Der Wolfsmann

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Alf ist noch sehr klein, aber spürt natürlich, dass hier etwas nicht stimmt. Nein, nicht irgendetwas. Nichts stimmt hier. Er sieht sich noch einmal um, dann seufzt er.

Er trinkt aus der Plastikflasche. Das Wasser ist frisch. Er muss die 1,5 Literflasche mit beiden Händen halten. Sie ist sehr schwer und noch schwerer ist es, den Schraubverschluss alleine aufzumachen und wieder zu verschließen.

Er verschüttet beim Öffnen von dem Wasser, das ihm kühl auf die Hose läuft. Es ist unangenehm, wie kaltes Pipi.

Tatsächlich rührt sich jetzt die Blase und Alf hat Mühe, seine Hose nach unten zu ziehen, bevor sich die Blase entleert. Er nutzt einfach dieses leere Emailtöpfchen. Dann legt er sich wieder auf die Matratze und zieht die Decke über sich. Was soll er sonst tun?

Er überlegt. Er versucht mit Mama Kontakt aufzunehmen. Er versucht mit Tieren Kontakt aufzunehmen, Spinnen, Mücken, irgendetwas, was es hier geben mochte. Ja, es gibt zwei Spinnen, die ihre Netze oben in der Ecke geflochten haben. Sie können Alf nicht helfen. Es gibt eine verirrte Stechmücke, aber auch die kann Alf nicht helfen. Er bleibt alleine.

Alf weint und dann schläft er ein. Er wird schließlich durch einen Taschenlampenstrahl geweckt. Draußen ist es noch hell, aber hier kommt wirklich nur wenig Licht herein. Alf sieht, dass es ein Clown ist, aber der Clown spricht nicht, er sieht nur nach Alf, sieht nach dem Wasser und dem Essen, leert das Emailtöpfchen in einen Plastikeimer und verschwindet wieder durch die Tür. Alf hört, wie sich ein Schlüssel umdreht. Der Clown reagiert auf keinen einzigen Laut von Alf.

Alf ist verzweifelt. Schließlich macht er erneut Pipi, isst das Müsli auf, und trinkt wieder einen Schluck Wasser, wobei er aufpasst, dass er dieses mal nichts verschüttet.

Es ist langweilig. Es ist nichts zu hören. Niemand reagiert auf Weinen oder Schreien, und Alf ist ziemlich verzweifelt. Er hat noch nicht gelernt, alleine durch den Raum zu gehen, nur das würde ihm in der jetzigen Situation helfen. Schließlich schläft er wieder ein.

Er wird erneut von einem Taschenlampenstrahl geweckt. Der Clown bringt belegte Brötchen, eine Tasse heißen Kakao und eine Zeitung. Er setzt Alf hin, drückte ihm die Zeitung in die Hand und es blitzt auf. Alf kennt den Blitz eines Fotoapparates.

Dieses Mal rennt er dem Clown von hinten in die Knie, als der den Raum wieder verlassen will. Der Clown schwankt, aber er stürzt nicht.

Er dreht sich um, nimmt Alf an der Brust, wirft ihn in hohem Bogen auf das Bett und verlässt den Raum.

Alf war mit dem Kopf angeschlagen. Es tut weh, und er ist jetzt wütend, aber was solltest du machen, wenn sich nichts rührt. Es gibt einfach keine Reaktion. Alf weint und schreit. Schließlich nimmt er die Brötchen, und isst sie auf. Der Kakao ist inzwischen kalt geworden, und Alf trinkt ihn mit Genuss. Auch dieses Mal verschüttet er etwas. Es klebt.

Später geht er zu diesem Topf und macht AA. Es ist ziemlich schwer, sich mit dem Papier abzuputzen. Das ist immer sehr schwer, und das AA in dem offenen Emailbehälter riecht unangenehm.

Als Alf wieder wach wird, hatten sich drei Schmeißfliegen eingefunden, angezogen von dem offenen Töpfchen mit dem AA. Sie hatten sich auch auf die Brösel des Brötchens gesetzt und auf das Gesicht von Alf. Alf riecht inzwischen leicht nach Schweiß und nach Pipi und nach Schokolade. Schmeißfliegen lieben solche Gerüche.

Alf nimmt Kontakt zu den Schmeißfliegen auf, und lässt sich erzählen. Er erfährt, dass es da draußen noch mehr Räume gibt, und dass es um diese Räume herum Bäume gibt. Viele Bäume.

Das bringt Alf aber nicht weiter. Er ist einfach noch viel zu klein.

1.11.

Als der Clown wiederkommt, greift Alf ihn erneut an. Er versucht zu beißen, ihn aufzuhalten und zur Tür zu rennen, die nicht ganz geschlossen worden war, aber der Clown erwischt ihn wieder.

Er zischt: „Wenn du das noch mal machst, breche ich dir die Beine.“

Er wirft Alf grob auf das Bett und verlässt den Raum.

Ach was ist das dumm, dass Alf noch nicht gelernt hat, sich in Tiere zu verwandeln. Wie praktisch wäre das jetzt gewesen, egal ob in eine Fliege, ein Krokodil, oder sogar in einen Elefanten. Aber Alf kann das nicht. Seine Mutter und seine Geschwister hatten ihm das bisher noch nicht gezeigt. Er versucht, wenigstens den Tunnel zu rufen. Er weiß, wie das geht, aber der Tunnel öffnet sich nicht.

Alf hat kein Zeitgefühl. In diesem Alter hat man das nicht, und unter den genannten Umständen ist es nicht möglich in Tagen oder Nächten zu zählen.

Nach vier Tagen versucht Alf dem Clown aufzulauern, der in Abständen kommt, um Essen zu bringen und das Töpfchen zu leeren. Er kann sich schlecht stundenlang neben die Tür stellen, also versucht Alf, sich auf Geräusche zu konzentrieren. Gibt es irgendetwas, was diesen Clown ankündigt?

Als der Schlüssel ins Schloss gesteckt wird, nimmt Alf todesmutig Aufstellung. Der Clown öffnet die Tür mit der rechten Hand, in der anderen trägt er heute eine Tasche mit Essen. In diesem Dunkel des Raums kann er nicht viel sehen. In diesem Moment rennt dieser Knirps in den Clown hinein.

Das geschieht so abrupt, dass der Clown das Gleichgewicht verliert, aber er hat enorme Reflexe. Noch im Fallen greift er nach dieser Gestalt, die an ihm vorbeischlüpfen will und hält sie fest.

Alf hätte es beinahe geschafft. Soviel bekommt er mit, dass es hier wirklich weitere Räume gibt.

Es ist eine Art Ruine, ein halb verfallenes Gebäude, aber auch der zweite Raum ist noch intakt und hat eine Tür, und auch diese Tür ist verschlossen.

Diesmal ist der Clown rabiat. Er verabreicht Alf eine gezielte Trachtprügel und wirft ihn dann wieder auf das Bett, bevor er Alf verlässt.

Heute schreit und weint Alf viel und laut, aber es nützt nichts. Es gibt keine Reaktion.

Schließlich isst er die Nudeln, die der Clown mitgebracht hatte, trinkt Wasser, macht Pipi und überlegt.

Er nimmt wieder Kontakt zu den Schmeißfliegen auf. Er versucht, sich in eine Schmeißfliege zu verwandeln. Vielleicht kann er dann entwischen, aber es funktioniert nicht. Seine großen Geschwister, die können das bereits, aber Alf ist noch zu klein und zu ungeschickt.

Er ist todunglücklich. Außerdem tut der Po höllisch weh. Der Clown war wirklich nah dran gewesen Alf die Beine zu brechen.

Der Clown meldet sich am nächsten Tag nicht.

Für Alf ist das noch schlimmer als die erlittene Trachtprügel. Er empfindet das als Strafe.

Dann kommt der Clown wieder. Er bricht wieder eine Zeitung und der Fotoapparat blitzt wieder.

Diesmal wehrt sich Alf nicht. Er grübelt darüber nach, wie er dem Clown das nächste Mal entwischen könnte.

Dazu sollte es nicht mehr kommen.

1.12.

Der Clown hatte inzwischen den Kontakt zu Elvira hergestellt. Sie hatte ihm signalisiert, dass sie zahlen, und sich an alle Vereinbarungen halten würde. Der Clown war sehr vorsichtig gewesen.

Er hatte bemerkt, dass die Polizei vor Ort ist, und nicht nur die Polizei. Da sind noch andere, die er nicht kennt.

Es wird brenzlig.

Schließlich sieht er nur einen Ausweg. Er muss unerkannt verduften. Auch dieses Kind muss weg. Vielleicht hat es irgendetwas gesehen.

Vielleicht war er einmal unvorsichtig gewesen.

Vielleicht konnte dieses Kind seine Stimme wiedererkennen, auch wenn er nur einmal gesprochen, nein, mehr gezischt hatte.

Der Clown macht reinen Tisch.

Diesmal nimmt er eine Eisenstange mit. Als er die Tür aufschließt, schlägt er hart zu.

Als er den Kopf des Jungen trifft, gibt es einen Lichtblitz, der ihn blendet und umwirft. Er reibt sich die Augen und sieht sich um.

Die Eisenstange liegt neben ihm, blutverschmiert.

Die Matratze ist leer. Auch dort gibt es Blutflecken, aber das Bett ist wirklich leer.

Er dreht sich um, geht aus dem Raum und untersucht den Boden. Es gibt keine Blutspur, die hinausführt. Nicht einen einzigen Tropfen. Er geht sinnend zurück. Der Junge konnte nicht entflohen sein, aber er ist definitiv weg.

Der Clown versteht das nicht. Er nimmt einen Lappen aus seinem Mantel, wischt alle Spuren weg, dann geht er raus und kommt mit einem Kanister Benzin zurück. Er gießt das Benzin über die Matratze. Er legt eine Benzinspur, zündet sie an, und rennt weg.

Er hört die Detonation hinter sich, als der Raum Feuer fängt. Er läuft, bis er seinen Kleinbus findet. Er passt auf, dass niemand in der Nähe ist, steigt hinein, zieht sich um, und wischt sich die Schminke aus dem Gesicht. Dann fährt er davon.

Die Polizei, die Mafia und die Gruppe von Rochen hatten den Ring inzwischen immer enger gezogen. Als es dort im Wald, rund 50 Km vor Berlin plötzlich brennt, wird die Feuerwehr alarmiert. Es hat nur qualmenden Rauch gegeben, den ein Ausflügler von Weitem gesehen hatte. Der Wald ist nicht verbrannt worden. Die Kripo untersucht die Spuren. Sie finden die Reifenspuren des Kleinbusses und sie folgen den Spuren durch den Wald.

Zwei Tage später brennt in Süddeutschland ein Kleinbus aus. Die Polizei untersucht den Fall und zieht Parallelen.

Der Clown war untergetaucht. Das Kind ist und bleibt verschwunden.

Die Kripo gibt Rochen und Elvira Bescheid, aber Elvira sieht die Beamten nur traurig an. „Ich weiß“, sagt sie. „Mein Sohn ist tot. Eine Mutter spürt so etwas.“

 

1.13.

Alf erlebt den Tunnel nicht zum ersten Mal. Seine Tanten und Onkels hatten ihn schon mit durch diesen Tunnel genommen, wenn sie nach Südamerika oder nach Wittenberge gesprungen waren. Alf kennt diesen langen schwarzen Tunnel, der rotiert, während er dort hindurchfliegt.

Diesmal ist es dennoch anders. Er spürt den Schlag schon nicht mehr, der seinen Schädel gespalten hatte.

Er sieht um sich herum lauter kleine weiße Funken, wie Sterne. Er fliegt durch diesen Tunnel. Es ist eine rasend schnelle Fahrt, die scheinbar unendlich lange dauert. Dann sieht Alf plötzlich ein fernes Licht, dem er sich rasend nähert.

Er wird sanft abgelegt und schläft sofort ein.

Als er die Augen öffnet, sieht er um sich herum eine blühende Landschaft aus lauter kleinen bunten Blumen. Er liegt auf Moos, und um ihn herum gibt es seltsame große und keilförmige Steine. Irgendwo am Himmel brennt die Sonne und in der Nähe plätschert ein Bach.

Alf richtet sich auf. Er sieht sich verwundert um.

Solch eine Landschaft hat er noch nie gesehen.

Es ist warm und er fasst instinktiv an seinen Kopf. Es gibt keine Wunde, der Kopf scheint heil.

Es gibt nicht einmal einen Schmerz. Nichts. Nur das rechte Ohr scheint etwas verrutscht. So. als wenn es da nicht richtig hingehört.

Alf steht auf. Er sieht an sich herunter, dann sucht er diesen Bach.

Es ist wirklich ein kleiner Bach, der sich in einer kleinen Mulde sammelt, nicht wie ein See, eher wie eine große Pfütze. Alf sieht, dass sich der Himmel in dieser Pfütze spiegelt, und er beugt sich vorsichtig darüber. Er sieht plötzlich sein Spiegelbild ganz klar, und er dreht den Kopf hin und her. Er sieht das Blut auf der Kleidung und in seinen Haaren. Er sieht, dass ein Stück seines Ohres fehlt, und er sieht, dass der Kopf sonst völlig in Ordnung ist. Er kniet sich hin, trinkt von dem klaren Wasser und wäscht sich unbeholfen.

Dann steht er wieder auf und versucht den Kontakt zu seiner Mutter herzustellen. Nichts. Da ist nichts. Da ist nur Stille.

Dort, wo Alf steht, ist die Wiese sehr nass, und er läuft ein paar Schritte, um eine trockene Stelle zu finden. Dabei sieht er, dass es hier niedere Büsche gibt. Sie haben kleine Blätter und blaue Beeren. Als er sich bückt, sieht er, dass hier Walderdbeeren wachsen. So genau kennt er die allerdings nicht. Er kennt Erdbeeren, aber die hier sind wirklich sehr klein.

Alf probiert von den Erdbeeren und den blauen Früchten, und findet, dass sie sehr gut schmecken.

Er hatte in den letzten Tagen wenig gegessen und der Hunger rührt sich urplötzlich.

Von den blauen Beeren wachsen hier genug. Mehr als er essen kann.

Während er isst, verfärben sich seine Hände und der Mund. Alles ist jetzt blaulila von den Heidelbeeren. Alf sieht auf seine Hände. Er leckt daran. Es schmeckt süß und es macht Alf irgendwie glücklich.

Er versteht das alles nicht und es ist auch nicht zu verstehen, nicht nur für einen Dreijährigen.

Schließlich streckt sich Alf und sieht sich um.

Er hat einen kleinen kugelrunden Bauch bekommen, von den Beeren, und fühlt sich satt, zufrieden und etwas müde. Es gibt hier eine Art Lichtung, wie ein Plateau. Um diese Lichtung herum stehen diese seltsamen großen Steine und auch Holzsteelen, die in Kreisform aufgestellt sind, und die jetzt Schatten werfen. Das Tal hat auf drei Seiten hohe Wände aus Stein, die in wilden Zacken immer höher hinaufreichen. Auf der vierten Seite ist das Tiefblau des Himmels zu sehen, und jetzt nahm Alf zum ersten Mal diesen Duft wahr, der hier über der Lichtung liegt. Ein süßer und würziger Duft von Moosen, Waldboden und Beeren.

An den Hängen stehen vereinzelt hohe Tannen und sie reichen auch noch weiter hinauf. Sie klammern sich ans Gestein und sie haben seltsam geformte Wurzeln.

Alf sieht das alles, aber mit seinen drei Jahren nimmt er das noch nicht bewusst auf. Er hat keine Ahnung, wo er ist. Seine Mutter ist offenbar weit weg, und diese Landschaft ist entschieden besser als der Kerker, in dem er die letzten vierzehn Tage verbracht hatte.

Er sucht sich ein trockenes Plätzchen, legt sich in das Moos und schläft nach wenigen Minuten ein.

1.14.

Elvira, die in Berlin zurückgeblieben war, die war traurig über den Verlust. Sie weiß einerseits, dass Alf tot ist, und gleichzeitig hat sie das Gefühl, dass sie Alf eines Tages wiedersehen wird. Sie spricht mit Chénoa und ihrer Cousine Solveig, und Solveig nickt vorsichtig. Sie hat in diesen Dingen ein untrügliches Gespür.

„Du wirst ihn wiedersehen“, sagt sie mit Bestimmtheit. „Nicht morgen, nicht in fünf Jahren. Vielleicht musst du zwanzig oder dreißig Jahre warten, aber ich weiß das mit Bestimmtheit. Alf wird zurückkehren in unsere Welt. Glaub’ mir.“

Für die Polizei gilt Alf als vermisst. Sie setzen ihn auf eine Liste. Es gibt nicht einmal eine Beerdigung.

Elvira spricht mit ihren Kindern und auch mit Lara und ihren Kindern. Lara umarmt sie, und sie sieht die Kinder der Reihe nach an.

„Ich habe gelernt, auf die Kräfte der Familie zu vertrauen. Ich habe nicht die Kräfte von Solveig, aber auch ich spüre, dass Alf eines Tages zurückkommen wird. Lasst uns das immer wieder besprechen. Auch auf den Treffen der Kinder muss das einen neuen Stellenwert erhalten.

Vielleicht gelingt es uns eines Tages, den Kontakt zu Verschollenen herzustellen.“

Lilly ist so traurig, dass sie jetzt zu ihrer großen Schwester ins Zimmer zieht. „Ich kann das einfach nicht, so alleine neben dem leeren Bett von Alf liegen. Ich muss immer daran denken, wenn wir uns morgens geneckt haben, bevor Mama und Papa aufgestanden sind.“

1.15.

Alf, Elvira und Solveig wissen nicht, dass Artemis seine schützende Hand über Alf gehalten hat. Sie wissen nicht, dass Artemis schon vor vielen Jahren gelernt hat, in die Vergangenheit zu reisen. Sie wissen nicht, dass Artemis mit Alf etwas Großes vor hat, und dass er deswegen nicht in das Geschehen eingegriffen hat, solange Alf noch gefangen gehalten worden war.

Sie wissen viel, aber Vieles wissen sie nicht.

Alf, der ein kleiner unschuldiger Junge von drei Jahren ist, hat eine große Zukunft vor sich, und er wird durch eine harte Schule gehen, um später einmal seine zukünftigen Aufgaben für die Familie zu erfüllen.

Artemis muss immerhin zugeben, dass seine Entscheidung eine Art Experiment ist. Er weiß auch nicht, wie die menschliche Physis und die Psyche auf einen Zeitsprung von über 1000 Jahren reagiert. Er selbst war schon ein paar Mal in der Vergangenheit. Es war immer sehr aufschlussreich gewesen. Man kann aus der Vergangenheit oder auch aus der Zukunft weit besser lernen, wenn man selbst daran teilgenommen hat.

Kapitel 2. In einem fremden Land

2.1.

Alf wacht auf, weil er ein Schnauben, Schmatzen und Röcheln hört. Er schlägt die Augen auf und sieht in einiger Entfernung ein großes dunkles Tier mit dichtem Fell. Das Tier hat ein Junges neben sich, das manchmal hüpft und kleine Sprünge macht.

Das große Tier hat seine Schnauze tief in die Büsche gesteckt und es frisst offenbar von diesen Beeren.

Der Wind steht günstig. Alf liegt hinter Büschen verdeckt, und so hat dieses große Tier Alf noch nicht bemerkt.

Alf hört sich das eine Weile an, dann spinnt sich wie selbstverständlich ein Feld aus Licht um ihn. Das kennt Alf auch noch nicht. Er staunt, und plötzlich beginnt er zu summen und zu brummen. Er kann nicht einmal etwas dazu.

Die Bärin richtet sich abrupt auf. Sie sieht jetzt diesen Schein. Sie sieht dort dieses Bündel. Sie kennt Menschen, und sie muss sich vor diesen Menschen in Acht nehmen. Das hatte sie gelernt.

Aber dieses Wesen brummt in einer ihr vertrauten Art, und dann beginnt dieses Etwas zu fiepsen, so dass sie die Ohren spitzt. Das sind die kläglichen Geräusche, die sie von ihrem Jungen kennt, wenn es Hunger hat.

Sie drückt ihr eigenes Kind hinter ihren Rücken, dort, wo es Schutz findet, und beginnt sich schnell auf dieses Bündel zuzubewegen.

Der Schein wird heller. Die Bärin erschrickt, doch dieses Bündel winselt und jault, und die Bärin geht vorsichtig näher.

Ihr eigenes Kind folgt ihr, und es beginnt jetzt auch zu winseln und zu brummen.

Die Bärin richtet ihre große Nase in die Luft und nimmt die Losung auf. Da ist nur dieses Kind. Es riecht süß nach Beeren und nach Pipi, und da ist kein anderer Geruch. Nicht der scharfe Schweiß, den die Menschen sonst verströmen.

Sie bewegt sich hin und her und steckt ihre Nase in die Luft. Dann geht sie zu diesem Bündel, das jetzt aufsteht.

Es ist ein Menschenjunges. Für Bären ist das ein gefundenes Fressen, aber dieses Junge macht seltsam vertraute Geräusche. Sie riecht an diesem Kind. Es langt ihr jetzt ohne Furcht in den Pelz und es wimmert, wie Bärenjunge wimmern.

Die Bärin ruft ihr Junges. Es kommt, und trinkt an ihren Zitzen.

Alf sieht das. Er beobachtet das Bärenkind, dann wird er von der Bärin in Richtung dieser Zitzen gestumpt und Alf versteht.

Er wartet, bis das Bärenjunge schmatzend fertig geworden ist, dann legt sich die Bärin auf die Seite und brummt auffordernd.

Alf trinkt den ersten Schluck Bärenmilch in seinem Leben. Sie ist warm, sie ist fett und sie ist nahrhaft. Alf trinkt und dann schiebt er der Bärin dankbar die Hand in das Fell. Die Bärin versteht.

Sie steht auf und beginnt wieder zu fressen. Alf beginnt jetzt mit dem Bärenjungen zu fiepsen und sie beginnen sich zu unterhalten.

Es ist nichts, was Alf jemals vorher getan hat. Er hat schon mit Hühnern, Hunden und Kaninchen gesprochen. Einen Bären hat er bisher nur im Zoo gesehen. Das ist aber schon eine ganze Weile her.

Diese Töne, die waren aus ihm gekommen, ohne dass er etwas dazu konnte. Er versteht das nicht ganz, aber er ist dankbar.

Als sich die Bärin schmatzend entfernt, folgte Alf der kleinen Bärenfamilie. Irgendwann ist es zu anstrengend, durch die Büsche zu laufen und er muss sich setzen.

Es wird schon dunkel, als die Bärin zurückkommt.

Sie nimmt Alf mit den Zähnen an der Kleidung auf, und trägt ihn zu einer Höhle auf der anderen Seite der Lichtung.

Die Höhle ist nackt, und der Boden ist kalt, aber die Höhle schützt vor Regen, und Alf kuschelt sich in dieser Nacht in das Fell der Bärin.

2.2.

Am nächsten Morgen gibt die Bärin Alf zu verstehen, dass es hier gefährlich sei. Hier kämen immer mal große weiße Jäger herauf. Sie müsse das Tal jetzt wieder verlassen.

Alf versteht, aber was soll er tun? Dort hinauf, wo die Bärin gehen will, kann er ihr nicht folgen. Nicht über diese Felsen, und nicht mit seinen kurzen Beinen.

An diesem Morgen muss Alf auf den Topf. Er hat kein Klopapier, aber die Bärin leckt ihn sauber, dann verschwindet sie mit ihrem Bärenjungen und lässt Alf alleine zurück.

Alf hat jetzt immerhin ein Dach über dem Kopf, und er hat in diesem Tal genug Beeren, von denen er satt wird.

Die Bärin kommt alle zwei Tage. Sie säugt Alf, sie leckt ihn sauber, und dann verlässt sie das Tal wieder. Alf nimmt langsam den Geruch der Bärin an.

Es gibt auch andere Tiere im Tal. Kaninchen, kleine Füchse, und eines Nachts wird Alf von Schatten geweckt, die sich vorsichtig, wirklich vorsichtig nähern. Er schlägt die Augen auf.

Sehen kann er nichts. Er vernimmt leise Geräusche, und dann sieht er kleine helle Punkte, die fast fluoreszierend leuchten.

Er richtet sich auf und urplötzlich entflammt wieder dieses Licht. Alf sieht jetzt, was es ist. Hunde. Er kennt Hunde, und er fängt sofort an, in diesen Lauten zu kommunizieren, die Hunden zu eigen sind. Was Alf nicht weiß, es sind Wölfe, und diese Wölfe haben vor diesem Licht Angst. Es wirkt auf sie wie Feuer. Wölfe haben vor Feuer einen Heidenrespekt.

Das Feuer schützt Alf. Die Wölfe riechen den Geruch dieser Bärenhöhle, die sie hierher gelockt hatte. Sie hatten erwartet ein Jungtier zu finden, aber sie hatten nicht mit diesem seltsamen Feuer gerechnet, das jetzt in ihrer Sprache mit ihnen redet. Schließlich geht das Feuer auf sie zu und sie nehmen reißaus.

 

Am nächsten Tag sind sie wieder da. Sie stehen in einiger Entfernung. Sie sehen dieses Menschenkind, das wie ein junger Bär riecht. Es geht durch die Blaubeeren, und isst wie ein Menschenkind Beeren isst. Heute hat es nicht diesen Schein, und die Wölfe wagen sich wieder heran. Das ist leichte Beute.

Als die Bärin erscheint, wollen sich die Wölfe zunächst auf das Menschenkind stürzen, um dann schnell zu verschwinden, aber die Bärin bewegt sich mit solch unglaublicher Schnelligkeit auf sie zu, dass sie Abstand nehmen.

Aber jetzt ist das Bärenjunge gefährdet, das der Mutter nicht so schnell hatte folgen können, und die Wölfe greifen das Bärenjunge an.

Was dann geschieht, begreifen die Wölfe nicht.

Alf beginnt plötzlich zu heulen. Er streckt den Kopf in die Luft, und stößt dieses typische Geheul aus, das man von den Leitwölfen kennt.

Die Bärin ist verwirrt. Die Wölfe sind verwirrt, und Alf bewegt sich jetzt auf die Wölfe zu.

Lasst meine Familie in Ruhe, ruft er den Wölfen in der Sprache der Wölfe zu. Die Wölfe bellen, dann beginnt der Leitwolf zu heulen, und einer der Wölfe nach dem anderen verlässt das Tal.

Was noch seltsamer ist, noch während die Wölfe das Tal verlassen, verändern sich die Laute, und Alf beginnt wieder in der Sprache der Bären zu fiepsen. Hilflos und schutzsuchend.

Die Bärin versteht. Sie bleibt diese Nacht im Tal.

Sie gibt Alf Nahrung und Wärme, dann bricht sie wieder auf. Es ist hier einfach zu gefährlich.

2.3.

Die Laute der Wölfe klingen weit, und sie werden durch die Öffnung des Tals in Richtung Meer getragen.

Viel weiter unten am Berg liegt eine Siedlung von Menschen, die bei diesem Geheul die Ohren spitzen. Heute ist der Aufstieg nicht mehr zu schaffen, aber morgen früh werden sie auf die Berge hinauf klettern. Wolfsfelle sind begehrt. Sie legen ihre Speere zurecht, und stehen früh auf, um den Weg hinauf in die Berge anzutreten.

Als sie das Tal erreichen, das bei ihnen als heiliger Hain gilt, hatte der Bär das Tal schon wieder verlassen. Bären haben gute Instinkte.

Diese Bärenmutter wusste, dass ihr jetzt Gefahr von den Menschen drohte, die jetzt die Wölfe jagen werden. Sie würden die Bärin unweigerlich entdecken, wenn sie in diesem Tal blieb. So stand sie schon vor Sonnenaufgang auf, und ließ Alf alleine in der Höhle zurück. Ihn kann sie jetzt nicht mitnehmen.

Die Jäger sind geübt, doch der Weg ist schmal und steil, und sie brauchen über zwei Stunden, um in das Tal zu gelangen, das ihnen als heilig gilt.

Dort nehmen sie sofort Aufstellung und sichten die Spuren. Da gibt es nicht nur Wolfsspuren, sondern auch die Spuren von Füchsen, Hasen und einem Bär. Natürlich kennen sie die Bärenhöhle, und sie nähern sich vorsichtig, die Speere zum Stoß bereit. Was sie dann sehen, verblüfft diese hartgesottenen Jäger.

Unweit der Höhle sitzt ein weißhäutiges Kind mitten in den Beeren und isst. Am Oberkörper hat das Kind ein seltsames Hemd an, unten ist es nackt. (Für Alf war das einfach praktischer gewesen. So konnte ihn die Bärin besser sauber halten).

Sie sichern sich nach allen Seiten ab. Es riecht hier intensiv nach Bär, und sie nähern sich dem Kind, das plötzlich aufblickt und einen Lichtgürtel um sich zieht. Das haben die Jäger auch noch nie gesehen.

Hagan, der Anführer der Sippe, gibt seinen Männern ein Zeichen. Sie sichern weiter nach allen Seiten. Sie schwärmen aus, sie finden nichts außer den Spuren der Wölfe, der Bären, der Füchse und der Kaninchen.

Das Kind ist dennoch da. Es riecht eindeutig nach Bär, und es hat diesen seltsamen Schein, der immer heller wird.

Hagan ruft einem der Männer etwas zu und der verschwindet. Dann kommt er aufgeregt wieder und flüstert dem Anführer etwas zu.

Hagan sieht den Mann an. Er sieht das Kind an und er sieht seine Männer an.

„Dieses Kind“, sagt er „scheint direkt aus dem Licht gekommen zu sein. Es sitzt dort, wo die Sonne aufgeht. Es ist hier in unseren heiligen Hain gekommen, es ist weiß wie Schnee, aber es hat dunkle Haare. So etwas hat noch niemand gesehen.” Er sieht hinauf zum Himmel, dann stimmt er plötzlich in einen Singsang, in den jetzt auch alle Männer dieser Jagdgesellschaft fallen.

Selbst dieses weiße Kind fällt jetzt in diesen Gesang ein, mit seiner klaren hellen Kinderstimme.

Das ist für Hagan der Beweis. Dieses Kind ist eine Gabe Gottes. Es muss direkt von Odin zur Erde herab gesandt worden sein. Vielleicht eine Elfe, die sich verwandeln kann in eine Tiergestalt, wer weiß?

Das Kind geht jetzt auf die Schar zu. Es riecht ganz eindeutig nach Bär, und Hagan ist sich jetzt ziemlich sicher. Dieses Kind muss vor kurzem noch ein Bär gewesen sein. Der Bär, dessen Spuren sie im Tal gefunden hatten.

Sie suchen das Tal noch einmal ab. Sie verneigen sich vor den Göttern Odin, Thor und Freya, die ihnen dieses Kind geschickt hatten, und sie brechen ihre Jagd ab. Das hier, das ist jetzt wichtiger.

Sie haben auch die Hosen von Alf gefunden. Solch einen Stoff haben sie noch nie gesehen. Auch diese Hosen riechen nach Bär.

Hagan nimmt das Kind schließlich auf die Schultern und sie gehen den langen steilen Weg ins Tal wieder hinunter.

Während dieser Zeit brabbelt dieses Kind und Hagan merkt, wie dieses Brabbeln langsam in Worte übergeht, die er kennt. Worte aus seiner Sprache. Als sie schließlich ins Tal kommen, spricht dieses Kind seine Sprache ganz deutlich, und Hagan ist überzeugt, dass er eine Elfe auf dem Arm trägt. Ein Kind Odins.

2.4.

Hagan ist nicht nur der Stammesführer. Er ist Schmied und Seher zugleich. Er gilt als ein heiliger Mann, ein Druide, und er kennt sich mit Kräutern und Gottesverehrungen aus. Er ist in dieser Bucht, in der sie wohnen, ein mächtiger Mann über mehr als zwanzig Großfamilien.

Sie leben in festen Häusern aus Holz, mit Dächern aus Zweigen und Stroh, die so dicht sind, dass kein Regen hindurchfallen kann. Es ist eine große Bucht und die Hütten reichen weit um die Stirnseite der Bucht herum. Die Bucht selbst ist zur Seeseite hin geschützt durch Felsklippen, die bei Ebbe weit aus dem Wasser ragen, so dass die Enge unpassierbar wird. Bei Flut kann man die Enge passieren, wenn man weiß, wo man fahren muss. Jedes andere Boot würde sonst an diesen Klippen zerschellen. Es ist eine sichere Stelle, an der Hagan mit seiner Sippe siedelt.

Bevor sie das Dorf erreichen, stoßen sie Rufe aus. Sie hatten kein Jagdglück gehabt, aber sie hatten etwas anderes gefunden.

Als sie den Fuß der Berge erreichen, sind alle Dorfbewohner versammelt, die etwas zu sagen haben.

Hagan tritt vor die Menge und erklärt. Hagan ist ein Mann, der keinen Widerspruch duldet, wenn er etwas Kraft seiner Macht als Druide verkündet. Er lässt Argumente zu, seine Männer und die Weiber sind schließlich alle gestandene Nordleute, auf die man hören muss, aber er bestimmt letztendlich den Weg.

Seine Frau Jodan tritt jetzt zu Hagan und dem Kind. Urplötzlich flammt dieses Schutzschild auf, das Alf schon mehrfach beschützt hat, und Jodan tritt unwillkürlich einen Schritt zurück.

Alf gibt Hagan das Zeichen, ihn abzusetzen, dann tritt er auf Jodan zu. Er fasst nach dieser groben Hand, er sieht ihr von unten ins Gesicht, und plötzlich sagt er in der Sprache der Wikinger. „Großmutter Jodan.“

Das ist für die Jagdgruppe zuviel. Niemand hatte diesen Namen erwähnt, den das Kind eben ausgesprochen hat, und jetzt gehen die Männer der Jagdgruppe vor diesem Kind in die Knie, und alle anderen folgen.

Es sind rauhe Männer, behängt mit Fellen, gegürtet mit Schwertern und sie tragen Lanzen und Schilde auf dem Rücken. Sie haben Helme auf, manche aus Eisen, manche mit Hörnern.