Steaks, Hackbällchen, dicke Bohnen, gemischte Salate, Fritten und Süßspeisen verkauft, wie z.B. Donuts, aber auch Quark mit Mixed Picles, Eiscreme, Vanillejoghurt. Alles wird ergänzt von den fabelhaften Soßen und den Shakes von Mac Best, hergestellt in den Werken in Mexiko und Georgia, und dann gibt es noch diverse Kleinigkeiten, wie Laugenbrezeln, Blechkuchen, Torten und diverse Fitnessriegel. Natürlich bekommt man hier auch einen Pott Kaffee, Cola oder Bier. Leon findet, das reicht nicht, um in den USA dauerhaft die Nummer eins zu bleiben.

In Südamerika, Asien und Europa werden schon lange eigenständige Menüs angeboten, die dort großen Anklang finden. Bei dieser neuen Versuchsreihe geht es jetzt erstmals um völlig neue Gerichte für die Nordamerika-Linie. US-Amerikaner und Kanadier haben schließlich einen andern Geschmack als Europäer oder Asiaten. Das Angebot in den Restaurants will man zunächst beibehalten, aber Leon will expandieren und das Geschäft deutlich verbreitern. Wenn das klappt, soll auch die Angebotspalette in den Restaurants ausgeweitet werden, bis hin zu einem Partyservice.

Discounter, Hotels und Großküchen sollen in diesem ersten Expansionsschritt dazu gebracht werden, die neuen Mac Best Gerichte in großem Stil zu ordern. Allerdings ist die Produktlinie im Detail noch nicht ganz ausgefeilt. Der festgelegte Preis für angeforderte Tonnagen steht bereits fest, aber die Geschmacksrichtungen bei den ersten Testläufen waren noch nicht optimal gewesen. Dieser Unsicherheitsfaktor muss weg. Das ist gefährlich fürs Geschäft und das Ansehen in den USA.

Man braucht für dieses neue Projekt keine eigene Ladenkette. keine Bedienung und keinen Restaurantleiter. Es gibt keine Ladenmieten und keine Kosten für Strom, keine Tiefkühltruhen, Möbel oder Versicherungspolicen, und auch keinen Reinigungsdienst. Die bereits vorhandenen Vertreter werden in den USA und Kanada herumreisen, und für den steten Nachschub an Bestellungen sorgen. Es gibt bereits eine eigene Werbeabteilung, ansonsten wird man die fertigen Menüs tiefgefroren in 350 Gramm- bzw. in 5 und 25 Kilo Beuteln anliefern. Die Kleinpackungen für die Verbraucher, die Großpackungen für die Küchen. Die Tiefkühl-LKW werden rund um die Uhr im Einsatz sein. Sie werden nicht einmal einen eigenen Fuhrpark brauchen. Es gibt in den USA genug Speditionen, die sich gegenseitig unterbieten, um an solche Großaufträge heranzukommen. Wenn das alles klappt, dann ist das ein sicheres Geschäft.

Mac Best will diverse Gerichte anbieten. Chili con Carne, indisches Huhn, chinesisches Schweinefleisch mit Sprossen und Gemüse, deutschen Erbseneintopf, russischen Borscht und andere nationale Spezialitäten. In Zukunft würde man das auch über den Online-Handel anbieten können, mit Lieferung direkt nach Hause.

Bei Testessen war bisher einiges durchgefallen, anderes war angenommen worden.

Daniel war drei Monate mit einem Team seiner Mitarbeiter durch die USA gereist, und sie hatten umfangreiche Tests gemacht.

„Also“, fragt Leon, „was ist nun mit den Ergebnissen der Testserie und den Gewürzmischungen?“

Daniel kratzt sich verlegen am Kinn. „Ich hab mir das einfacher vorgestellt. Ich hab’ gedacht, die Amerikaner würden sich über so was wie die deutsche Esskultur freuen. War aber nicht so. Sie stehen immer noch auf ihre traditionellen Gerichte und das heißt: Steak, Steak, Steak oder Hack von morgens bis abends, mit Fritten, dicken Bohnen, Speck, Mais und Schwabbelbrot, und ich rede hier ausschließlich vom Massenmarkt, also vom Durchschnittsamerikaner. Also haben wir das eingebaut. Mexikanisch, Chinesisch und indisch war gar kein Problem. Irish Stew mit Schaffleisch auch nicht. Linsensuppe, Erbsensuppe und Borscht war bei ihnen ziemlich verpönt. Das braucht Zeit. Unsere italienische Pasta musste abgeschmeckt werden, erst dann ist sie super angekommen. Was uns aus den Händen gerissen wurde, das waren Frankfurter Würstchen, Hacksteak mit Mais und Paprika, sowie Steak mit Bohnen. Das eine gilt als deutsch, das andere ist typisch amerikanisch. Die Erfahrung war, dass die Testesser alles mit unseren Soßen zugeschüttet haben. Die kennen sie. Die haben uns in den USA schließlich groß gemacht. Also Chef, wenn sie mich fragen. Das war ein ziemlich ekliges Gematsche. Wir hätten denen genauso aufgeweichte Pappedeckel mit Soße hinstellen können. In den Schulen der Schwarzen und der weißen Unterschicht war das am schlimmsten. Ohne Pommes, Chips, viel Salz, Paprikapulver und Curry geht da gar nichts. Erstaunlicherweise haben sie trotz dem Gematsche einzelne Gerichte mit gut oder schlecht bewertet. Wir haben also vor Ort die Gewürzmischungen direkt angepasst und wir haben jetzt ein repräsentatives Ergebnis. Die neuen Mischungen kommen überzeugend an. Viel einfacher ist das in den Vierteln der Chinesen und der Mexikaner. Die haben ihre traditionellen Gerichte und Gewohnheiten. Ich hab Ihnen schon alles auf den Computer geladen.“