Der Wolfsmann

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Hagan fängt an zu summen. Die Männer und Frauen nehmen das Gesumm auf, das jetzt wie Wellen auf und abschwingt und sie springen schließlich auf. Sie nehmen ihre Schilder von den Rücken. Sie reißen die Schwerter aus den Scheiden und sie beginnen jetzt mit den Schwertern auf die Schilde zu schlagen und zu singen. Rhythmisch und laut. Hagan nimmt schließlich das Kind, und hebt es hoch über seinen Kopf.

Alf versteht, dass dieser Lärm nicht gefährlich für ihn ist, und er stimmt nun mit seiner Kinderstimme in das Lied ein. Es ist kein Lied, das er kennt. Naja. Er singt ein Gemisch aus einem Kinderlied aus Berlin und aus dieser Sprache, die diese Männer hier sprechen, und die Männer fallen nacheinander in tiefes Schweigen, und hören jetzt nur noch diesem Gesang zu, der sich über die Wellen der Bucht legt.

Von dieser Zeit ab gilt Alf dieser Sippe als etwas Besonderes. Er wird in dieser Nacht mit in das Langhaus von Hagan genommen, und eine der Mägde, die viel Milch besitzt, gibt Alf die Brust. In Berlin war Alf längst abgestillt gewesen, aber die Bärin hatte ihn gesäugt und am Leben erhalten, und er sieht jetzt diese Brust der Amme wie die Zitze der Bärin, als etwas, das ihn am Leben erhalten wird.

Nichts von dem, was Alf in den letzten Tagen getan hatte, war wirklich bewusst und mit klarem Kopf getan worden. Vielmehr hatte eine Art innerer Antrieb sein Verhalten bestimmt. Alf hatte schon oft von einem “Nichts” gehört, dass das Leben der Familie bestimmt. Er weiß, dass er hier nicht im Himmel ist. Er kennt die Geschichten, die Mama über Urgroßvater Leon erzählt hatte und er weiß, dass ihm jetzt etwas ähnliches wiederfahren ist, wie damals Urgroßvater Leon. Dieses “Nichts” hatte ihn beschützt, und er lebt jetzt bei diesen Männern und bei diesen Frauen in den Bärenfellen.

Diese Brust würde ihm die Kraft geben, in dieser Welt groß zu werden.

2.5.

Alf weiß nichts von Leibeigenen. Er weiß nichts von diesen Männern dieser Sippe, und er weiß nichts von den Riten, die diese Menschen bestimmen.

Er weiß instinktiv, dass er hier eine neue Familie gefunden hat. Hagan und Jodan, das ist jetzt seine Familie, und auch Josefa, die Frau mit den schweren Brüsten, die ihn jetzt säugt.

Auch Josefa ist blond, wie die meisten Menschen dieser Sippe, aber Alf hat instinktiv begriffen, dass Josefa nicht in die erlauchte Gesellschaft der Nordmänner gehört. Sie ist nur eine Magd, und sie wird hier geduldet, um zu arbeiten. Auch das begreift Alf instinktiv, aber Josefa gibt ihm die Brust, die ihn nährt und wärmt, so wie die Bärin ihn drei Wochen lang genährt hat, und Alf beschließt, Josefa zu beschützen, so wie sie ihn jetzt beschützt.

Das “Nichts” hatte Alf wieder beschützt. Tatsächlich war es ein Mitglied des Volkes der Cantara, aber das weiß Alf nicht, und das braucht er auch nicht zu wissen.

Die Cantara werden in der Zeit, in der Alf bei den Wikingern leben wird, wertvolle Informationen sammeln, die ihnen in Zukunft helfen werden, die Welt des 21. Jahrhunderts besser zu verstehen und in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Kapitel 3. Im Dorf der Wikinger

3.1.

Auch wenn Alf unter dem Schutz von Hagan steht, so merkt er sehr schnell, dass dies eine rauhe Gesellschaft ist.

Es gibt hier andere Kinder, größere Kinder.

Weil Alf über Nacht in diese Gruppe aus Menschen gekommen war, ist es nur natürlich, dass die Jungen und Mädchen dieser Sippe austesten, wie weit sie gehen können.

Alf ist zwar erst drei, aber er ist ein Fremder.

Schon am ersten Morgen erhält er einen unsanften und schmerzhaften Stoß mit einem Ellbogen, der ihn von den Füßen hebt und umwirft.

Knut ist ein Enkel von Hagan, und er grinst über das ganze Gesicht. Das ist also doch nur ein läppischer Junge. Da ist nichts elfenhaftes.

Er stößt Ode an, der ein Jahr älter ist. Ode grinst, und als er das nächstemal an Alf vorbeigeht, fährt er den Ellbogen aus. Dieses mal ist Alf gewappnet. Er hat das kommen sehen, und er wird von diesem “Nichts” beschützt. Das “Nichts” schenkt ihm ein Energiefeld, und Ode schreit vor Schmerz auf, als er in dieses Energiefeld greift. Er wird halb herumgerissen, verliert das Gleichgewicht und fällt um.

Knut fängt plötzlich an zu lachen. Da hat sich Ode aber blöd angestellt. Ode rappelt sich auf und geht auf Knut los. Da brüllt Alvin dazwischen, der Vater von Knut und Ode. Wenn sie sich prügeln wollen, dann gefälligst vor dem Haus. Hier in der Halle des Druiden herrscht Anstand.

Für Alf ist das neu.

Er geht mit nach draußen, wo sich Ode und Knut jetzt in den Haaren liegen. Ode ist der ältere und Knut hat keine Chance. Schließlich mischt sich Hagan ein. Schluss jetzt, bestimmt er. Prügeln ist gut, das macht Kerle aus euch, aber erzählt mir erst mal, worum es hier eigentlich geht.

Eine verlegene Stille entsteht. „Na los doch“, donnert Hagan und Ode beichtet.

Hagan sieht zu Alf. „Komm doch mal her“. Er fasst ihn an den Händen, sieht ihm in die Augen und fragt. „Verstehst du mich? Kannst du das bestätigen, was Ode eben gesagt hat?“

Alf, der zu Hause gelernt hat, dass er Rücksicht auf andere nehmen muss, befreit sich von Hagan und er stellt sich vor Ode, mit dem Rücken zu ihm. „Ode ist schon in Ordnung“, sagt Alf. Er spürt instinktiv, dass Ode ihn erneut schubsten will, und ein jetzt völlig unsichtbares Energiefeld baut sich um Alf auf, und lässt Ode die Haare zu Berg stehen.

Auch Knut spürt diese Energie, und ihn fröstelt urplötzlich, und nun sagt der dreijährige Knirps etwas ungewöhnliches. „ich bin in deine Familie gekommen“, sagt er zu Hagan. „Du hast mich aufgenommen, wie dein eigenes Kind. Knut und Ode sind für mich jetzt wie Geschwister, und ich habe gelernt, meine Geschwister zu beschützen.

Mehr muss ich dazu nicht sagen.“ Naja, ganz so sind die Worte nicht. Alf sagt das mit den Worten, die er als Dreijähriger hat, aber der Sinngehalt ist klar. Er will hier keinen Streit. So wie er unter dem Schutz von Hagan steht, so würde der kleine Knirps auch seine großen „Geschwister“ beschützen.

Hagan lacht schallend auf. Die Situation ist einfach zu komisch. Seine großen Enkelkinder liegen unter dem Schutz dieses Knirpses. Er erfasst aber auch den Sinn der Worte. In seiner Sippe gilt das auch. Die Familie ist alles. Man hat untereinander manchmal Streit, aber man steht gegen Gefahren von außen wie ein Mann.

Auch die anderen Mitglieder der Sippe fangen an zu lachen, und dann steht Hagan auf.

Er winkt seine Enkelkinder zu sich. „Kommt doch einmal her zu mir“. Er sieht die Enkelkinder an und meint, „was dieser Knirps gesagt hat, das könnte auch aus meinem Mund stammen. Benehmt euch anständig. Wenn es einen wirklich ernsten Grund gibt, dann streitet, aber macht Schluss mit solchen Lapalien. Ihr solltet diesem Jungen ein Vorbild sein.“ Er sieht die beiden Jungs durchdringlich an. „Unterrichtet ihn. Nehmt ihn unter eure Fittiche, und hört auf mit diesem kindischen Unsinn.“

Am Nachmittag, als Alf müde wird, nimmt ihn Mona mit auf ihr Lager. Mona ist die Schwester von Ode und Knut, und sie ist schon sieben. Sie legt den Arm um Alf und Alf spürt, dass von Mona keine Gefahr droht. „Schlaf ein wenig“, sagt Mona, aber sag mir, wie du das gemacht hast.“

Sie hatte diesen Energiestrom deutlich gespürt, der Ode zu Fall gebracht hatte. Alf seufzt, kuschelt sich an Mona, und sagt leise. „Ich weiß nicht. Mama kann das auch.“ Das war das erste mal, dass Mona hört, dass dieser Knirps von seiner Mutter spricht, aber als sie nachfragen will, ist Alf schon eingeschlafen.

Wenige Tage später brechen die Jäger erneut auf. Dieses Mal kommen sie mit Beute zurück.

Sie schleppen einen Elch und sie tragen die Körper von fünf Wölfen. Fleisch ist kostbar. Auch das Fleisch der Wölfe würde gutes Fleisch geben und Kraft schenken.

Einen Elch hat Alf noch nie gesehen. Er nähert sich diesem riesigen Tier vorsichtig, und begutachtet ihn. Dann dreht er sich zu den Wölfen um und umarmt den ersten toten Wolf.

Er sieht sich um, und die Männer sehen, dass Alf weint. Jodan geht zu Alf hin und legt den Arm um ihn. „Was ist, was macht dich so traurig?“ Alf sieht Jodan mit seinen nassen Augen an, dann wischt er sich energisch die Tränen aus dem Gesicht. „Das waren meine Brüder“, erklärt er bestimmt.

Als Jodan das ihrem Mann in dieser Nacht erzählt, nickt er bedächtig. „Ich spüre, das in diesem Kind etwas Besonderes steckt. „Vielleicht wird dieses Kind uns eines Tages beschützen.“

Wenige Wochen später ist ein besonderes Ereignis. Fast die gesamte Sippe klettert diesen schmalen Pfad hinauf zu dem heiligen Hain. Es ist in den Abendstunden. Sie tragen Fleisch und selbstgebrautes Bier, und als sie oben ankommen, werden die Kinder ausgeschickt, um Feuerholz zu sammeln. Es gibt in der Sippe viele Kinder und die Aufgaben sind klar umrissen. Die Kinder haben Pflichten, und dazu gehört es auch, Feuerholz zu sammeln. Die Männer rammen einen Pfahl in den Boden, und einer der Knechte wird an den Pfahl gebunden. Er wehrt sich, aber Hagan tritt zu ihm und spricht energische Worte.

Der Mann verstummt. Alf steht zu weit weg, und er kann nicht hören, was Hagan sagt. Dort im engeren Kreis um diesen Pfahl sind nur die Krieger der Sippe zugelassen. Mona hält Alf an den Schultern fest. „Wir Kinder müssen Abstand halten, wenn die Alten reden“, sagt sie bestimmt.

Die Männer schichten das Holz zu einem Berg.

 

Die Sonne geht gerade hinter dem Berg unter, und Hagan beginnt jetzt zu reden. Es sei ein besonderes Jahr. Sie hätten Glück und Erfolg gehabt, aber nun würde die lange Zeit des Winters einbrechen. Es sei jetzt an der Zeit Odin, Thor, und Freya für ihre Güte zu danken.

Noch etwas sei geschehen. Odin hätte ihnen eine Elfe geschickt, und sie würden ihm für dieses Geschenk jetzt etwas zurückgeben.

Alf sieht fragend zu Mona, aber die hält ihn an den Schultern fest, und schüttelt leicht mit dem Kopf. „Warte“, sagt sie leise.

Hagan nimmt jetzt einen Schluck von dem Bier.

Auch die andern Krieger der Sippe trinken einen Schluck aus den Lederschläuchen, und sie zündeten jetzt Fackeln an und beginnen um den Holzhaufen zu tanzen.

Sie trinken immer wieder kleine Schlucke. Sie singen, und der Tanz wird rhythmischer. Die Frauen beginnen im Takt zu singen, sie beginnen jetzt rhythmisch zu klatschen. Während die Sonne untergeht und der Himmel langsam seine Helligkeit verliert, tanzen sich die Männer in Trance. Die Frauen stehen um sie herum und stampfen mit den Füssen. Die Kinder bleiben hinter den Frauen, im äußeren Kreis. Dann flammen weitere Fackeln auf. Um die tanzende Schar der Männer brennt jetzt ein großer Kreis aus Fackeln. Die Männer singen, die Frauen klatschen und stampfen. Auch sie geraten in Trance, und dann wird eine der Fackeln an Hagan weitergereicht.

Der Mann in der Mitte schreit mittlerweile wie am Spieß, aber das Schreien ist kaum zu hören, so laut sind die Gesänge und der stampfende Rhythmus.

Alf ist inzwischen müde, aber er ist auch gebannt von diesem Schauspiel. Irgendwie entzieht sich seiner Wahrnehmung, dass der Mann in der Mitte vor Angst und Panik schreit. Dann wandern weitere Fackeln in die Hände der Männer, und plötzlich entsteht eine Stille, in der sich jetzt deutlich das Angstgeschrei des Mannes ausbreitet.

Plötzlich wird Alf bewusst, was jetzt geschehen wird.

Hagan geht auf den Haufen zu, und er ruft, dass das Opfer jetzt vollbracht werden müsse. Gabe gegen Gabe. Dann steckt er die Fackel in den Holzhaufen und brennt ihn an. Die andern Männer treten von allen Seiten an den Haufen und stecken die Fackeln hinein. Der Scheiterhaufen beginnt zu brennen und lodert in den Himmel. In dem Geknister und Geknacke des Feuers geht das Geschrei des Mannes jetzt unter.

Die Männer nehmen jetzt wieder Schlucke aus ihren Schläuchen und setzen ihren Tanz fort.

Mona hatte Alf fest an den Schultern gepackt. Er kann sich nicht rühren, aber der dreijährige Knirps versteht deutlich, dass dort ein Mensch bei lebendigem Leib verbrannt wird, und das nur, weil Alf zu den Wikingern gekommen war. Die Tränen laufen ihm nur so herunter.

Während sich die Menge immer mehr in Trance tanzt, klappt Alf zusammen. Er bekommt es nicht mehr mit, dass er von zwei Händen in die Höhe genommen wird und auf ein Lager gebracht wird.

Es ist seine Amme Josefa, an deren Brust er nun schläft, aber in dieser Nacht wacht Alf mehrfach auf und schreit. Ein Schein bildet sich um Alf und erfasst auch Josefa. Erst als sie ihm die Brust erneut gibt, schläft Alf endgültig ein und findet Ruhe.

3.2.

Am nächsten Tag wird die rituelle Sonnwendfeier fortgeführt. Dieses Mal ist das Fest anders. Alf spürt jetzt, dass die großen Steine und die Stäbe nach einem ganz bestimmten Muster angeordnet sind. Er sieht die langen Schatten, die sie werfen, als die Sonne aufgeht. Er hört die Beschwörungen, und am Abend ist die ganze Gesellschaft wieder in Trance gesoffen.

In dieser Nacht wacht Alf auf, und er beginnt Josefa leise auszufragen. Ja, das sei so, Josefa sei nun schon einige Jahre hier in diesem Dorf, das Leben sei hart, aber sie hätte einige Vergünstigungen. Sie selbst sei aus einer großen Ebene, die sich jenseits des Meeres ausbreitet, und sie wäre vor einigen Jahren verschleppt worden. So genau weiß sie schon gar nicht mehr, wann das war. Sie war noch ein junges Mädchen gewesen, und sie hätte jetzt schon drei Kinder zur Welt gebracht. Nur heiraten, das dürfe sie hier nicht, und sie sei froh, dass Hagan sie ausgewählt hatte, die Amme für Alf zu spielen.

Alf versteht vieles nicht, was Josefa erzählt, aber er hört ihr geduldig zu, so wie er früher Mama immer zugehört hatte, wenn sie ihm Geschichten erzählte.

Am nächsten Tag geht die ganze große Gruppe ins Dorf zurück.

Soviel begreift Alf, dass er in eine Gesellschaft gekommen war, in der die Erwachsenen bestimmen, was getan wird, und dies ist ganz anders, als das, was er aus Berlin kennt.

Er seufzt und bittet Josefa, ihm noch oft solche Geschichten zu erzählen.

3.3.

Hagan ist nicht nur der Anführer des Dorfes, er ist auch der Schmied. Die Männer des Dorfes bringen ihm manchmal ihre Schwerter. Die werden dann geschliffen oder in Holzkohle erhitzt und mit Hämmern bearbeitet. Es scheint eine ganz besondere Kunst zu sein.

Hagan hat in einiger Entfernung des Dorfes ein zweites Haus, und einen durch Palisaden abgegrenzten Bereich, und er macht aus seiner Kunst ein großes Geheimnis.

Er stellt auch Helme her und eisenbeschlagene Schilde. Die sind so schwer, dass Alf die nicht anheben kann. Nicht einmal mit den Schwertern gelingt ihm das.

Die Männer des Dorfes haben ein Boot, das vorne und hinten einen hochgezogenen Drachenkopf hat. Es gibt Ruder und es gibt einen Mastbaum und ein Segel, und jetzt kommen neue Männer und sie bringen eine ganze Ladung an Schwertern mit, die Hagan beginnt zu bearbeiten. Sie werden umgeschmiedet und geschliffen, und das Gehämmere und das Geklingel hallt durch die ganze Bucht.

Auf Befragen von Alf erklärt Josefa, dass die Männer Kontakt zu anderen Familien haben, die alle an der Küste oder auf Inseln leben. Sie würden im Sommer viele Waffen von Beutezügen mitbringen. Hagan wiederum gälte als großer Schmied und Zauberer. Seine Schwerter seien begehrt. Er würde seinen eigenen Zauber in die Schwerter fließen lassen, so dass sie unzerbrechlich werden würden.

Alf sieht Josefa an. „So etwas gibt es?“

Josefa nickt überzeugend, aber sie sagt leise. „Du darfst nur nicht erzählen, dass du das von mir weist. Ich darf über diese Dinge nicht reden, und ob die Schwerter wirklich unzerbrechlich sind, das weiß ich nicht.“

Alf sieht Josefa wieder an. Sie ist inzwischen so etwas wie eine Mutter für ihn geworden. Gewiss, er braucht diese Muttermilch nicht wirklich, aber er genießt die Wärme und Geborgenheit, die von dieser Frau ausgeht. Er kennt auch ihre drei eigenen Kinder. Die beiden älteren üben im Haus die Dienste von Knechten und Mägden aus, obwohl sie noch sehr klein sind. Das sei nun einmal so, erklärt Josefa.

Instinktiv spürt Alf, dass er Josefa sogar beschützt, solange sie ihm die Brust gibt.

Solange sie ihn stillt, gilt sie als unentbehrlich. Alf hat noch deutlich die Bilder des Scheiterhaufens im Kopf, und er fragt Josefa direkt, ob dort auch Frauen verbrannt werden. Josefa meint nur, er solle sich darüber nicht den Kopf zerbrechen, aber Alf ist jetzt klar, dass Josefa verboten worden war, darüber zu reden.

3.4.

Es ist nicht so, dass Alf seine neue Familie als Belastung empfindet. Hagan gilt im Dorf als weise. Mit den Enkelkindern von Hagan hat Alf ein gutes Verhältnis. Es gibt noch mehr davon.

Hagan hat sieben Kinder und vier davon haben schon ein eigenes Langhaus, das sie zusammen bewohnen. Solche Langhäuser bieten mehreren Familien Platz. Die Dorfbewohner finden das richtig, in einer engen Dorfgemeinschaft zu leben. Immer wieder ziehen einzelne Gruppen los. Männer bringen Fleisch, Frauen bringen Beeren, Pilze und Kräuter. Es gibt viele davon.

Einige werden aufgekocht und als Tee getrunken, andere dienen als Gewürz oder als Medizin.

Hagan ist offenbar ein großer Medizinmann. Er hat viele dieser Kräuter in seinem Besitz, und er wird bei Krankheiten gerufen.

Zu Mona hat Alf ein besonderes Verhältnis. Sie lehrt ihn, dass die Kinder miteinander nicht nur raufen, sondern auch zusammen lernen. Es gibt viele Dinge. Es gibt Webrahmen, die nur von den Frauen bedient werden. Manchmal brechen die Frauen auf, ziehen in die Hochebenen, und kommen mit Bergen einer Pflanze zurück, die jetzt gerupft und gedreht wird, bis sie zu langen Fäden versponnen ist. Daraus weben die Mädchen und Frauen Hemden, und die sind offenbar sehr begehrt.

Josefa erzählt Alf, dass die Männer auf ihren Reisen solche Hemden mitnehmen. Sie werden sie in anderen Teilen der Welt eingetauscht gegen Dinge, die für sie wichtig sind. Salz, Bernstein, Gold, Glas, Zinn und Erz.

Hagan hat solche Glasgefäße. Für Alf ist das eben nur Glas, auch wenn das besonders bunt, und schön verziert ist, aber Glas ist in seinem Leben nichts Besonderes. Hier gilt Glas als wertvoll. Nur die Erwachsenen dürfen das in die Hand nehmen.

Die Kinder trinken aus Zinn- oder Holzbechern.

Es gibt aber auch allerlei Steine und verschiedene Figuren, die im Hause von Hagan als besonders wertvoll gelten.

Die Kinder tuscheln manchmal, aber sie dürfen das nicht anfassen.

Im Hause des Hagan gibt es viele Gebote und Verbote.

Auch wenn die Kinder miteinander spielen, balgen und kämpfen, gibt es viel Arbeit, von morgens bis abends. Auch Alf wird mit seinen drei Jahren in diese Arbeiten einbezogen.

„Wer hier essen will, der muss auch arbeiten“ hatte Hagan bestimmt.

Alles ist hier anders als in Berlin. Was in Berlin eher spielerisch war, um den Kindern die Welt aufzuschließen, das ist hier durch einen anderen Rhythmus geprägt. Man kann nirgendwohin gehen und ein Pfund Mehl oder ein Kilo Äpfel kaufen. Alles muss erst mühsam beigeholt werden. Wenn die Frauen in die Pilze oder in die Kräuter gehen, nehmen sie auch Knechte und Mägde mit, und die werden bis zum Zusammenbrechen bepackt.

Jetzt im Herbst gehen die Männer auch zum Holz machen. Jedes dieser Langhäuser hat einen gemauerten Ofen. Die Männer gehen mit Äxten fort und die Knechte schleppen viele Meter Holz ins Tal.

Alf ist noch zu klein, um mitgenommen zu werden, aber er sieht diese vielen Meter Holz, die sich jetzt hinter dem Haus auftürmen. Wird es hier sehr kalt“, fragt er Josefa, und die nickt.

„Sehr kalt.“

Im Sommer laufen die Kinder barfuß, aber Alf sieht bei den Nordmännern eine Art grober Schuhe, die mit Lederriemen an den Beinen festgebunden werden, und er sieht in Hagans Halle auch Fäustlinge aus Fell. Noch werden die nicht gebraucht. Er wird das auf sich zukommen lassen.

Jetzt schon merkt er, dass die Tage kürzer wurden, dass der Regen immer länger und kälter wird. Er sieht, dass das Boot der Männer mühsam ans Land gezogen wird, und dann auf lange Stützen gebockt wird, mit der offenen Seite nach unten.

Er erlebt auch die ersten Herbststürme, die sogar die Wellen in ihre Bucht peitschen, und dann wird es ziemlich ungemütlich, denn Hagan verbietet, Feuer zu machen. „Das Holz brauchen wir für den Winter“, bestimmt er.

Es gibt auch milde und sonnige Herbsttage, dann arbeitet die Männer am Boot, das unter dem Bug ausgebessert werden muss. Sie haben einen Lagerplatz für Holz, das mit Beilen gespalten worden war. Es liegt dort und trocknet, und wartet darauf, dass es irgendwann von den Männern mit ihren Äxten bearbeitet werden wird.

Für die Boote wird nur besonderes Holz verwendet. Es muss astfrei sein.

Alf wächst langsam in das Geschehen hinein. Eine Schule gibt es nicht, und die älteren Kinder werden – so wie die jüngeren auch – in die jeweiligen Arbeiten der Erwachsenen einfach eingebunden. Manchmal von den Frauen, und manchmal von den Männern.

Alf war das früher nie bewusst gewesen, hier lernt er, dass es einerseits typische Arbeiten für Mädchen und Jungen gibt, dass sie aber dann, wenn es um Entscheidungen geht, gleichberechtigte Stimmen haben. Die Frauen gebären die Kinder und das wird hoch bewertet.

Sie sind selbstbewusste Führer des Clans, und wenn im Sommer viele Männer mit dem Boot wegfahren, dann sind es oftmals die Frauen, welche die Entscheidungen alleine treffen, und notfalls das Dorf auch verteidigen müssen.

Jungen und Mädchen werden hier im Umgang mit Messern, Äxten und Schwertern trainiert. Es gibt Mädchen, die genauso geschickt sind, wie die Jungs. Nur in der puren Kraft, da sind die Jungs meist überlegen. Also wird trainiert, wie man sich mit Geschick gegen Kraft wehrt. Es geht immer auch um Kampftaktik und Schnelligkeit.

 

Alf beobachtet und lernt. Gewiss, so etwas wie eine Schule, das gibt es schon, aber nicht in dem Sinn, wie das in Berlin seines früheren Lebens praktiziert wurde. Er kennt das aber auch nur aus den Erzählungen seiner älteren Geschwister, und er weiß aus diesen Erzählungen zumindest ansatzweise, was Schule und was Aufgaben sind.

Hier ist das anders.

Alf denkt oft an Mama, an Lilly und die anderen.

Auch Papa fehlt ihm, aber dann zuckt er die Schultern und seufzt. Er hatte einmal mit Josefa darüber gesprochen, aber die hatte das nicht verstanden. Wie sollte sie so etwas auch verstehen.

3.5.

Die Kinder und Jugendlichen im Dorf haben vor allem eine Aufgabe. Dort, wo die Bucht sich verengt, dort wo das Meerwasser in die Bucht strömt, und beim Herauslaufen einen Sog erzeugt, dort stehen viele Felsen.

In grauer Vorzeit hatte der Wasserfall, der unweit des Dorfes aus den Bergen fließt, hier einen Binnensee geschaffen, der irgendwann einmal die Verbindung zum offenen Meer gefunden hatte. Es gibt da besonders einen Felsen, da kann man hinspringen, wenn man sehr mutig ist. Es gibt da eine Enge, wo die Fische, die in die Bucht hineinschwimmen, quasi mit den Wellen durch die Enge gepresst werden. Wer sich hier mit dem Speer aufstellt, gute Augen hat, und ein schnelles Reaktionsvermögen zeigt, der kann reiche Beute machen. Die Bucht ist voller Fische.

Die meisten Fische kommen durch das Haupttor zur Bucht, aber auch diese Nebenarme sind voll davon. Jeden Tag stehen dort mehrere Kinder und Jugendliche, um zu jagen. Sie stoßen einfach mit der Lanze ins Wasser, ziehen den Fisch heraus, und werfen ihn hinter sich. Die andern Kinder müssen den Fisch auffangen. Sie nehmen ihn an Ort und Stelle aus und hängen ihn zum trocknen in Streifen an selbstgebastelte Holzstäbe. Die Kinder und Jugendlichen auf dem Felsen wechseln sich ab. Sie stehen fast immer im kalten Wasser und wenn man auf dem glitschigen Felsen ausrutscht, ist man verloren.

Das Wasser ist tief. Der Sog drückt einen sofort unter die Wasseroberfläche und man ertrinkt. Das war schon mehrere Male passiert. Die Fische sind für das Dorf aber lebenswichtig.

In dem Dorf leben mehr als dreihundert Personen. Die brauchen Nahrung und Kleidung.

So stehen die Kinder und Jugendlichen jeden Tag dort auf diesem Felsen und am Felsrand, und fischen. Es sind immer 5, 6 oder acht Mädchen und Jungen. Es gibt da keinen Geschlechterunterschied. Manche Mädchen sind sogar viel geschickter, als die Jungen. Auf jeden Fall sind sich die Kinder der Gefahr bewusst, und das trainiert sie, besonders vorsichtig und geschickt zu werden.

Das ist nicht nur Arbeit. Die Kleineren werden in die Arbeit eingewiesen. Die Jugendlichen können sich ohne Aufsicht sehen. Sie scherzen, lachen und tanzen. Manche finden hier ihre ersten zaghaften Liebeskontakte. Es gibt Fische, die haben eine besondere Art von Gräten, die werden herausgenommen und gesammelt. Sie dienen als Nadeln. Man kann damit nähen oder Kleidungsstücke zusammenstecken.

Abends geht die Gruppe nach Hause, beladen mit Fisch, der nun unter einem Vordach zum Trocknen gehängt wird, so dass er weder von den Hunden, noch von den Mäusen gefressen werden kann.

Der luftgetrocknete Fisch wird später in Holztruhen gelagert. Er dient bei Jagdausflügen als Nahrung und wird auch bei Fahrten übers Meer als Notration mitgeführt. Menschen, die am Wasser leben, die leben vom Fisch.

3.6.

Es gibt viele Hunde im Dorf. Als Alf damals von Hagan ins Dorf gebracht worden war, hatten sich die Hunde respektvoll zurückgehalten. Später hatte Alf zu diesen Hunden Kontakt aufgenommen.

Es sind große struppige Tiere mit schmalen Köpfen und blauen Augen, die von den Männern zur Jagd mitgenommen werden. Sie sind halbwild und sie sind gefährlich.

Alf war für sie ein Fremder, ein potentieller Feind, aber Alf hatte schon am nächsten Tag den Kontakt hergestellt.

Er stand inmitten der Hundemeute, winselte und kläffte und summte. Jodan hatte ihren Mann angestoßen und auf Alf gezeigt, und Hagan hatte tief in Gedanken genickt. Dieses Kind war wirklich etwas Besonderes.

Es war wirklich so. Hagan und die Männer müssen manchmal zu diesen Tieren recht grob sein, um sich vor Aufdringlichkeit zu schützen. Alf macht das anders. Er summt und brabbelt, er kläfft und winselt, und die Tiere gehorchen ihm aufs Wort. Es ist nur damit erklärlich, dass Alf von den Göttern geschickt worden war. Jetzt konnte sich Hagan auch den seltsamen Geruch erklären, den Alf hatte, als sie ihn gefunden hatten.

Als die Jagdgesellschaft viele Wochen später mit den erbeuteten Wölfen kam, und als Jodan ihrem Mann erzählte, dass Alf gesagt hätte, das seien seine Brüder gewesen, da war Hagan in seiner Ansicht bestätigt worden. Alf ist eine Elfe, die Tiergestalt annehmen kann, und er hatte die Anweisung gegeben, die Wölfe in Zukunft zu verschonen.

So wurde Alf zwar in das Dorf integriert, aber er wurde von Hagan vorsichtig und hochachtungsvoll behandelt. Mehr noch als alle anderen Kinder.

Kinder müssen in die Gruppe hineinwachsen. Sie brauchen Anleitung, aber sie müssen auch arbeiten, um ihr Dasein zu rechtfertigen. Sie sind wichtige Mitglieder der Gemeinschaft. Sie sind die Zukunft der Familie, das gilt auch für Alf, aber Alf, der ist für Hagan seit damals etwas Besonderes.

3.7.

Jeder der Männer im Dorf hat irgendeinen Totem, irgendein heiliges Zeichen, das er sich ausgesucht hatte, und das er behütet wie einen Schatz.

Manchmal sind das Bärenknochen, manchmal kleine bronzene Figuren, die um den Hals getragen werden, manchmal Federn, die am Helm stecken oder ein besonderes Armband.

Manche haben auch mehrere solcher Totems, für jeden Zweck einen.

Auch im Dorf gibt es einen Thingplatz und wenn sich irgendein Ereignis ankündigt, dann ruft Hagan sein Dorf auf dem Thingplatz zusammen.

Er liegt unweit des Wasserfalles, auf einer großen Wiese, umgeben von hohen Bäumen. Hier gibt es Holzstämme, die im Boden stecken und die verziert sind mit Köpfen der Bisons, mit Geweihen der Elche und Rentiere. Es gibt dort Knochen, die im Wind wehen und Felle, die von der Sonne und dem Wind gegerbt worden waren.

Selbst das Wasser des Wasserfalles gilt den Nordmännern als heilig. Es ist lebensspendend und dient ihnen als Trinkwasser.

Es ist ein heiliger Platz, der den Göttern geweiht ist. Dieser Platz dient den kleinen, eher alltäglichen heiligen Handlungen, die alleine Hagan durchführen darf, weil er der Seher der Sippe ist.

Hagan hat eine ganze Sammlung von Knochen und Knöchelchen, von Steinen und Glasstücken.

Manchmal greift er in seinen Beutel und wirft diese Steine vor sich auf den Boden, um dann aus der Anordnung der Steine die Zukunft zu lesen. Jagdergebnisse, bevorstehende Heiraten, Erfolge bei Beutezügen, oder beim Handel mit Nachbardörfern. Auch Krankheiten oder Gesundbetung. Alles wird hier auf dem Thingplatz „verhandelt“.

Die Gruppe der Männer und Frauen, die im Dorf eine Stimme im Rat haben treffen sich hier, um wichtige Ereignisse zu besprechen, Beschlüsse zu fassen und Streit zu schlichten.

Ohne das Alf das wusste, hatte Hagan eine Woche nach Alfs Ankunft im Dorf den Rat auf dem Thingplatz zusammengerufen, und er hatte Knochen und Steine geworfen. Er hatte die Anordnung studiert und prophezeit, dass dem Dorf durch die Ankunft des weißhäutigen Jungen in der Gemeinschaft der Nordmänner noch eine wichtige Rolle zufallen würde.