Die Schamanin

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8.

Natürlich lernt Solveig auch alles andere in dieser kleinen Stadt kennen. Sie hat freien Zugang zum Rathaus, sie sitzt manchmal sonntags in der Kirche, sie kann jederzeit ins Sägewerk oder oben zum Golfplatz gehen, und Solveig hat als Mitglied ihrer Familie überall freien Zutritt. Sie ist einfach überall gern gesehen.

Unten, am unteren Rand der Stadt liegt auch diese Fabrik von Nahrungsmitteln, die der Familie gehört. Sie stellen dort Tiefkühlkost und Soßen in Flaschen her, rund um die Uhr. Es gibt dort Silos und es gibt einen großen LKW Ladeplatz. Die 40-Tonner können direkt an die Laderampe fahren, zum beladen oder zum entladen. Sie bringen stets frisches Gemüse und Fleisch und fahren wieder ab, voll bepackt mit Tiefkühlgerichten, Dosennahrung, oder mit Paletten voller Soßen.

Es gibt auch Ausgabestellen, wo man mit dem Kleintransporter hinfahren kann, um für die verschiedenen Küchen Lieferungen abzuholen, Verpacktes oder Frisches. Die Fabrik hat innerhalb der kleinen Stadt so etwas übernommen, wie ein Großmarkt und ein gewerblicher Discounter zu gleichen Teilen. Sie beliefert alle Hotels und Gaststätten der Stadt.

Jedenfalls kommen die LKW’s hier 24 Stunden am Tag an und fahren wieder ab. Es gibt allein 20 Laderampen und die Ladezeiten sind kurz. Da gibt es ein Heer von Hubwagen, welche die Paletten rausheben. Dann werden die LKW mit Schläuchen unter Hochdruck ausgespritzt und gesäubert, mit einem Gebläse getrocknet und sofort wieder beladen, während die Kühlung auf vollen Touren läuft, bis die notwendige Transporttemperatur erreicht wird, die für Tiefgekühltes anders ist als für die Paletten mit den Soßen in Glasflaschen. Alles ist perfekt organisiert. Die Frischware kommt vielfach aus Chile, Rindleisch aus Argentinien, Huhn aus Chile, manchmal von ländlichen Kooperativen der größeren Umgebung, und die Fertiggerichte gehen überwiegend wieder zurück nach Bolivien, Argentinien und Chile.

Es gibt noch eine zweite und viel größere Fabrik in Cusco, die der Familie gehört, und die beliefert die Nordstaaten, wie Kolumbien, Venezuela, Äquador, Brasilen und Peru selbst.

Als Mitglied der Familie kann Solveig jederzeit in diese Fabriken gehen. Sie kann dort hospitieren, oder sich mit den Leuten vom Einkauf oder an den Garkesseln unterhalten. Solveig hat unbegrenzten Zugang zu verschiedenen anderen Unternehmen und Einrichtungen, wie etwa das Familienhotel, das Elektrizitätswerk oder das Klärwerk, was anderen zu Recht verwehrt wird, die nicht zu Solveigs Familie gehören.

So springt Solveig manchmal auch nach Cusco. Manchmal wird sie von Tante Chénoa mitgenommen nach La Paz, nach Santiago de Chile oder nach Mexiko City. Solche Reisen sind ein Leichtes für Solveig. Sie von der Familie diese einzigartige Fähigkeit ererbt, durch den Raum zu gehen, wenn der Zielort bekannt ist. Sie hat auch gelernt, jede Sprache der Welt innerhalb weniger Stunden oder Tage zu erlernen, wenn sie nur ihr „Gesumm“ anschaltet, diesen gewaltigen Energiestrom, der es ihr auch ermöglicht, die „internationale Sprache“ zu sprechen, die jeder auf der Welt verstehen kann, egal wo.

Sie hatte längst gelernt, sich in allen Tiersprachen zu verständigen, und sich sogar in Tiere zu verwandeln. Die Kräfte ihrer Familie erlauben ihr das. Sie muss diese Tiere allerdings schon kennen, um in ihre Seele zu kriechen, um ihren Geruch und ihren Charakter anzunehmen. Mit Lamas, Pferden, Hunden, Berglöwen oder Adlern geht das problemlos. Sie kann sich auch in die Tiere des Urwalds verwandeln. Ameisen, Blutegel, Spinnen, Affen oder Falter. In einen Elefant hätte sie sich nicht verwandeln können. Den kennt sie (noch) nicht, aber Elefanten sind ohne eine nahezu ausgestorbene Spezies. Sie werden wohl die nächsten 30 Jahre nicht überleben.

Solveig gehört also schon früh zu einer Elite von bevorzugten Menschen, aber sie ist sich dessen bewusst, dass diese Kräfte nur geliehen sind. Man kann sie jederzeit verlieren, wenn man gegen den Kodex der Familie verstößt, der von ihr verlangt, mit dieser Kraft sorgfältig umzugehen, und sie nie, wirklich nie zu missbrauchen, um eigene egoistische Vorteile zu bedienen. Auch das hat seit ihrer frühen Kindheit zu ihrer Ausbildung gehört. Im Zusammenspiel mit der etwas älteren Freundin Clarissa war dies oft das Thema ihrer Gespräche gewesen. Solveig hatte dies längst verinnerlicht, wie eine Art innere Uhr.

Weil sie eine besondere Gabe entwickelt hat, in andere Menschen hineinzuhorchen, wird sie jetzt auch von Tante Chénoa manchmal mitgenommen zu Konferenzen, egal ob in New York, London oder Peking. Oft ist auch Clarissa dabei, und das ist immer sehr lustig, weil sie darauf bestehen, etwas von diesen Städten zu sehen.

Solveig hat längst begriffen, dass ihre Familie da ein Netz an Firmen besitzt, die überall auf der Welt aktiv sind.

Naja. Eigentlich gehören diese Firmen nicht der leiblichen Familie von Solveig, sondern der Stiftung in Berlin, die aber wiederum zum großen Teil der leiblichen Familie von Solveig gehört. Es gibt noch andere Eigentümer, aber die gehören alle zu einer großen Familie aus Freunden.

Genau genommen ist das also alles „Familieneigentum“, doch auch die Indianer in Ciudad del Sol, die Mitarbeiter in den Fabriken oder die vielen Mitarbeiter in der Imbisskette, die der Familie gehört, die sind für Solveig ein Teil ihres Familienclans.

Es ist diese besondere Philosophie des Clans, eine Gemeinschaft zu bilden, in der jeder einzelne Rücksicht und Fürsorge für den anderen empfindet. Dies wird ganz konkret gelebt, ohne dabei an den eigenen Vorteil zu denken. Man ist Mitglied eines großen Clans aus Freunden, und es ist die Aufgabe, diesem Clan die eigenen übersinnlichen Kräfte auch zur Verfügung zu stellen.

Solveig hat das von Kindesbeinen an nicht anders erlebt. Es ist ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Oma Katharina (die in Berlin eine der Direktoren der Stiftung ist), die sagt stets dazu, „das ist unsere Aufgabe. Die Vision einer besseren Welt hält uns am Leben. Sie gibt uns Kraft und Ausdauer. Sie beflügelt uns, und sie sagt uns auch, dass wir uns stets erden müssen. Wir sind nur ein Teil dieser Familie und wir sind der Diener unserer Freunde.“

Oma Katharina (die zweite Frau von Opa Leon), die meint das ganz konkret, was sie da sagt, und sie forderte diese Hilfe auch ein.

Als Opa Leon sich dann in Vera neu verliebte, änderte da nichts daran, dass die freundschaftliche Beziehung zu Katharina in Berlin und zu Oma Mila in Peru erhalten blieb.

9.

Solveig hat längst gelernt, dass ihre Familie auf mehreren Kontinenten und in mehreren Ländern lebt. Es gibt da andere Kinder, und es gibt da Onkels und Tanten, die sich manchmal oben bei Onkel Nakoma treffen, um sich auszutauschen, um die gemeinsamen Kräfte zu üben und zu verbessern, oder auch nur, um sich gemeinsam der Pferdezucht zu widmen oder einmal zusammen auszureiten. Inzwischen ist auch ansatzweise so etwas entstanden, wie eine Art gemeinsamer Schule. Die Kinder der Familie treffen sich mal bei Onkel Nakoma, mal bei Onkel Fred in Mexiko oder bei Oma Katharina in Berlin.

Weil Solveig diese besondere Gabe entwickelt hatte, zuzuhören, in andere Köpfe hineinzukriechen und Verbindung zu anderen aufzunehmen, nur über ihre Ströme von Energie, hat Tante Chénoa sie gebeten, innerhalb der Schar der Kinder eine besondere Rolle zu spielen Es muss einfach gesichert werden, dass die weitverzweigte Familie nicht auseinandertriftet und stets an einem Strang zieht. Es geht um diese gemeinsame Vision und die damit verknüpfte Demut. Man muss sich als Familienmitglied einfach darüber im klaren sein, dass diese Kraft zerstörerisch sein kann. Man darf sie nicht missbrauchen, sonst läuft die Familie Gefahr, diese Kraft zu verlieren.

Anfangs übernimmt Solveig diese Aufgabe nur spielerisch, wie sich einzuüben. Sie knüpft Kontakte und sie hört zu. Sie gibt Anregungen und sie delegiert viele Aufgaben.

Solveig tastet sich an diese Aufgabe langsam heran, ohne Druck und ohne Eile. Selbst das ist bereits eine ihrer hervorstechenden Eigenschaften. Tante Chénoa sagt dazu „die Methode Solveig“, was sie damit meint, das ist, dass Solveig das praktiziert, was im ökologischen Anbau als „sanfte Methode“ gilt. Das Gleiche gibt es im Bereich Tourismus und industrielle Produktion. Sanft eben, unaufdringlich, und nachhaltig.

10.

Solveig hatte in ihrer Kindheit und Jugend wirklich Glück. Ihre Position als Nesthäckchen hatten eine besondere Gabe hervorgebracht.

Solveig hatte sich schon früh einen Namen als geniale Tierflüsterin gemacht und sie hätte ohne weiteres ihren Onkel Nakoma beerben können, aber er gab das Unternehmen an seine Söhne Raoul und Pedro weiter, die ebenso genial im Umgang mit Tieren sind wie der Vater.

Solveig will zu ihren Cousins keine Konkurrenz sein. Chénoa hat ihr bereits eine verantwortungsvolle Aufgabe übergeben, aber Solveig will auch eine abgeschlossene Ausbildung, die ihr Spaß macht. Sie war quasi in der Klinik ihrer Mutter aufgewachsen. Das war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Solveig ist bereits geprägt. Sie beschließt, nach dem Abitur Humanmedizin und Tiermedizin zu studieren, Onkel Nakoma und seinen Kindern aber niemals Konkurrenz zu machen.

Weil Solveig aber schon mit 18 Jahren einen legendären Ruf unter Züchtern genießt, wird sie ihr Tätigkeitsfeld auf Gebiete verlegen, die von ihren Vettern nicht beansprucht werden.

Tante Chénoa hat ihr inzwischen geraten, sich um Russland und die angrenzenden Regionen zu kümmern. Dort gibt es sehr reiche Familien mit einem sehr wertvollem Pferdebestand. Viele dieser Familien sind in unsaubere Geschäfte verwickelt.

 

Überall gibt es solche Familien, die von geheimen Geschäften leben, die man allgemein als mafiös bezeichnet. Manche dieser Familien agieren völlig im Untergrund, andere haben ganze Regierungen okkupiert.

Chénoa sagte zu Solveig: „Die Mafia kannst du nur von innen heraus bekämpfen. Du musst ihre Strukturen und ihre Denkweise kennen, um sie beherrschen zu können. Denke immer daran, dass dies ein eigenes gesellschaftliches System ist, das im Verborgenen blüht. Was du nicht siehst, das kannst du nicht begreifen und auch nicht bekämpfen. Unsere Aufgabe ist es, dieses System sichtbar zu machen, so dass unsere Familie davon nicht bedroht werden kann.“

Solveig beherzigt diesen Rat. Sie nimmt Kontakt auf. Sie hört sich um. In den Ferien reist sie mit Chénoa in andere Länder. Sie beobachtet und sie sieht vieles, was ihr nicht gefällt. Sie beobachtet nicht nur, sondern sie beginnt diese Menschen „einzusummen“ und die Kinder dieser Familien auf ihre Seite zu ziehen.

Solveig greift dabei nie zu rigorosen Maßnahmen, sie ist in ihren Behandlungen sanft und nachhaltig. Sie pflegt die Tiere solcher Leute, die ihre Familie eigentlich von jeher bekämpft hatte. Sie greift nie in laufende Geschäfte dieser Familien ein, auch wenn sie vieles nicht gut findet. Sie sieht, sie hört zu, sie beobachtet und sie registriert. Sie wird nie ein Teil von Operationen dieser Gruppen oder Gangs, die sie aufsucht, um ihre wertvollen Pferde, Greifvögel, Keus oder Hunde zu behandeln, und wie durch ein Wunder kann sie es verhindern, von diesen Menschen vereinnahmt, oder gar bedroht zu werden, obwohl sie oft für konkurrierende Gangs arbeitet. Dabei gilt sie als verschwiegen und als zuverlässig. Wenn man nach Solveig schickt, dann ist sie da. Wenn man sie versucht, unter Druck zu setzen, setzt sie sich darüber hinweg. Wie sie das macht, das ist ihr Geheimnis. Nun ja. Chénoa kennt dieses Geheimnis. Es ist eben die „Methode Solveig“.

Solveig verdient längst eigenes Geld, bevor sie überhaupt damit beginnt Medizin zu studieren. Sie wird von einigen dieser Familien wegen ihrer heilenden Hände bereits gefeiert wie eine Shamanin.

Mit 18 beginnt Solveig ihr Studium in Lima und wechselte nach dem Vordiplom nach Deutschland. Dort gibt es eine kleine aber hochangesehene Fakultät für Medizin und Tiermedizin in Marburg. Solveig machte ihr Examen mit Bestnote. Der Professor bietet ihr an, in Marburg zu promovieren, aber Solveig lehnt dankend ab. Solche Ehren bedeuten ihr nichts. Sie geht zurück, um zunächst in der Klinik ihrer Mutter zu helfen. Sie klinkt sich in das heimische Leben wieder ein, und widmet sich parallel dazu weiter ihren Aufgaben als Tierheilerin.

Während der Semesterferien führt sie diese Arbeiten stets weiter, und sie führt auch die von Chénoa aufgetragene Aufgabe der Leitung der Kids durch. Leise, mit zarter Hand, nachhaltig und ohne jeden Stress.

Sie kann das wirklich gut. Solveig ist auf diesem Gebiet beeindruckend effektiv, und Chénoa bewundert diese Fähigkeit. Solveig ist Chénoa in vielen Dingen ebenbürtig.

11.

Solveig bekommt in diesen Jahren mit, wie die Familie in einem Cyberkrieg angegriffen wird. Sie begleitet die Maßnahmen, die ihre Tante Chénoa ins Leben ruft, um der Gefahr zu begegnen. Sie wird Zeugin von Gewalt. Immer wieder und immer wieder. Mal auf der einen Seite, mal auf der anderen.

Solveig hat auf ihre eigene Art der Entwicklung eine Anschauung vom Zusammenleben der Menschen, die auf Gewaltlosigkeit setzt. Sie spricht oft mit ihrer Tante Chénoa über dieses Thema und sie versucht stets, einen eigenen Weg zu finden. Sanft und nachhaltig. Vielleicht macht sie sich schuldig, weil sie immer wieder Zeugin von Unrecht wird, ohne das zu verhindern, aber sie weigert sich strikt, selbst durch rigorose Maßnahmen einzugreifen. „Gewalt erzeugt wieder Gewalt“, sagt sie. „An diesem Kreislauf will ich nicht teilhaben.“

Chénoa ist eine weise Frau, die das Potential ihrer Nichte schon früh erkannt hatte, und sie ermuntert Solveig auf diesem Weg fortzufahren. Wenn es gelingen würde, die Gedanken der Menschen auf breiter Basis nachhaltig zu beeinflussen, dann würde man viel mehr erreichen, als mit Gewalt. Ein solcher Weg braucht viel Zeit. Chénoa weiß das. Sie hatte diesen gewaltlosen Weg selbst beschritten, aber manchmal hatte sie auch schon zu drastischen Maßnahmen gegriffen. Dann war Blut geflossen.

12.

Solveig hat eine zwei Jahre jüngere Cousine mit dem Namen Elvira, die sich in Berlin offen gegen die Mafia gestellt hat. Auch Elvira hat aber einen sehr unkonventionellen Weg gewählt. Statt gegen die Mafia einen offenen Krieg zu führen, hat sie die Zusammenarbeit mit der Mafia gesucht, um sie besser kontrollieren zu können. Elviras erstes Ziel ist es, innerhalb von Berlin Ordnung zu schaffen. All die kleinen Ganoven und jugendlichen Gangs kann sie offen bekämpfen, die großen Mafiafamilien (die im geheimen wirken) müssen durch eine besondere Strategie eingefangen werden. Dort geht es um viel Geld und Macht. Ein Machtvakuum hätte die Stadt nur in ein neues Chaos gestürzt. So wird Elvira die heimliche Friedensrichterin in Berlin. Sie vermittelt zwischen den Mafiafamilien. Sie sorgt dafür, dass Berlin drogenfrei wird. Nun ja. Drogen werden zwar weiter konsumiert, dagegen kann sie wenig machen, aber sie untersagt den Verkauf von Drogen mit drastischen Maßnahmen, und die Mafiafamilien fügen sich, wie durch ein Wunder. Sie sorgt für eine Aufteilung der Märkte. Alles das geschieht unsichtbar für die Behörden, denn auch Elvira praktiziert diese Heimlichkeit und Unsichtbarkeit, die es in den Mafiafamilien gibt. Nur ein kleiner Teil ist sichtbar, das, was man öffentlich sehen darf. Elvira wird die heimliche „Königin“ von Berlin.

Das ist allerdings auch ein Weg auf schmalem Grat. Sinnbildlich mit der Mafia aus einem Teller zu essen, das macht mitschuldig, und Elvira hat für erbrachte Dienstleistungen von den Mafiabossen sogar eine Bezahlung gefordert. Sie musste das tun, um ihr Gesicht zu wahren, und als geheime Friedensrichterin anerkannt zu werden, aber Elviras Familie profitierte seit einigen Jahren finanziell indirekt von den Machenschaften der Mafia. Das ist in der Familie höchst umstritten. Opa Leon und Oma Katharina (in Berlin) hatten geseufzt und sie hatten gefordert, diese Gratwanderung genau, sehr genau zu beobachten, und immer wieder zu hinterfragen und zu kontrollieren.

Elviras Weg ist in der Familie nicht unumstritten. Der Tanz mit dem Teufel macht dich leicht zu seinem Komplizen. Nicht nur zum Mitwisser, sondern auch zum Mittäter. Manchmal schleichend, dafür aber umso effektiver und nachhaltiger, weil in solchen Fällen die natürlichen Abwehrantennen versagen, in kleinen und in großen Dingen, aber Solveigs Cousine Elvira hat Partei ergriffen. Sie mischt sich ein. Sie übernimmt Führungspositionen und sie beginnt zu steuern.

Es muss in dieser Zeit klargestellt werden, dass die Familie sich immer wieder in den Traditionen übt, die in der Familie als „Demut“ bezeichnet werden. Diese Kräfte, die sie als Familie haben, die dürfen nicht missbraucht werden. Die Achtung für Mensch und Natur ist oberstes Gesetz. Man darf nicht zum Täter werden.

In dieser Zeit bittet Chénoa ihre Nichte Solveig, das Gewissen der Familie zu überwachen, oder anders gesagt, die Einhaltung der ethischen Grundsätze zu garantieren. Niemand kann so gut in die Köpfe hineinkriechen wie Solveig, und Solveig wird die Beraterin ihrer Cousine Elvira, mit der sie von diesem Zeitpunkt an in ständigem Kontakt steht.

Auch Solveigs gewaltfreier Weg ist nicht unumstritten. Sie mischt sich nicht ein, obwohl sie von vielen Ungerechtigkeiten und Rechtsmissbräuchen weiß. Sie versucht stets langsam und schleichend Einfluss zu gewinnen. Sie sieht genau genommen zu, wenn Ungerechtigkeiten passieren, ohne sie zu verhindern. Was also ist der bessere Weg? Elviras oder Solveigs Lösung?

Ihre Tante Chénoa ist sich klar über diesen Konflikt des Gewissens, wie sie das nennt, aber auch Chénoa weiß nicht immer Rat. Das sind Grundsatzentscheidungen, die eine Einzelfallprüfung brauchen, und dich immer wieder in Gewissenskonflikte bringen können, wenn du deiner Umwelt nicht gleichgültig gegenüberstehst.

Als Mensch lädst du ständig Schuld auf dich, ob du nun etwas tust, oder nur zusiehst, ohne dich einzumischen. Man könnte sagen, „was soll’s, wenn ich immer Schuld auf mich lade, dann ist es doch egal, was ich tue. Dann kann ich nur an mich denken und mir den bequemsten und gewinnbringendsten Weg suchen.“ So denkt Soveigs Familie nicht. Schon Opa Leon hatte aktiv ins Geschehen eingegriffen und die Familie hat diese Vision, der man in vollem Bewusstsein verpflichtet ist.

Sowohl Tante Chénoa, wie auch Elvira und Solveig wissen, dass manchmal rigorose Maßnahmen beschritten werden müssen, um Schlimmeres zu verhindern.

Um es deutlich zu sagen. Solveigs Weg ist nicht besser als der von Elvira, aber Solveig ist der nachdenkliche und eher philosophische Charakter. Das ist eine wichtige Voraussetzung für ihre neue Rolle in der Familie als eine Art Supervisorin.

13.

Solveig besucht inzwischen alle die Familienmitglieder, die es da gibt. Es sind mittlerweile viele.

Die Kinder von Onkel Nakoma haben inzwischen eigene Kinder. Onkel Fred und Onkel Paco haben eine ganze Reihe Kinder. Ihr großer Bruder Ramon und Chénoas Sohn Ramon haben Kinder. Überall wachsen neue „Keimzellen“, teilweise sehr weit auseinander verstreut.

Solveig hört zu, sie betreut, sie koordiniert und sie übernimmt die Schulung der Kinder. Es gibt ja diese Treffen der Kids schon länger, um sich in den Kräften der Familie zu üben. Solveig perfektioniert diese Treffen jetzt, wie eine richtige „Ferienschule“, und sie fordert von den Kindern Demut ein.

Solveig macht das nicht alleine. Alle die wichtigen Mitglieder der Familie stehen an ihrer Seite. Die Familientreffen sind in ihren Beschlüssen eindeutig. Macht ist legitim, Machtmißbrauch nicht.

Solveig leitet in der „Schule der Kinder“ an, sie delegiert, sie übergibt Aufgaben an jugendliche Mitglieder und Kinder der Familie, sie beobachtet, koordiniert und schreitet ein, wenn es notwendig erscheint. Solveig kann sich in die Köpfe summen, wie keine Zweite. Sie übertrifft darin inzwischen sogar ihre Tante Chénoa, wenn auch nur im Rahmen kurzer Distanzen.

Innerhalb von fünf Jahren wird Solveig so etwas, wie „das Gewissen“ der Familie. Sie achtet auf die Einhaltung der Regeln. Sie lässt den Kindern der Familie alle erdenklichen Freiheiten, aber es gibt Dinge, die schlussendlich tabu sind. Der Mensch und die Natur sind heilig. Das ist ein ehernes Gesetz, und Solveig trainiert sich jetzt in der Steuerung von Gedanken über große Distanzen hinweg. Sie nimmt faktisch einen Geruch auf, wie ein Wolf, der seine Beute schon aus mehreren Kilometern riecht, oder wie ein Eisbär, der im Winter der arktischen Kälte sogar die Fähigkeit hat, die Robben unter der Eisschicht zu riechen. Sie beginnt solche Kontakte systematisch über lange Distanzen hinweg zu pflegen.

Solveig ist zum Hüter der Schule geworden, zum Lehrer der Kinder. Sie kann inzwischen problemlos zu jedem der Kinder über ihre Energieströme Kontakt aufnehmen, egal, wo sie gerade sind. Sie kann sie rufen. Sie kann mit ihnen drahtlos kommunizieren (ganz ohne Telefon) und sie kann ihre Gedanken lesen. Solveig ist ein sanfter Riese.

So wird Solveig wie ein Metronom, das den Takt und die Schnelligkeit des Takts vorgibt. Es bestimmt den Mittelpunkt des Pendels und den Grad des Ausschlags. Chénoa nennt Solveigs Aufgabe inzwischen am liebsten den „Wächter unseres Gewissens“. Solveig stellt eigenverantwortlich die Leitfäden auf und sie kontrolliert deren Einhaltung.

Schon einmal hatte die Familie schmerzlich erfahren, dass eines der Familienmitglieder all seine Kraft verlor, weil er die Spielregeln aufs Gröbste missachtet hatte. Diese Kräfte sind nicht da, um persönlichen Vorteil daraus zu ziehen.

Dabei weiß Soveig nichts von diesem Volk der Cantara, das auch in ihrem Kopf sitzt und sie anleitet. Nun, sie weiß, dass da irgendetwas ist, das man auch mit dem Begriff „Gott“ beschreiben könnte, und zu dem sie Kontakt aufnehmen kann. Gesehen hat sie dieses „Etwas“ noch nie, und sie weiß auch nicht, dass das Volk der Cantara Solveig aufgebaut hat, diesen neuen sanften Weg zu beschreiten. Sie muss das nicht wissen. Sie ist ein williges Werkzeug in den Händen der Cantara. Sie redet manchmal mit Chénoa darüber, aber die zuckt mit den Schultern. „Du weist, dass unsere Familie eine einzigartige DNA besitzt, die sie von fast allen anderen Menschen unterscheidet. Nenne das Evolution, wenn du willst. Offenbar ist uns dieses Denken angeboren, ebenso wie die Grundlage, solche Fähigkeiten zu entwickeln, wie wir sie haben. Du weist auch, dass niemand, der zu unserer Familie gehört, jemals ernstlich krank wird. Typhus, Scharlach, Pest oder AIDS. Wir sind dagegen immun, so seltsam das auch klingt. Offenbar hat die Natur eingerichtet, eine neue Gattung zu erschaffen, die fähig ist, den Klimawandel unbeschadet zu überstehen. Nehmen wir dieses Schicksal also dankbar an, und sorgen wir dafür, dass alles Erdenkliche getan wird, um unserer Welt ein Stück Gleichgewicht wiederzugeben.“