Das Modell des Konsequenten Humanismus

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Unerschütterliches

Fundament aller Erkenntnis:

Anschauungen a priori

Wirklichkeit und Abbildung


Johann Wolfgang von

Goethe, 1749–1832

Die Vorstellungen im menschlichen Gehirn werden aktiv hervorgebracht und sind nicht bloß Spiegelungen der Außenwelt. Visuelle Bilder etwa sind das Produkt der Verarbeitung einfallender elektromagnetischer Strahlung. Wie synthetisch das Bild ist, illustriert die Vertauschung durch eine Operation der Sehnerven eines Chamäleons: danach wirft es seine Zunge exakt in die Gegenrichtung der Beute. Die Illusion ist perfekt: Das Subjekt hält sich für einen unbeteiligten Zeugen der Anwesenheit der Gegenstände und verlässt sich auf das konstruierte Bild in unbeschränkter Selbstverständlichkeit. Goethe hingegen hat sich »beim Betrachten der Natur … unausgesetzt die Frage gestellt: ist es der Gegenstand, oder bist du es, der sich hier ausspricht?«

Für eine Fotografie braucht es Fotopapier, dessen Moleküle auf Wellenlängen von einfallender elektromagnetischer Strahlung spezifisch reagieren, zum Beispiel auf 400 Nanometer so, dass violettes Licht reflektiert wird. Aber Mona Lisa kann auch durch geeignete Gräser auf einem Feld dargestellt, oder ein Straßenverlauf mit der großen Zehe in den Sand gezeichnet werden. Für ein Bild braucht es ein Substrat, und es kommt nicht drauf an, was dieses selbst ist; im Bild braucht es eine Ordnung unter den Bildpunkten. Auf einer Fotografie beispielsweise gibt es keine räumlichen, sondern bloß zweidimensionale Relationen, die das Auge mit Hilfe der Gesetze der Perspektive zu räumlichen Gegenständen rekonstruiert. Eine Zeichnung im Sand, »da ist Rom und da Paris«, impliziert Maßstab und NordSüdAchse; bei der Bildfolge eines Films braucht es zusätzlich eine zeitliche Ordnung.


Thomas von Aquin,

1225–1274

Dies gilt nicht nur für visuelle Bilder, sondern für alle Vorstellungen: Wie immer das menschliche Gehirn Bilder konstruiert, sie müssen verlässlich durch die vorgestellte Welt helfen. Thomas von Aquin bringt es auf den Punkt: »Das Ding im Verstand wird nach der Weise des Verstandes – und nicht nach der Weise des Dinges aufgenommen.«

Wenn eingesehen wird, dass

–Raum nur durch Bewegung – also in der Zeit, Zeit ebenfalls nur durch Bewegung – also im Raum erfahren werden können,

–nur Körper solche »Erfahrungen« machen können,

–Körper dadurch gekennzeichnet sind, dass sie permanent (in der Zeit) und undurchdringbar (im Raum) sind,

so ist das kein Zirkelschluss, bei dem das Vorausgesetzte schon das zu Beweisende enthält, sondern es drückt sich die Natur des Darstellungsvorgangs aus, in der es bloß um die Übereinstimmung von Relationen geht. Körper, Raum und Zeit sind nicht die Wirklichkeit, sondern die phylogenetisch bereitgestellten Mittel, um die Vorstellung der Wirklichkeit hervorzubringen.

Die grundsätzliche und buchstäbliche Unbegreifbarkeit von Raum und Zeit führte Kant 1781 in die Philosophie als »Anschauungen a priori« ein: »Raum ist keine Erfahrung, da alle räumliche Erfahrung die Vorstellung von Raum voraussetzt.« Und: »Zeit ist nichts als die subjektive Bedingung, unter der alle Anschauungen in uns stattfinden können.«

Mit »Körper«, in seinem Sprachgebrauch »Substanz«, tat sich Kant schwer. Er stellte zwar einen »Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz« auf: »Alle Erscheinungen sind in der Zeit … in [ihnen] muss das Substrat anzutreffen sein … [welches das] Beharrliche ist … Also ist in allen Erscheinungen das Beharrliche der Gegenstand selbst …« Die dieser SubstanzZeitBeziehung (Permanenz) analoge Verbindung zwischen Substanz und Raum (Undurchdringbarkeit) stellte er jedoch nicht her. Ihm fehlte dazu die AtomismusIdee, die alle Materie als aus kleinsten Einheiten zusammengesetzt deutet. Deshalb konnte er Substanz in ihrer »Mannigfaltigkeit der Erscheinung« nicht als Anschauung a priori einstufen, sprach aber darüber, als ob.

Kants Mühe mit dem Substanzbegriff ist kein Zufall, denn die Physik kann auch nicht sagen, was Substanz, in ihrem Fall »Masse«, ist. Wie »schwer« im Sinn von substantiell eine Masse ist, erkennt man an der Kraft, mit der sie die Erde anzieht: Masse mal Erdanziehung; und wie »träg« am Widerstand gegen Beschleunigung: Masse mal Beschleunigung. Gleichgesetzt fällt Masse heraus, was bedeutet: Die Beschleunigung ist gleich der Erdanziehung, die für alle Massen – ob Daunenfedern oder Bleikugeln – gleich ist. Damit ist nur das Schwerefeld der Erde konstatiert, nämlich die Wechselwirkung von Massen – nicht was Masse ist.

Physik nimmt Masse einfach als gegeben hin, leitet aus ihrem Verhalten Kraftfelder ab und kleidet diese mathematisch in Feldtheorien. In allen Feldtheorien verborgen ist ein Kontinuum, bei Einstein das »Raum-Zeit-Kontinuum«. Konventionelle Physik geht demnach induktiv vor: Sie schließt von der Erscheinung auf ein Kontinuum.

Die deduktive Physik geht den umgekehrten Weg: von Kontinuum zu Masse als Dynamik davon. Die Konstituenten dieses Kontinuums sind reine Körper, definiert als permanente, undurchdringbare Volumina, Gegenstücke zu leerem Raum und durch nichts Weiteres gekennzeichnet, weshalb die deduktive Physik »Körper« als dritte Anschauung a priori zu »Raum« und »Zeit« hinzufügt. Damit benötigt sie für die Darstellung der materiellen Welt nur das Koordinatensystem, das durch Raum und Zeit aufgespannt wird, sowie Körper darin und leitet daraus alle materiellen Erscheinungen ab.

Die drei Anschauungen a priori haben eine Entsprechung in den drei Fundamentalkonstanten der Physik, was Philosophie wie Wissenschaft darin bestärken würde, dass sie die Basis für alle Erkenntnis bilden – wenn nicht vor hundert Jahren die Relativitätstheorie (RT) mit Vorstellungen gekommen wäre, die die Anschauungen a priori für nichtig erklärte: mit sich dehnender Zeit, sich dehnendem und krümmendem Raum und mit Masse, die mit eigener Geschwindigkeit anwächst – bei Lichtgeschwindigkeit ins Unendliche.

Die triumphale experimentelle Bestätigung der Voraussagen Einsteins entzog der Philosophie den sicheren Boden. Um diesen wiederzugewinnen, ist eine Auseinandersetzung mit der RT vonnöten. Da das Bewusstsein von Raum und Zeit als vom eigenen Dasein unabhängigen Dimensionen bei Kindern nicht von Anfang an ausgebildet ist, ist zuvor zu betrachten, wie dieses sich als Abstraktions und Objektivierungsleistung einstellt.


Deduktive Physik

Was hat der davon, der weiß, wie Materie gedacht werden kann? Einmal wird sein natürlicher Reflex, der alles erklärt haben muss, beruhigt. Er kann darauf aufbauen und sich über wenige Stufen »Leben« erklären. Er kann »Geist« verstehen, dessen Essenz zwar das Materielle überschreitet, jedoch Struktur von Materie ist. Er ist schließlich von aller Spekulation befreit und frei, mit auf unerschütterlichem Grund erkannten Gesetzmäßigkeiten seine Vorstellung der Welt aufzubauen.

Erwerb der Raum-Zeit-Begriffe

Mit der Freiheit der Bewegung entsteht das Bedürfnis, den Freiraum dafür zu erkunden. Dabei kommt es nur auf die Unterscheidung »Freiraum« oder »Undurchdringbarkeit« an, nicht darauf, was das undurchdringbare Hindernis ist.

Die ersten Tast-Erfahrungen des Säuglings konstatieren Undurchdringbarkeit: Ist ein Körper im Weg der Händchen oder nicht? Seine Spiele mit Klötzchen lehren ihn einzusehen, dass nicht zwei denselben Raum einnehmen können, wie umgekehrt, dass eines nicht an zwei Orten zugleich sein kann. Mit acht Monaten hat er die Permanenz verinnerlicht: Versteckt man Gegenstände unter einer Decke, sucht er sie; zuvor noch hatte er sich einfach etwas anderem zugewandt.

Raum manifestiert sich zunächst nur als Distanz vom Kind zu einem Gegenstand, später erweitert sich die Perspektive über die Einsicht in Längenunterschiede. Bezüglich Zeit gibt es zunächst früher und später, schneller und langsamer, länger und kürzer. Wenn eine von zwei parallellaufenden Spielzeugeisenbahnen schneller fährt, sagt das Kleinkind, diese komme weiter – was es sieht; es kann aber nicht ausdrücken, diese käme früher ans Ziel.

Eine objektive Zeit und einen objektiven Raum, je von seiner Anwesenheit unabhängig, rechnet ein Kind erst mit sieben, acht Jahren hoch – und kann fortan Raum und Zeit nie mehr wegdenken. Sie sind unentrinnbar, und doch war die Philosophie schachmatt, als das Experiment von 1919 während der Sonnenfinsternis in England die Mathematik Einsteins bestätigte, die er als Folge von Dehnung und Krümmung von Raum und Zeit auslegte, was aus der Sicht der deduktiven Physik unnötig ist.

Fundamentalkonstanten

Induktive Physik stellt die materielle Welt wohl in Raum und Zeit dar, aber statt der Dimension »Körper« behilft sie sich mit »Masse«.

Sie definiert Masse über ein bestimmtes Volumen einer bestimmten Substanz: ein Liter Wasser sei ein Kilogramm, und alle Substanz, die so träg und so schwer ist, auch.

Alles, was Physik aussagt, sagt sie in den drei Dimensionen Länge (für Raum) in Meter m; Zeit in Sekunden s; Masse in Kilogramm kg. Elektrizität ist mit Masse über die dimensionslose Feinstrukturkonstante α verbunden und repräsentiert keine zusätzliche Dimension. Ebenso, wie sie sich in drei Dimensionen ausdrückt, findet sie drei Fundamentalkonstanten1:

 


Meter, Sekunde und Kilogramm sind arbiträre Maßstäbe: ein 40’000’000stel des Äquatorumfanges, ein 86’400stel eines Tages, Trägheit und Schwere von einem Liter Wasser – hingegen sind die Fundamentalkonstanten c, G, ħ Tatsachen, die unabhängig von den Maßstäben der Physik sind, was sie sind. Hätten sie andere Werte, sähe die Welt anders aus: Elementarmassen wären größer oder kleiner, oder es gäbe gar keine. Die Gravitation wäre so stark, dass alle Himmelskörper zu einem Klumpen zusammengezogen würden, oder so schwach, dass keiner zusammenhielte. Die quantenmechanischen Interferenzen wären so schwach, dass die Elektronen in die Atomkerne stürzten und somit keine Moleküle und schon gar nicht Leben entstünde etc.

Da in der deduktiven Physik die Fundamentalkonstanten die Eigenschaften sind, die das Kontinuum in Raum und Zeit kennzeichnen, und da sie alle Materie aus der Dynamik dieses Kontinuums herleitet, sind alle Erscheinungen auf Anschauungen a priori zurückgeführt und werden damit »auf die Weise des Verstandes«von Aquin aufgenommen.

Raum und Zeitkoordinaten laufen ins Unendliche, was ihre Natur als Anschauungen hervortreten lässt. Das Universum hingegen, das in diesen Koordinaten abgebildet wird, erweist sich als endlich. Im Nachhinein können die beiden Giganten versöhnt werden: Newtons »absoluter Raum« und »absolute Zeit« beziehen sich auf das Koordinatensystem aller Vorstellung – Einsteins »absolute Lichtgeschwindigkeit« auf das darin vorgestellte Kontinuum.

Irritation durch die Relativitätstheorie

Kants Anschauungen a priori sind die grundlegendsten Einsichten in Denken, die Philosophie hervorgebracht hat, zugleich sind sie die am hartnäckigsten verweigerten: Denker legen immer von neuem Spekulationen vor, insbesondere darüber, was Zeit sein könnte.

1905 führte Einstein die Begriffe »Raumdehnung«, »Zeitdilatation« und »Raum-Zeit-Kontinuum«, zehn Jahre später auch noch »Raumkrümmung« ein und stiftete damit Verwirrung und Erlösung zugleich: Verwirrung für diejenigen, die die Anschauungen a priori begriffen glaubten; Erlösung für die anderen, denn nun gab es etwas weit Unbegreiflicheres, also musste dies die Wahrheit sein.

Schon die Spezielle Relativitätstheorie (Spezielle RT) übersteigt alle Anschauung gleich zu Beginn der Herleitung: Erst wird für Abstände ein »Vierervektor« eingeführt, dann um einen imaginären Winkel gedreht, später aus formalen Gründen geschlossen, Impuls sei auch ein Vierervektor (mit Zeit in der vierten Dimension) – und nach einer Kette abstrakter Operationen ist E = mc2 da. Ein ETH-Professor* zu seinen Studenten: »Ihr geht da Schritt für Schritt durch, akzeptiert, was rauskommt, und versteht nichts. Niemand versteht das.«

In seinen Vorlesungen in Princeton im Mai 1921 mokierte sich Einstein darüber, dass die Physiker die »Begriffe über Raum und Zeit ... aus dem Olymp des a priori herunterholen mussten ...« Dabei verwechselte er augenfällig »a priori« mit »absolutum« und verkannte, dass Kants Anschauungen a priori eine ungleich einschneidendere Relativität feststellten als seine Relativitätstheorie, nämlich jene zwischen Denken und Wirklichkeit – nicht bloß zwischen relativ zueinander bewegten (Spezielle RT) oder in Wechselwirkung stehenden Körpern (Allgemeine RT).2


Albert Michelson, 1852–1932 ; Edward Morley,

1838–1923

Erkenntnis wächst aus der Lösung von Widersprüchen, und der Widerspruch, den Einstein zuerst löste, war dieser: Wenn sich eine Lichtquelle auf einen Beobachter mit Geschwindigkeit v zubewegt, und das Licht mit Lichtgeschwindigkeit c von der Quelle weggeht, dann erwartet der Beobachter intuitiv eine Ankunftsgeschwindigkeit von c + v. Aber gemessen wurde in den 1880er Jahren bekanntlich nur c (Michelson und Morley). Wie löste Einstein den Widerspruch? Sein erster Schritt enthält schon alle Irritation der späteren Resultate: Er sagte sich, wenn doch das Verhältnis von Weg zu Zeit für Licht immer c ergebe, müssten halt Weg und Zeit »relativiert« werden. Statt, wie Newton Raum und Zeit, setzte er also c absolut. Dann probierte er aus, wie sich ein Koordinatensystem K’ mit Ursprung in der Lichtquelle zum Koordinatensystem K des Beobachters verhalten müsse, damit Licht sowohl mit c von dort ausgesandt als auch mit c hier empfangen würde.

Seine Folgerung war, dass Raum und Zeit um die Lichtquelle kontrahiert seien; die Konsequenzen gehen jedoch noch viel weiter: Masse nehme mit v zu und damit auch der Impuls (Impuls = Masse mal Geschwindigkeit). Zu einem Impuls3 gehört eine Energie, und ein Dreisatz liefert unmittelbar das Jahrhundertergebnis: nämlich dass diese Energie auch in Ruhe nicht null ist, sondern das berühmte ERuh= mc2 .4

Einsteins Verblüffung müsste groß gewesen sein, wenn er eingesehen hätte, dass sein Resultat von Newtons Formulierung des Impulssatzes stammt: Hätte Newton bloß »Kraft gleich Masse mal Beschleunigung« geschrieben, wäre Einstein nicht weit gesprungen. Er hatte also Glück, denn einen experimentellen Nachweis, dass die intuitive Formulierung Newtons gilt, gab es 1905 nicht.5 Die Verblüffung war allerdings auch so schon groß, weil nun kinetische Energie als reine Zunahme von etwas zu verstehen war, das man in keiner Weise auf der Rechnung hatte: Ruhenergie mc2. Sie ist ein Fingerzeig dafür, dass Masse Dynamik ist, nicht Korpuskel.

Der einfache Grund dafür, dass Licht von jeder Quelle mit c ausgestrahlt und von jeder Masse mit c empfangen wird, gleichgültig, ob sie sich gegeneinander bewegen, liegt aus Sicht der deduktiven Physik darin, dass

–das Kontinuum unmittelbar an der Oberfläche einer Masse ruht (so ruht auch die Luft an der Ohrmuschel trotz stärkstem Wind – er bläst nicht in die Ohrmuschel hinein und hindurch),

–die Ausbreitungsgeschwindigkeit von jeglichen Störungen (wie Wellen es sind) im ruhenden Kontinuum c ist.


Hendrik Antoon Lorentz,

1853–1928

Dennoch darf für die Frequenz der Lichtwellen, wenn sie beim Beobachter eintreffen, nicht einfach die lineare Addition erwartet werden (der Originalmenge an Signalen je Sekunde plus die durch das Heranrücken gewonnenen6), denn das in Ruhe kugelförmige Feld einer Masse wird kontrahiert, wenn sie sich mit v relativ zum Kontinuum bewegt – wie eine Quelle im Gegenstrom. Dadurch wird die Wellenlänge der Strahlung verkürzt, nämlich um den Faktor der Lorentz-Kontraktion, und die Frequenz wird umgekehrt proportional erhöht, was zum Dopplereffekt7 führt, bei dem die Frequenz rascher als linear ansteigt und für v → c unendlich wird (entsprechend einem Überschallknall). Damit lassen sich alle Ergebnisse der Speziellen Relativitätstheorie verstehen und ebenso einige der Allgemeinen, wenn in den Formeln das kinetische Potential durch das Gravitationspotential ersetzt wird. Es reicht also die Annahme eines Kontinuums und die Darstellung einer Massendynamik darin, um die mit Denken inkompatible Idee zu vermeiden, Raum und Zeit würden sich dehnen und krümmen.

Die Voraussagen der Relativitätstheorie treffen zu, aber Einsteins Deutungen der korrekten mathematischen Ergebnisse als Dehnung von Raum und Zeit sind zu ersetzen:

–nicht die Zeit der bewegten Masse läuft langsamer, sondern ihre Signale zum Beobachter sind länger unterwegs;

–nicht der Raum dehnt oder kontrahiert sich, sondern das Kontinuum im Raum, analog der Luft, die einen Körper umströmt;

–nicht die Masse nimmt mit Geschwindigkeit zu, sondern ihre Wirkung – etwa das Prasseln des Regens bei hoher Geschwindigkeit auf der Windschutzscheibe;

–Masse ist als Dynamik zu denken, wozu E= mc2 geradezu zwingt, und die Vorstellung von buchstäblich undenkbaren Korpuskeln ist aufzugeben.


Lorentz-Kontraktion

Letztlich formalisiert die Relativitätstheorie nur die Relativität von Wechselwirkungen: Nähert sich ein Motorrad einem Beobachter, registriert er höhere Töne, entfernt es sich, tiefere. Mehr gibt die RT für die Philosophie nicht her, hingegen läutete sie in der Physik eine neue Epoche ein.

Irritation durch die Quantenmechanik

Am Anfang der Bewusstseinsentwicklung eines Säuglings steht ungerichtetes Bewegen der Glieder, bis eine Wirkung erzielt wird, die nach einigem Wiederholen als Aktion-Wirkung-Schema gespeichert wird. Die Aktion entspringt keinem physiologischen Bedürfnis, sondern einem Reflex, der das Gehirn trainiert. Das Schema enthält die Vorstellung vor der Auslösung der Aktion, so wie sich der Vogel die Landung »vorstellt«, bevor er sich auf einem Ast niederlässt.

Auf diese Weise registriert das Kind eigene Absichten, und mit neun Monaten erkennt es seine Intentionen in einem solchen Grad, dass es anderen Menschen ebensolche unterstellt. Ja, es versteht sie als die seinen Intentionen analogen intentionalen Wesen schlechthin. Dies manifestiert sich im Zeigen auf Dinge und Personen, also im Mobilisieren der Aufmerksamkeit dieser Wesen, was selbst bei den aufmerksamsten andern Primaten nicht zu beobachten ist.Tomasello Im Analogieschluss unterstellt es später allen Vorgängen Absichten, wird einmal sagen: »Der Ball will zu mir«; es sucht Intentionalität überall: »Warum will der Kirschbaum blühen?« Und es bringt beständig UrsachenHypothesen hervor: »Der Mond scheint, damit wir den Weg nach Hause finden.« Entsprechend beginnt die Geistesgeschichte: Mythologien erfinden intentionale Wesen als Antwort auf alle Fragen nach Ursachen und Zwecken, Religionen antworten mit Schöpfungsgeschichten.

Das Kind der westlichen Zivilisation lernt allmählich, Intentionalität in Kausalität zu transponieren und die Wirklichkeit aus der Wirklichkeit zu erklären. Dies ist der gewaltige Schritt, den die Vorsokratiker mit Kausalitätsprinzip: »Alles hat eine Ursache« und Kausalitätsgesetz: »Gleiche Ursachen haben gleiche Wirkungen« machten.

Eine der ersten experimentellen Erfahrungen des Kindes von Kausalität ist, dass der Körper, der zuerst ist, weggebracht werden muss, wenn ein anderer seinen Platz einnehmen soll. Kant hielt Kausalität für a priori; sie ist es jedoch insofern nicht, als sie in letzter Regression darauf zurückzuführen ist, dass Raum nur durch einen Körper eingenommen werden kann, weshalb sie in den drei Anschauungen a priori Raum, Zeit, Körper schon enthalten ist. Kausalität beschreibt Abfolgen von Zuständen, also von stehenden Bildern, deren frühere als Ursachen und die späteren als Wirkungen bezeichnet werden. Die stehenden Bilder sind subjektive Konstrukte – objektiv betrachtet »fließt alles«, wird eines aus dem andern, und in diesem Sinn ist alles, was geschieht, von vornherein »kausal«.

Anfang des 20.Jahrhunderts drangen physikalische Experimente in atomare Dimensionen vor und entdeckten eine a-kausale, unerklärliche Welt. In den 1920er Jahren entwickelte eine Handvoll genialer Physiker die Quantenmechanik (QM), mit der all die Wahrscheinlichkeiten und unerklärlichen Zustände berechnet werden können – nicht aber begründet, weshalb die Unbestimmtheiten für objektiv erklärt und die Wahrscheinlichkeitsrechnungen in den Rang von fundamentalen Naturgesetzen gehoben wurden. Damit wurde die Erwartung von Kausalität an der Basis aller Erscheinungen schachmatt gesetzt. Die Philosophie war baff, und die herkömmliche Physik wurde zusätzlich zur RT um eine weitere kolossale Dimension erweitert.

In der deduktiven Physik gehen alle quantenmechanischen Tatbestände aus Interferenzen der Wellen hervor, die von Massen abgestrahlt werden, und die das Kontinuum überträgt. Die bestimmten Werte stellen sich als Resonanzen heraus – wie Schwingungen in Musikinstrumenten –, und die Unbestimmtheiten als Folge davon, dass Wechselwirkungen in Wellen erfolgen und nicht zu erkennen ist, wo sich die Massen, von der sie ausgingen, in der Welle grad befanden. Damit begründet die deduktive Physik alle Erscheinungen kausal; jedoch reichen die Informationen in atomaren Abständen nie für mehr als die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten, wofür Quantenmechanik die perfekten Instrumente liefert.

 

Philosophen haben auf den quantenmechanischen Tatbeständen »kühne Genieschwünge«Ausdruck Kants vollführt, bis hin zur Erklärung des Freien Willens, obwohl Quantenphänomene nicht erheblicher sind als anderes, das nur statistisch erfassbar ist wie das Verhalten der Moleküle von Gasen (Thermodynamik) oder Verkehr. Im Alltag erscheint vieles als a-kausal, also »zufällig«: Man trifft an entlegenem Ort den Nachbarn, oder der Blitz schlägt ein; das Zufällige daran ist, dass man die Weltreise des Nachbarn und die elektrischen Entladungen am Himmel nicht auf der Rechnung hatte. Beides hatte Ursachen, keines allerdings Intention, was im Alltag leicht verwechselt wird. Auch die thermischen Bewegungen der einzelnen Moleküle eines Gases haben Ursachen, nur sind sie rechnerisch nicht zu bewältigen. Populationen davon jedoch sind es und führen zu den thermodynamischen Gesetzen mit den Durchschnittsgrößen Dichte und Temperatur.

Häufig werden Ursachen auf zu hoher Ebene gesucht: Es gibt beispielsweise keine »Verkehrsursache«, nur Ursachen für die einzelnen Verkehrsteilnehmer. Ebenso wenig gibt es eine »Menschen-Ursache«, sondern nur quasi unendlich viele Evolutionsschritte zu diesem hin.

Die Einordnung als »Zufall« gründet also stets auf einem Mangel an Kenntnis oder ist das, was man nicht auf der Rechnung hatte oder das nicht Berechenbare (Einstein: »Das, wobei unsere Berechnungen versagen, nennen wir Zufall«) oder das, was als Hyperstase aus einem Substrat geworden ist, das unter der Erscheinung liegt.

Kausalität ist nicht gleichzusetzen mit Determination (»anonyme Intention«). Dafür bräuchte es einen Plan, der das künftige Ergebnis im Voraus »weiß« und anstrebt – für das Kleinste wie für das Universum als Ganzes. Aber solche Pläne sind undenkbar, weil sie mit grundlegender Erkenntnis im Widerspruch stünden, insbesondere mit dem Hervorgehen von Denken aus biologischer Datenverarbeitung und allem Geist aus Denken.

Könnte es nicht eine den Menschen verborgene Macht im Universum geben, die wirkt, verbindet, lenkt, dafür sorgt, dass jemand in London mitten in der Nacht aufschreit und es sich hinterher herausstellt, dass in diesem Augenblick der Bruder in Alaska gestorben ist etc. Unerklärlich ist vieles, aber es ist nichts gewonnen, dieses durch Unerklärtes zu erklären (etwa »es muss noch etwas geben«). Es bleibt unerklärlich, bis es geklärt ist. Es kann so viel Verborgenes geben, als man sich vorstellen will. Solange es verborgen bleibt, kann es nicht zur Erklärung dienen. Das Gebäude der Erkenntnis enthält jederzeit nur das, was bis dahin erkannt wurde. Alle Rede darüber hinaus ist leer.

Fernwirkung, Kontinuum

Werden Kinder gefragt, woraus die Sonne bestehe, sagen sie etwa: »Aus ganz kleinen leuchtenden Wolkenstücken«; oder wo der im Wasser aufgelöste Zucker nun sei: »So kleine Teilchen, dass man sie nicht sieht.« Die Vorsokratiker argumentierten ähnlich: Sie gelangten zum unteilbar Kleinen, aus dem alles zusammengesetzt sei. »Apeiron« hieß dies bei Anaximander, Heraklit fügte hinzu, dieses sei stets im Fluss, und Demokrit ergänzte, alles Reale bestünde aus Zusammensetzungen davon. Im Nachhinein ist zu erkennen: Das Kontinuum war keine Marotte von Anaximander, Plotin, Descartes oder Einstein, sondern Ausdruck der Natur des Denkens.

Einstein nahm offensichtlich an, Descartes’ Äther sei starr mit Newtons absolutem Raum verbunden, was sich nicht verträgt mit der »Konstanz der Lichtgeschwindigkeit«, weshalb er die Idee eines Äthers ablehnte. Wird zugelassen, dass der Äther (oder wie immer das Kontinuum genannt wird) auch strömen kann, gibt es keinerlei Unverträglichkeiten zu den Anschauungen a priori mehr. Spätestens angesichts der Expansion des Universums kommt man um die Einsicht des Strömens nicht herum.


Anaximander, um 611–545 v. Chr.; Heraklit, um 545–475 v. Chr.; Demokrit, 460/459–400/380/370 v.Chr.

Zwingend wird es, den Raum als mit einem Kontinuum angefüllt zu denken, bei der Frage nach Fernwirkungen: Wenn A auf B wirken soll, muss A mit B in Berührung sein. Dies gelernt zu haben, demonstriert der Säugling, wenn er an einer Unterlage zieht, auf der ein Gegenstand lagert, den er haben möchte. Die Übertragung von Wirkung schrieb Descartes seinem Äther zu: dessen Konstituenten würden aneinanderstoßen und so Impulse weitergeben. Alle Feldtheorien sagen nur das: Das Feld verbindet Ursachen und Wirkungen durch Kontakt in unendlich kleinen (mathematisch: »infinitesimalen«) Abständen.


Albert Einstein, 1879–1955; Isaac Newton,

1643–1727

Das Kontinuum ist seit Anaximander ein Analogon zu Luft, einem Gas aus Molekülen mit Potential (manifest in ihrer ununterbrochenen Bewegung) und Freiraum. Das Kontinuum ist und bleibt das nicht weiter reduzierbare »Ureine«, quasi der Sand im Sandkasten, aus dem Kinder Burgen bauen.

Die Vorstellung vom leeren Raum braucht nicht nur zwingend permanente undurchdringbare Körper – sonst wäre der Raumbegriff unnütz –, sondern diese können und müssen sich bewegen, sonst wäre der Zeitbegriff unnütz. Das Kontinuum füllt den Rahmen, den die Anschauungen a priori vorgeben.

Wäre das Kontinuum ein Gas, so stünden die Fundamentalkonstanten c, G und ħ für Temperatur, reziproke Dichte und freie Weglänge. Noch einmal: Die Konstituenten haben nicht schon Masse, nur Volumen, Abstand voneinander und Bewegung. Masse wird erst durch deren Dynamik konstituiert.

Was heißt dann »Sein«?

Wenn alle Erscheinungen auf Körper zurückzuführen sind, ist deren »Sein« durch das Sein bestimmt, das der Anschauung a priori »Körper« zugeordnet ist. Mit Permanenz und Undurchdringbarkeit ist schon alles gesagt, und »Sein« stellt sich als durch die Anschauungen a priori vorweggenommen heraus.

Was ist Sein von Geist? »Materiell« ist Geist Information, und deren Essenz liegt gerade nicht im Körperlichen, sondern in Strukturen. Wird eingesehen, dass mit Undurchdringbarkeit von Körpern nicht ein beliebiger Tatbestand gemeint ist, sondern eigentlich eine Wechselwirkung, nämlich insofern, als Körper andern Körpern den Weg versperren, diese herumschubsen oder von diesen herumgeschubst werden – wie Kleinkinder Körper erfahren –, so wird im Analogieschluss klar, dass auch »Sein« von Information deren Wirkung meint. Information ist die Struktur, die sich mitteilt.

Die Physik spricht von elektrischer Ladung, kann aber nicht angeben, was Ladung konstituiert, sondern misst Wechselwirkungen, denen sie als Ursache Ladung unterstellt. Ladungen sind Eigenschaften von Elementarteilchen und haben keinerlei isolierbare Existenz; Säure ist ihre saure Wirkung; durch die Mauer, die die Fledermaus wahrnimmt, kann sie nicht durch; »Haus« ist seine bergende Funktion. Das Dasein eines Menschen ist sein Wirken und Dulden – nicht seine Biomasse.

All dies abstrahiert: »Sein« heißt »in Wechselwirkung stehen«. »Sein« erwächst dem Sprachgebrauch: Man sagt von einem Gegenstand, den man objektiviert, also vom Bezug auf sich selbst löst, er »sei«. Der Gegenstand ist Teil des Inventars der Welt des Sprechers. Er müsste eigentlich sagen, er hätte sich den Gegenstand gemerkt. Sein kann denn auch in jedem Satz ersetzt werden: Beeren sind/leuchten rot; Schüler sind/halten sich im Schulhaus auf; zwei und zwei sind/ergeben vier. Dass etwas sei, als Projektion des Sprechenden, ist, wie alles Sprachliche, allein durch Zweckmäßigkeit begründet.

Erkenntnisgrenzen

Wer sich der Wirklichkeit stellen will, muss auch sein Erkenntnisvermögen als Teil objektivierbarer Wirklichkeit betrachten, was mit der Einsicht anfängt, dass Kontinuum, Raum und Zeit nicht Teil des Bildinhaltes sind, nicht die Wirklichkeit sind, sondern Material und Rahmen für deren Vorstellung – Sand und Sandkasten, womit ein Modell der Welt gebaut werden kann.

Die Anschauungen a priori sind hinzunehmen und weiter nicht zu deuten. Warum dann dieses Aufheben darüber? Weil der Rahmen für jegliches Philosophieren, den sie abstecken, nicht zu überschreiten ist, auch wenn einer über »außerhalb« nachzudenken meint. Die Philosophie war sich offenbar der Anschauungen a priori zu wenig sicher, um Einstein zurück zum Reißbrett zu bitten, als er mit Krümmung und Dehnung von Raum und Dehnung von Zeit kam. »Die Natur hat uns das Schachbrett gegeben, aus dem wir nicht hinauswirken können …«Goethe

Kopernikanische Wenden


Nikolaus Kopernikus,

1473–1543

Fragt man einen Dreijährigen, der einen Bruder hat, ob dieser auch einen Bruder habe, so antwortet er mit Nein, sie seien nur zu zweit. Erst ein Jahr später kann er die Beziehung von ihm zum Bruder von außen betrachten und damit objektivieren. Auf sich bezogen deuten Kleinkinder auch die Welt, wenn sie meinen, der Mond scheine, damit sie den Weg nach Hause finden. Die kognitive Entwicklung der Menschheit wie der Individuen ist gekennzeichnet durch zunehmende Lösung der Ansichten von eigenem Betroffensein.