Wilhelm Dilthey

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Das Projekt einer philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften: die Einleitung in die Geisteswissenschaften



Im Zentrum von Diltheys Werk steht das Projekt einer umfassenden philosophischen, d. h. erkenntnistheoretischen, logischen und methodologischen Grundlegung der Geisteswissenschaften. Dilthey hat dieses Unternehmen, das die Begründung der Autonomie der Geisteswissenschaften zum Ziel hatte, gelegentlich auch – in (kritischer) Anspielung auf Kants Transzendentalphilosophie – als eine „Kritik der historischen Vernunft“ bezeichnet. (Vgl. I, 116; vgl. auch I, IX und V, 9, VII, 115, 117, 191, 263, 278, 290, VIII, 264)



Seine philosophische Grundfrage lautet: Wie lässt sich die Objektivität geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse sichern, und wie lassen sich die Geisteswissenschaften, also die Wissenschaften des Menschen, der Geschichte und der Gesellschaft (vgl. I, 5), als eine – und zwar nicht nur in methodischer Hinsicht – von den Naturwissenschaften unabhängige Wissenschaftsgruppe begründen?



Dieses philosophische Projekt kann man ohne Einschränkung als das Lebensprojekt Diltheys bezeichnen, es ist die einheitstiftende Mitte seines Werks und seines Denkens. Dieses Unternehmen hat ihn fast über sein ganzes wissenschaftliches Leben begleitet und nahezu beständig in Atem gehalten. In immer neuen Anläufen hat Dilthey versucht, die intendierte Philosophie der Geisteswissenschaften auszuarbeiten, ohne allerdings sein sehr ambitioniertes, weil wahrscheinlich zu weit gespanntes und zu anspruchsvolles Projekt einer Grundlegung vollenden zu können. Alle systematischen Arbeiten – aber auch viele seiner historischen Forschungen – beziehen sich direkt oder in einem weiteren Sinne auf dieses umfassende, allerdings nie zum Abschluss gekommene große Forschungsprojekt.







Mit den Problemen einer philosophischen Begründung der Geisteswissenschaften beschäftigt sich Dilthey in dem Zeitraum, der sich von seinen frühen Diskussionen mit dem Freund Moritz Lazarus bis zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften von 1910 erstreckt. Wichtige Stationen dieser Beschäftigung sind der „Grundriss von 1865“, die „Abhandlung von 1875“ und die Versuche ihrer Fortsetzung, die Breslauer erkenntnistheoretischen und psychologischen Forschungsmanuskripte, der erste Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 und die Nachlassmanuskripte zum systematischen Teil des zweiten Bandes, die Vorlesung Einleitung in das Studium der Geisteswissenschaften, Rechts- und Staatswissenschaften, Theologie und Geschichte vom Sommersemester 1883 (XX, 127 – 164), die Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie von 1894, die „Abhandlung von 1895“ Über vergleichende Psychologie, die Studien zur Grundlegung der Geisteswissenschaften von 1905 bis 1910 sowie Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften.



In Diltheys Theoriebildung lassen sich grob zwei Phasen unterscheiden: Die erste wird durch den Umkreis der Einleitung gebildet (ca. Mitte der siebziger Jahre bis 1896). Die zweite durch den Aufbau und die Texte, die in Vorbereitung oder in der Absicht der geplanten Fortsetzung dieser – unvollendet gebliebenen – Schrift entstanden sind (1904 – 1911).



Im Frühjahr 1883 erscheint der erste Band von Diltheys philosophischem Hauptwerk, der Einleitung in die Geisteswissenschaften, mit der er in der „mittleren Phase“ seiner philosophischen Entwicklung die von ihm angestrebte Philosophie der Geisteswissenschaften realisieren will. Das Buch trägt den programmatischen Untertitel: Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte und ist das Resultat eines fast zwanzigjährigen Arbeitsprozesses; erste Entwürfe zu einer Theorie der Geisteswissenschaften reichen bis in die Mitte der sechziger Jahre zurück; sie sind in Band XVIII der GS dokumentiert.



Konkret ausgearbeitet hat Dilthey die Einleitung anscheinend in kurzer Zeit – nicht zuletzt wohl auch im Hinblick auf die in Aussicht stehende Berufung auf den Berliner philosophischen Lehrstuhl. In seinem Briefwechsel finden sich bis zum Sommer 1881 (vgl. BW I, 867f.) keine Hinweise auf das in Arbeit befindliche Werk; ebenso wenig gibt es au-







tobiographische oder sonstige einschlägige Notizen, Berichte o. ä., die Licht auf ihre Planung und ihren Entstehungsprozess werfen könnten, so dass die Genese der Einleitung nicht im Detail nachvollzogen werden kann. Offenkundig ist allerdings, wie die erhaltenen Druckfahnen belegen, dass Dilthey während des Drucks an Inhalt und Disposition der Einleitung z. T. noch erheblich gearbeitet hat.



Konkret verfolgt hat Dilthey das Buchprojekt der Einleitung vom Beginn der achtziger Jahre bis in die Mitte der neunziger Jahre, bevor er es im Jahr 1896, entnervt durch einen scharfen Angriff des Psychologen Hermann Ebbinghaus auf seine Konzeption einer deskriptiven Psychologie, die in seiner Grundlegung der Geisteswissenschaften eine fundamentale Rolle spielt, aufgab. (Vgl. dazu Kap. 8)



Obwohl das Werk also offenbar in relativ kurzer Zeit ausgearbeitet wurde, geht seiner Publikation eine jahrelange, z. T. sehr intensive Beschäftigung mit dieser Problematik voraus, die bis in Diltheys Studienzeit zurückreicht. Schon Mitte der fünfziger Jahre hatte ihn die Thematik einer umfassenden philosophischen Behandlung der Probleme der Geisteswissenschaften und das Thema der methodologischen Selbständigkeit dieser Wissenschaften, oder anders gesagt, die Frage des methodischen Status der Erforschung der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit erfasst und seitdem nicht wieder losgelassen.



In einem seiner letzten Texte aus dem Spätsommer 1911, der Fragment gebliebenen Vorrede zu einer noch von ihm selbst geplanten Sammlung seiner systematischen Aufsätze, spricht Dilthey in einer Art autobiographischem Rückblick von dem „herrschende Impuls“ in seinem wissenschaftlichen Werk und formuliert gleichsam sein philosophisches Lebensprogramm, „das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen. Mich verlangte, in die geschichtliche Welt immer tiefer einzudringen, um gleichsam ihre Seele zu vernehmen; und der philosophische Zug, den Eingang in diese Realität zu finden, ihre Gültigkeit zu begründen, die objektive Erkenntnis derselben zu sichern, dieser Drang war für mich nur die andre Seite meines Verlangens, in die geschichtliche Welt immer tiefer einzudringen.“ (V, 4)



Die Ausgangslage für Diltheys Projekt einer Philosophie der Geisteswissenschaften war eine „Unsicherheit über die Grundlagen der







Geisteswissenschaften“. (I, XVI) Diese Grundlagenkrise wurde ausgelöst durch die schon erwähnte Konfrontation zwischen der an der Berliner Universität fest etablierten historischen Schule, der Diltheys Lehrer Trendelenburg, Ranke und Boeckh angehörten, und der französisch-englischen Erfahrungsphilosophie, also dem Positivismus und dem Empirismus, wie er insbesondere durch die Philosophen Auguste Comte und John Stuart Mill sowie den englischen Historiker Henry Thomas Buckle repräsentiert wurde.



Der junge Dilthey zeigt anfänglich durchaus eine gewisse Sympathie für diese erfahrungswissenschaftlichen Bestrebungen, erkennt aber doch schon bald die Mängel und problematischen Konsequenzen der Erfahrungsphilosophie und des Naturalismus. Diese führen nämlich, wie er wahrzunehmen glaubt, zu einer „Verstümmelung des Geistes“ (vgl. V, 3) bzw. der geschichtlichen Wirklichkeit (vgl. I, XVII u. a.), da sie, wie auch die französischen Aufklärungsphilosophen, versuchen, „den Geist als ein Produkt der Natur zu begreifen“. (V, 3)



Aus der kritischen Beschäftigung mit den positivistisch-empiristischen Ansätzen, denen er sich einerseits in ihrer Gegnerschaft zur spekulativen Philosophie verwandt fühlt, aber andererseits auch ihre Grenzen erkennt, bildet sich bei ihm der Plan zu einer allmählich Gestalt gewinnenden Theorie der Geisteswissenschaften. In vielen kleineren Manuskripten, Entwürfen, Skizzen und Rezensionen, wie z. B. den beiden kritischen Besprechungen von Buckles Hauptwerk History of Civilisation in England (2 Vol. London 1857 – 1861), setzt sich Dilthey mit der positivistischen Wissenschaftsphilosophie und konkurrierenden Unternehmungen, wie der Völkerpsychologie von Lazarus und Steinthal, auseinander und stellt dabei seine Kritik dieser Richtungen unter die Formel „Empirie nicht Empirismus“. (XVIII, 193)



Dieser Empirismus-kritische Impuls, der das Denken des jungen Dilthey in der zweiten Hälfte der sechziger und in den siebziger Jahren bestimmt, bildet ebenfalls das Fundament der Einleitung, die man auch als eine Gegenkonzeption zum sechsten Buch (On the Moral Sciences) von Mills Hauptwerk A System of Logic, Rationative and Inductive. Beeing a Connected View of the Principles of Evidence and the Methods of Scientific Investigation (2 Vol. London 1843; in deutscher Übersetzung von J. Schiel:







System der deductiven und inductiven Logik. Eine Darlegung der Principien wissenschaftlicher Forschung. Braunschweig 1849) lesen kann, in dem eine Einheitswissenschaft ohne methodologisch-erkenntnistheoretische Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften, die Mill als „moralisch-politische Wissenschaften“ bezeichnet, postuliert wird.



Diltheys Entwurf ist vornehmlich getragen von der Absicht, der Arbeit der historischen Schule eine philosophische Begründung zu liefern und eine Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften auszuarbeiten. Wie er rückblickend im Aufbau schreibt, stellte sich die Einleitung „auf die Tatsache der Geisteswissenschaften, wie sie besonders in dem von der historischen Schule geschaffenen Zusammenhang dieser Wissenschaften vorlag, und suchte deren erkenntnistheoretische Begründung.“ (VII, 117) Denn diese fehlende erkenntnistheoretische Begründung diagnostiziert Dilthey als die entscheidenden „inneren Schranken“ dieser Forschungsbewegung, die „ihre theoretische Ausbildung wie ihren Einfluß auf das Leben hemmen mußten“. (I, XVI) Denn „ihrem Studium und ihrer Verwertung der geschichtlichen Erscheinungen fehlte der Zusammenhang mit der Analysis der Tatsachen des Bewußtseins, sonach Begründung auf das einzige in letzter Instanz sichere Wissen“. (Ebd.)

 



Charakteristisch für die historische Schule, die von Wickelmann und Herder, über die Vertreter der romantischen Schule bis zu Niebuhr, Jacob Grimm, Savigny und Boeckh reicht und die klassische Phase der Geisteswissenschaften in Deutschland repräsentiert, ist in Diltheys Augen eine „rein empirische Betrachtungsweise , liebevolle Vertiefung in die Besonderheit des geschichtlichen Vorgangs, ein universaler Geist der Geschichtsbetrachtung, welcher den Wert des einzelnen Tatbestandes allein aus dem Zusammenhang der Entwicklung bestimmen will, und ein geschichtlicher Geist der Gesellschaftslehre, welcher für das Leben der Gegenwart Erklärung und Regel im Studium der Vergangenheit sucht und dem schließlich geistiges Leben an jedem Punkte geschichtliches ist“. (I, XVI)



Während die historische Schule Wert auf die Betrachtung und Erkenntnis historischer Individualitäten legt und entwicklungsgeschichtlich denkt, versuchen demgegenüber der Positivismus und der Empirismus von Comte, Mill und Buckle, „das Rätsel der geschichtlichen Welt







durch Übertragung naturwissenschaftlicher Prinzipien und Methoden zu lösen“. (I, XVI)



Dilthey bestimmt seine konkrete Aufgabenstellung in seinem Buch durch diesen Konflikt zwischen der historischen Schule und dem Positivismus. Er will „das Prinzip der historischen Schule und die Arbeit der durch sie gegenwärtig durchgehends bestimmten Einzelwissenschaften der Gesellschaft philosophisch begründen und so den Streit zwischen dieser historischen Schule und den abstrakten Theorien schlichten“. (I, XVII) Im Zusammenhang mit diesem Grundproblem stehen aber auch Fragen, die nicht nur den Theoretiker, sondern auch den geisteswissenschaftlichen Praktiker interessieren, wie z. B. die nach dem Zusammenhang zwischen etwa historischen, ökonomischen und rechtswissenschaftlichen Aussagen: Wer gibt diesen Sätzen und Begriffen ihre Sicherheit? Reicht der Zusammenhang der geisteswissenschaftlichen Disziplinen in die Metaphysik zurück? Und wenn nicht, wo ist der „feste Rückhalt für einen Zusammenhang der Sätze, der den Einzelwissenschaften Verknüpfung und Gewißheit gibt“? (Ebd.)



Die erkenntnisphilosophische Position, die Diltheys Philosophie der Geisteswissenschaften zugrunde liegt, wird in der Einleitung nur grob skizziert, aber nicht wirklich ausgearbeitet, da sie im Mittelpunkt des zweiten Bandes stehen soll. Grundlage seiner Erkenntnistheorie ist der Rückgang auf den „ganzen Menschen in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte“ (I, XVIII), um dadurch den Intellektualismus und die Ungeschichtlichkeit der klassischen Erkenntnistheorien (Rationalismus, Empirismus, Transzendentalphilosophie) zu überwinden und so die Grundfragen einer Erkenntnistheorie der gesellschaftlichen und geschichtlichen Wissenschaften, die Dilthey im Übrigen in Absetzung von den tradierten erkenntnistheoretischen Ansätzen als „Selbstbesinnung“ bezeichnet, zu lösen. Die erkenntnistheoretische Basiskonzeption der Einleitung ist eine – wie er rückblickend im Aufbau schreibt – gegen „den Intellektualismus in der damals herrschenden Erkenntnistheorie“ (VII, 117) gesetzte „Philosophie des Lebens“. Ihre Grundkategorien sind der „ganze Mensch“ und das „Leben“, das „Erleben“ oder das „Erlebnis“.



Die Erfahrungswissenschaften der geistigen Wirklichkeit basieren auf der sogenannten „inneren Erfahrung“ bzw. auf dem „inneren Erlebnis“







(I, 9). Da jede Wissenschaft Dilthey zufolge Erfahrungswissenschaft ist und jede Erfahrung „ihren ursprünglichen Zusammenhang und ihre hierdurch bestimmte Geltung in den Bedingungen unseres Bewußtseins, innerhalb dessen sie auftritt“, besitzt, d. h. „in dem Ganzen unserer Natur“, findet Dilthey den „festen Ankergrund“ für sein Denken „ausschließlich in der inneren Erfahrung, in den Tatsachen des Bewußtseins“, d. h. in dem erkenntnistheoretischen Standpunkt, der die „Unmöglichkeit einsieht, hinter diese Bedingung zurückzugehen, gleichsam ohne Auge zu sehen oder den Blick des Erkennens hinter das Auge selber zu richten“. (I, XVII) Darüber hinaus zeigt sich ihm, dass die Selbständigkeit der Geisteswissenschaften von diesem Standpunkt aus die Begründung findet, die die historische Schule bedarf.



Diltheys Konzeption zufolge sollte das Gesamtwerk der Einleitung zwei Bände umfassen. Zahlreiche Dispositionen aus verschiedenen Jahren zeigen, dass Dilthey die Gesamtanlage der Einleitung immer wieder neu durchdacht und geplant hat. Hinweisen aus späterer Zeit zufolge sollte das Gesamtwerk sogar aus drei Bänden bestehen. (Vgl. u. a. B, 48)



Der veröffentlichte erste Band der Einleitung besteht aus zwei Büchern: Das erste, einleitende Buch („Übersicht über den Zusammenhang der Einzelwissenschaften des Geistes, in welcher die Notwendigkeit einer grundlegenden Wissenschaft dargetan wird“; I, 1 – 120) enthält in nuce eine Theorie der Geisteswissenschaften, die die für den zweiten Band vorgesehene umfassende Erkenntnistheorie, Logik und Methodenlehre der Geisteswissenschaften vorbereiten soll. Es stellt den Gegenstand der Untersuchungen, d. h. die Geisteswissenschaften, als Wissenschaften der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit vor. Dabei werden die Geisteswissenschaften vorläufig und tentativ als ein selbständiges, von den Naturwissenschaften unabhängiges Ganzes bestimmt. Weiterhin wird das Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften erörtert sowie das Forschungsmaterial der Geisteswissenschaften und die für sie charakteristischen Klassen von Aussagen vorgestellt. Im Zentrum des Buches steht eine Analyse der verschiedenen Klassen der Geisteswissenschaften und der Versuch einer Bestimmung ihres systematischen Zusammenhangs, d. h. ihres Systems, das von der Psychologie als Grundwissenschaft zu den Klassen der systematischen Geisteswissenschaften reicht, sowie ein







Überblick über die methodischen Grundlagen der Geisteswissenschaften, d. h. ein Ausblick auf die geplante Methodenlehre. Abgeschlossen wird das Buch mit einer Kritik der Geschichtsphilosophie und der positivistischen Soziologie sowie einer zusammenfassenden Begründung der Notwendigkeit seines Vorhabens einer erkenntnistheoretischen Grundlegung.



Das zweite Buch („Metaphysik als Grundlage der Geisteswissenschaften. Ihre Herrschaft und ihr Verfall“; I, 121 – 408) enthält eine weitgehend historisch geführte Metaphysikkritik oder „Phänomenologie der Metaphysik“, d. h. eine umfassende Darstellung und Kritik der Metaphysik von den Vorsokratikern bis zur Entstehung der modernen Naturwissenschaften, einschließlich der Epoche einer metaphysischen Begründung der Geisteswissenschaften. Sie dient dem Nachweis, „daß eine allgemein anerkannte Metaphysik durch eine Lage der Wissenschaften bedingt war, die wir hinter uns gelassen haben, und sonach die Zeit der metaphysischen Begründung der Geisteswissenschaften ganz vorüber ist“. (I, XIX)



Über Diltheys Planung für den zweiten Band wissen wir – abgesehen von vielen Gliederungsentwürfen, die sich im Nachlass fanden – vornehmlich aus drei Quellen: seiner Dispositionsskizze in der Vorrede zum ersten Band, einem Brief an R. Schöne und den Konzepten zu einem Schreiben an F. Althoff, die er beide im Zusammenhang seiner bevorstehenden Berufung an die Berliner Universität verfasste. Demnach sollte der zweite Band, für den Dilthey um 1882/83 vier Bücher geplant hatte, einen geschichtlichen Teil und die eigene positive systematische Grundlegung der Geisteswissenschaften enthalten:



Das dritte Buch sollte die historisch-kritische Darstellung des zweiten Buches fortsetzen und „dem geschichtlichen Verlauf in das Stadium der Einzelwissenschaften und der Erkenntnistheorie nachgehen und die erkenntnistheoretischen Arbeiten bis zur Gegenwart darstellen und beurteilen“ (I, XIX). Diesen Teil seiner Konzeption hat Dilthey in großem Umfang durch seine umfangreichen geistesgeschichtlichen Studien der neunziger Jahre realisiert, die im Band II seiner GS zusammengestellt sind.



Die Bücher vier und fünf sollten dann „eine eigene erkenntnistheoretische Grundlegung der Geisteswissenschaften versuchen“. (I, XIX) Das vierte Buch („Grundlegung der Erkenntnis“), sollte in drei Ab-







schnitten („Die Tatsachen des Bewußtseins“, „Die Wahrnehmung der Außenwelt“ und „Die innere Wahrnehmung und die Erfahrung von seelischem Leben“) die Grundlagen einer Erkenntnistheorie der geisteswissenschaftlichen Erfahrung entwickeln. Ausgearbeitet, aber nicht publiziert hat Dilthey davon nur den ersten Abschnitt. Es handelt sich dabei um die erst aus dem Nachlass in Band XIX der GS publizierte große und mittlerweile in der Dilthey-Forschung als sogenannte „Breslauer Ausarbeitung“ bekannt gewordene erkenntnisanthropologische Untersuchung (XIX, 58 – 173), die – wenn man brieflichen Äußerungen Diltheys glauben darf – den ältesten Teil der Einleitung darstellt. (Vgl. BW I, 887) Den Gegenstand des zweiten Abschnitts hat Dilthey in seiner „Realitätsabhandlung“, der Studie Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890) behandelt. Zum dritten Abschnitt liegen dagegen nur einige Skizzen und Fragmente vor, die ebenfalls erst in Band XIX der GS veröffentlicht wurden. (Vgl. XIX, 195 – 227)



Das fünfte Buch („Das Denken, seine Gesetze und seine Formen“) sollte die Logik und das sechste Buch („Die Erkenntnis der geistigen Wirklichkeit und der Zusammenhang der Wissenschaften des Geistes“) die Methodenlehre und das System der Geisteswissenschaften enthalten. Während vom sechsten Buch nur wenige Fragmente vorliegen, die in Auswahl ebenfalls im Band XIX publiziert wurden (vgl. XIX, 264 – 295), hat Dilthey zum Kontext des fünften Buches – neben einigen kleineren Texten – einen großen, ebenfalls erstmals in Band XIX der GS veröffentlichten Entwurf einer erkenntnistheoretischen Logik verfasst (Leben und Erkennen, ca. 1892 /93; XIX, 333 – 388), der deutlich macht, dass die in Band VII der GS aus dem Nachlass veröffentlichten späten Entwürfe zu einer lebensphilosophischen Kategorienlehre (Die Kategorien des Lebens; VII, 228 – 245) keine Neuentwicklung des Spätwerks darstellen, sondern auf Konzeptionen der frühen neunziger Jahre zurückgehen, womit sich diese „hermeneutische“ Kategorienlehre – zur Überraschung aller Dilthey-Experten – als ein Projekt des „mittleren Dilthey“ erweist.



Thema des ersten Bandes der Einleitung ist eine fundamentale Analyse der Struktur der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit sowie der erkenntnistheoretischen und methodischen Struktur und des Zusam-







menhangs der Wissenschaften dieser Wirklichkeit sowie der Methoden, mit deren Hilfe sie diese Wirklichkeit erforschen.



Dilthey verfolgt nach eigener Aussage mit der Einleitung die Absicht einer Einführung in das Studium der Geisteswissenschaften, und zwar durch eine Erörterung ihrer Grundlagen und Methoden, und er will mit seinem Buch für diejenigen, die sich mit Geschichte, Politik, Rechtswissenschaft, politischer Ökonomie, Theologie, Literatur oder Kunst befassen, etwas Ähnliches leisten, was verschiedene Autoren seit Francis Bacons Novum organum (1620) für das Studium der Naturwissenschaften geleistet haben. Sein Buch „möchte dem Politiker und Juristen, dem Theologen und Pädagogen die Aufgabe erleichtern, die Stellung der Sätze und Regeln, welche ihn leiten, zu der umfassenden Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft kennen zu lernen, welcher doch, an dem Punkte, an welchem er eingreift, schließlich die Arbeit seines Lebens gewidmet ist“. (I, 3)



Geisteswissenschaften definiert Diltheys als „die Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand haben“ (I, 4), sie sind – anders gesagt – die „Wissenschaften des Menschen, der Geschichte, der Gesellschaft“. (I, 5)



Wichtig zum Verständnis von Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften ist somit der Hinweis, dass er unter Geisteswissenschaften nicht – wie heute üblich – primär die interpretierenden Wissenschaften, wie die Philologien, die Geschichtswissenschaften oder die Theologie, versteht, sondern vielmehr das ganze Spektrum jener Wissenschaften, die die kulturell-gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit untersuchen, also auch – und sogar vornehmlich – die Soziologie, die Politik-, die Rechts- und die Wirtschaftswissenschaften, d. h. die Wissenschaften, die heute unter den Sammelbezeichnungen „Sozialwissenschaften“ oder „Handlungswissenschaften“ zusammengefasst werden. Und in seiner Analyse dieser Wissenschaften zeigt sich – unerwartet für den „Hermeneutiker“ Dilthey –, dass das Konzept des Textes nicht das Paradigma des geisteswissenschaftlichen Objekts darstellt und die Methode der Textinterpretation nicht das Paradigma der Erkenntnis der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit ist. Dementsprechend steht die Interpretation von Texten, die man üblicherweise als „Kerngeschäft“ der Geisteswissenschaften be-

 







greift, und deren Methodologie, die Hermeneutik, nicht im Mittelpunkt der Einleitung. Sie wird erst im Spätwerk zum Thema seiner Analyse.



Mit seiner Einleitung verbindet Dilthey offenbar Erwartungen, die über bloß wissenschaftsphilosophische hinausgehen, zeigt er sich doch von der wachsenden Bedeutung der „Wissenschaften der Gesellschaft“ gegenüber den Naturwissenschaften überzeugt. Denn sie sind in Diltheys Augen Seismographen gesellschaftlicher Veränderungen und besitzen daher eine eminent praktisch-politische Relevanz. Den Grund dafür sieht Dilthey in folgendem: „Die Erkenntnis der Kräfte, welche in der Gesellschaft walten, der Ursachen, welche ihre Erschütterungen hervorgebracht haben, der Hilfsmittel eines gesunden Fortschritts, die in ihr vorhanden sind, ist zu einer Lebensfrage für unsere Zivilisation geworden.“ (I, 4)



Den endgültigen Begriff der Geisteswissenschaften, der sie als ein Ganzes definiert, sowie die definitive Abgrenzung dieses Ganzen von den Naturwissenschaften soll im zweiten Band der Einleitung vorgelegt werden. Das erste Buch versteht Dilthey als eine Art Propädeutik, die vorläufig und einführend die Bedeutung des Ausdrucks „Geisteswissenschaften“ und die Tatsachen benennt, auf die sich eine Abgrenzung dieser Wissenschaftsgruppe von den Naturwissenschaften gründet.



Dabei verdient festgehalten zu werden, dass Dilthey den Begriff „Geisteswissenschaften“, der durch ihn und sein Werk Karriere macht, durchaus nicht ohne Vorbehalte verwendet. Für die Verwendung dieses Begriffs spricht in Diltheys Augen aber einmal, dass er durch die Schielsche Übersetzung der Millschen Logik weite Verbreitung gefunden hat und dadurch gewohnt und allgemein verständlich geworden ist, und zum anderen, dass dieser Begriff im Vergleich zu Alternativen wie „Kulturwissenschaften“, „Sozialwissenschaften“ etc. der am wenigsten unangemessene ist. (Vgl. I, 6)



Das entscheidende Motiv, warum man üblicherweise diese Wissenschaften der menschlich-gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit, also der Kultur im weitesten Sinne, als Einheit begreift und von denen der Natur abgrenzt, reicht „in die Tiefe und Totalität des menschlichen Selbstbewußtseins“. (I, 6) Denn der Mensch findet in seinem Selbstbewußtsein „eine Souveränität des Willens, eine Verantwortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, alles dem Gedanken zu unterwerfen und







allem innerhalb der Burgfreiheit seiner Person zu widerstehen, durch welche er sich von der ganzen Natur absondert“. (Ebd.) Mit einem Wort Spinozas bezeichnet Dilthey diese nur durch innere Wahrnehmung gegebene unabhängige geistige Welt innerhalb des Reichs der Natur als „imperium in imperio“. (Ebd.; vgl. auch I, 385 und 388) Von dem Reich der Natur als „Zusammenhang einer objektiven Notwendigkeit“ unterscheidet der Mensch so ein „Reich der Geschichte, in welchem, mitten in dem Zusammenhang einer objektiven Notwendigkeit, welcher Natur ist, Freiheit an unzähligen Punkten dieses Ganzen aufblitzt“. (I, 6) In diesem Reich der Geschichte bringen die „Taten des Willens durch ihren Kraftaufwand und ihre Opfer wirklich etwas hervor, erarbeiten Entwicklung, in der Person und in der Menschheit“. Dies steht im Gegensatz zu dem „mechanischen Ablauf der Naturveränderungen, welcher im Ansatz alles, was in ihm erfolgt, schon enthält“. In der Natur findet sich so nur die „leere und öde Wiederholung“. (Ebd.)



Grundbedingung einer solchen Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften ist die Annahme der Möglichkeit einer so genannten „inneren Erfahrung“, die der äußeren, d. h. sinnlichen, Erfahrung gegenübersteht, selbstständig ist und nicht auf diese zurückgeführt werden kann. Durch die Differenzierung zweier Erfahrungsweisen lassen sich zwei Tatsachenkreise voneinander abheben: dem durch die Sinne gegebenen und nur aus dies

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