Das letzte Steak

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»Mein Beileid. Ich – weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Was ist genau geschehen?«, fragte Josh.

Thomas zuckte die Achseln. »Sie sagen, es war ein einziger Stich ins Herz. Mehr weiß ich nicht.«

Josh starrte ihn mit großen Augen an. »Wie ist es passiert? Wann, wo?«

Wieder konnte er nur mit den Schultern zucken, worauf Josh rot anlief.

»Was sagen die Bullen?«

»Gar nichts oder sie wissen nichts.«

Josh warf seinem Vorarbeiter einen Blick zu, als wollte er ihm dafür die gebrochene Nase noch einmal polieren.

»Bullen«, knurrte der verächtlich. »Auf die kannst du dich nicht verlassen, aber wir werden die Bestie finden, die deine Felicity auf dem Gewissen hat. Das verspreche ich dir.«

Seine Hand verkrampfte sich zur Faust, als hätte er den Hals des Täters schon gepackt.

»Wie kommt Scotty klar?«, fragte Josh.

»Gar nicht, fürchte ich. Er mauert sich ein in seinem Zimmer und heult.«

»Ich sehe mal nach ihm.«

Er stieg hinauf. Thomas setzte sich mit Aaron an den Küchentisch.

»Bier?«, fragte er, obwohl es seit Tagen nur noch leere Flaschen im Haus gab.

Aaron schüttelte den Kopf. »Danke, nur keine Umstände. Was für ein elender Scheißtag!«

»Das kannst du laut sagen. Passt alles wunderbar zusammen: das Verbrechen, das Wetter und jetzt bin ich auch noch den Job los.«

»Das ist nicht wahr!«, rief Aaron aus.

»Leider schon. Die Firma ist pleite.«

Aaron schüttelte ungläubig den Kopf. »Pleite«, wiederholte er dumpf. »Und das an diesem Tag.«

Aaron war kein Meister der Rhetorik, doch Thomas verstand, was er damit sagen wollte.

»Eine Riesenschweinerei ist das«, rief Aaron aus, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen.

Sie saßen sich eine Weile schweigend gegenüber, bis Josh sich wieder zu ihnen gesellte, da klagte Aaron:

»Alles geht den Bach runter.«

»Scotty spielt auf seinem Computer«, sagte Josh mit einem Lächeln, das ihn aufmuntern sollte.

Tatsächlich war es das erste Mal, dass er den Computerspielen seines Sohnes etwas Positives abgewinnen konnte.

Josh wandte sich an seinen Vorarbeiter: »Was geht den Bach runter?«

»Thomas steht auf der Straße. Seine Bude ist pleite.«

Josh sah Thomas vorwurfsvoll an. »Warum sagst du denn nichts?«

»Was soll ich dazu sagen? Mir gehen jetzt andere Dinge durch den Kopf, wie du dir vorstellen kannst.«

Josh überlegte nicht lange. »Mach dir mal keine Sorgen um den Job«, beruhigte er. »Aaron kann einen guten Magaziner brauchen, nicht wahr?«

Die Frage war an den Vorarbeiter gerichtet. Der grinste erfreut und antwortete:

»Jederzeit. Du kannst morgen anfangen.«

Flüchtig streifte Thomas der Gedanke an einen üblen Scherz, doch Josh streckte ihm die Hand entgegen und fragte:

»Deal?«

Er schlug zögernd ein. »Ich weiß nicht, ob ich morgen schon …«

»Ach, war nicht so gemeint«, stellte Aaron klar. »Lass dir ruhig Zeit, aber ich rechne mit dir.«

»Ein Problem weniger«, lächelte Josh. »Siehst du, schon geht es wieder aufwärts.«

Er stand auf und zog das Telefon aus der Tasche, während er murmelte: »Jetzt wollen wir mal der Polizei Beine machen.«

Während des Gesprächs tigerte der Patron erregt durch die Wohnung, sodass nur Wortfetzen an den Küchentisch drangen.

»Sie wird nach London überführt«, erklärte er, als er sich wieder setzte. »Scotland Yard übernimmt den Fall. Wurde auch Zeit, dass die Profis übernehmen.«

Die Nachricht überraschte und verwirrte Thomas. »London?«, fragte er unsicher. »Was heißt das? Wann kann ich zu ihr?«

Josh klopfte ihm auf die Schulter. »Bald. Lass das nur meine Sorge sein. Ich mache ihnen Feuer unterm Hintern, dass ihnen Hören und Sehen vergehen, wenn sie schlampen.«

Er brauchte gern große Worte, doch der forsche Ton wirkte unter diesen Umständen beruhigend. Thomas traute ihm durchaus zu, selbst bei Scotland Yard etwas zu bewegen. Josh war nicht irgendwer. Er gehörte zum Jetset Norwichs, wo er seinen Landsitz hatte, und zu den besten Steuerzahlern Suffolks, wo seine Fabrik stand. Sein Einfluss auf Politik und Behörden war nicht zu unterschätzen.

Thomas fühlte sich jedenfalls wesentlich besser, nachdem er mit den beiden gesprochen hatte.

»Meinst du, er packt es?«, fragte Aaron, als Josh zu ihm ins Auto stieg.

Josh nickte schweigend.

»Schlimm für deinen Jungen«, murmelte Aaron.

Josh warf ihm einen warnenden Blick zu und sagte nur: »Du solltest dich in der Fabrik umhören – und am Hafen.«

»Darauf kannst du einen lassen. Wir kriegen das Schwein.«

Scotland Yard, London

Detective Chief Inspector Adam Rutherford eilte mit stummem Gruß an der Vorzimmerdame vorbei zur Tür von Chief Superintendent Whitney. Die Dame, die schon zwei Chiefs überlebt hatte, sprang entsetzt auf und rief:

»Halt Sir! Der Superintendent darf nicht gestört …«

Den Rest verschluckte sie, denn Adam betrat nach energischem Klopfen kurzerhand das Allerheiligste seines Vorgesetzten und Freundes.

»Eines Tages wirst du sie umbringen«, warf der ihm vor, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. »Kannst du dich nicht anständig anmelden wie alle andern?«

»Ich bin nicht alle andern«, brummte Adam. »Hast du zwei Minuten?«

»Die sind schon fast vorbei.«

Er staunte über die ausnehmend gute Laune seines Chefs. Ironie war sonst nicht seine Stärke, wie auch alle andern Formen von Humor. Er nutzte die Gelegenheit, um gleich den heiklen Punkt anzusprechen.

»Ich brauche zehn Leute.«

Ein Wolkenbruch braute sich auf Whitneys Gesicht zusammen, doch dann zog er die Mundwinkel hoch und fragte leichthin:

»Nur zehn?«

Sein Chef war heute wirklich nicht zu bremsen.

»Ich mache keine Witze«, sagte er bestimmt.

Whitney beugte sich vor und blickte ihn an wie sein Mathematiklehrer vor hundert Jahren nach einer verpatzten Arbeit. Ungeduldig fragte er:

»Erinnerst du dich an die Kürzung unseres Etats im Januar? Du musstest selbst zwei Leute entlassen.«

»Habe ich vergessen, mich dafür zu bedanken? Hör mal, ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst. Beim Chapham Killer hat sich gerade eine heiße Spur ergeben, in Felixstowe muss die ganze verdammte Fabrik vernommen werden, Hafenarbeiter, Anwohner, Autovermietungen, Taxifahrer und Wirte nicht zu vergessen. Das sind über fünfhundert Leute. Jetzt sollen noch vier meiner Männer die Drugs unterstützen. All das mit elf überarbeiteten Detectives, mich eingeschlossen. Es wird lange dauern.«

Whitney versuchte eine Weile, in seinen Gedanken zu lesen.

»Fünfhundert?«, fragte er schließlich verwundert. »Gibt es denn so viele Menschen in diesem gottverlassenen Felixstowe?«

Er wollte dem Superintendent die gute Laune wirklich nicht verderben, aber sein Problem musste jetzt gelöst werden. Ungeduldig wartete er auf Whitneys konstruktiven Beitrag.

»Ich kann keine zehn Detectives aus dem Hut zaubern, nicht einmal einen«, erklärte der schließlich zögernd, während er sein Gekritzel auf dem Notizblock eingehend betrachtete.

Was schließen wir daraus?, hätte Adam beinahe gefragt, doch er ließ Whitney weiter zappeln. Endlich legte sein Chef den Stift weg.

»Wie weit seid ihr mit den Dealern?«

Die Unterhaltung schwenkte in die richtige Richtung, dachte Adam erfreut.

»Meine Leute sind eben erst daran, sich einzuarbeiten.«

»Die sollen die Akten wieder zurückschicken. Ich sorge dafür, dass die Drogenfahndung allein klarkommt. Konzentriert euch auf die Tötungsdelikte.«

Adam erwiderte den vernichtenden Blick der Vorzimmerdame mit einem zufriedenen Lächeln. Sein Plan war aufgegangen. Whitney würde nach einer oder zwei Stunden auch begreifen, dass er keineswegs seinen Laden aufblähen, sondern sich nur auf den eigentlichen Job der Mordkommission konzentrieren und den lästigen Exkurs in die Drogenfahndung vermeiden wollte. Womöglich würde ihn die Geschichte eine gute Flasche Wein kosten. Ein angemessener Preis, fand er.

Ein Funke von Whitneys guter Laune war auf ihn übergesprungen, doch der erlosch sogleich wieder, als er sein Glashaus neben dem Büro der Detectives betrat. Draußen schien die Sonne, eine gelungene Überraschung in diesem Sommer, deshalb hatten sich die Jalousien automatisch geschlossen. Im kalten Kunstlicht machten seine Sukkulenten traurige Gesichter. Er ging ans Fenster, um seinen stacheligen Freunden etwas Trost zu spenden, doch sie mochten nicht zuhören. Die Lobivia weigerte sich weiterhin, ihre Blüte auszutreiben, als wäre ihr jede Freude am Leben vergangen.

»Irgendwie kann ich dich verstehen«, murmelte er.

Es musste sich etwas ändern, bloß wusste er nicht was. Er und sein düsteres Treibhaus am Rand des eisigen Großraumbüros lebten schon ewig in einer Symbiose, deren labiles Gleichgewicht niemand zu stören wagte, nicht einmal er selbst.

Nach und nach verließen seine Leute die Schreibtische. Es wurde Zeit für die Lagebesprechung im großen Sitzungszimmer. Unterwegs sammelte er die vier zur Drogenfahndung Verdammten ein. Sie nahmen die Nachricht mit freudestrahlenden Gesichtern auf. Vier glückliche Detectives an einem Tag – ungefähr vier mehr als im Durchschnitt.

»Wer zum Teufel isst Ölsardinen aus Blechbüchsen?«, fragte Pete, als er sich neben ihn setzte.

Pete Townsend gehörte zum Inventar seiner Abteilung. Als einfacher Sergeant besaß er mehr Autorität als die meisten Inspectors, dennoch wehrte er sich seit Jahren erfolgreich gegen eine Beförderung. Adam hatte nie wirklich verstanden, was ihn dazu bewog, auf höheres Gehalt und bessere Pension zu verzichten. Möglicherweise bildete er sich ein, als Inspector nicht mehr frisch von der Leber weg reden und fluchen zu dürfen.

 

Adam brauchte nicht zu antworten. Mad Barclay meinte giftig:

»Man sollte diesen Josh Sorin selbst zu Büchsenfutter verarbeiten.«

Adam pflegte eine ambivalente Beziehung zu seiner Pathologin. Sie hieß eigentlich Dr. Madison Barclay. Er kannte keinen besseren Gerichtsmediziner, doch ihr Spitzname war Programm. Hatte man das Pech, einen ihrer unkontrollierten Wutausbrüche zu erleben, konnte man sie durchaus für verrückt halten.

»Der Fabrikant aus Felixstowe?«, fragte er, um sie zu beruhigen.

»Arroganter Macho. Glaubt, mich mit seinen Beziehungen unter Druck setzen zu müssen. Ich kann’s nicht erwarten, diesen Idioten auf meinem Tisch zu haben.«

Machos zersägen und ausnehmen gehörte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, denn sie war selbst das weibliche Äquivalent dazu und eine akute Gefahr für den weiblichen Nachwuchs beim Yard, wie jeder wusste.

Die Uhr an der Wand zeigte auf zehn. Zeit, anzufangen. Er blickte in die Runde und legte sogleich die Stirn in Falten. Mit hochgezogenen Brauen fragte er:

»Wo steckt Cornwallis?«

Erst nach kurzem Zögern meldete sich ein blasser junger Mann:

»Sir, ich glaube, DS Cornwallis ist noch in Felixstowe.«

Adams Blicke brachten das bleiche Gesicht zum Glühen.

»So, glauben Sie?«, fragte er lauernd. »Und was wissen Sie?«

Der junge Mann schluckte schwer, versuchte vergeblich, eine Antwort zu finden.

»Richten Sie Ihrem Partner aus, er habe sich gefälligst zur Lagebesprechung einzufinden wie alle andern auch«, wies er ihn zurecht.

»Verstanden, Sir, soll ich ihn …«

Er war aufgesprungen, das Telefon in der Hand.

»Setzen!«

Er brauchte den jungen Computerexperten, um das elektronische Whiteboard zu bedienen, das die gute, alte, einfache Pinnwand ersetzte. Er wartete, bis der eingeschüchterte Detective Constable den Stuhl wieder an den Tisch gerückt hatte, bevor er Pete aufforderte, die Lage im Mordfall Stuart zusammenzufassen. An der Wand erschien das Porträt einer Frau neben dem Ausschnitt aus der Landkarte von Felixstowe.

»Mrs. Felicity Stuart, einundvierzig, wurde am Freitag, 22. August, morgens um 11:20 Uhr in den Trimley Marshes bei Felixstowe, Suffolk, tot aufgefunden.«

Während er sprach, fügten sich mehr und mehr Zeichen, Texte, Figuren und Fotos ins Bild, bis der aktuelle Stand der Ermittlungen als virtuelle Collage fast die ganze Wand bedeckte. Auf Petes Zeichen blendete der junge Mann die Zeitlinie mit allen bis jetzt rekonstruierten Ereignissen ein, von den letzten Stunden vor Felicitys Verschwinden bis zum Fund ihrer Leiche. Es waren nicht viele, genau drei. Pete las vor:

»Dienstag, 19. August, 17:35 Uhr: Felicitys letztes Gespräch mit Aaron Poynter, ihrem Stellvertreter. Unmittelbar danach verlässt sie die Fabrik. Freitag, 22. August, 10:10 Uhr: Der Sohn Scotty Stuart entdeckt Felicitys Schal im Moor. Freitag, 22. August, 11:20 Uhr: Suchtrupp der Suffolk Constabulary findet Felicitys Leiche im Moor.«

Die beinahe leere Zeitlinie ärgerte Adam, doch enthielt er sich eines Kommentars und wandte sich an die Pathologin:

»Wissen wir inzwischen mehr über Todeszeitpunkt und Todesursache?«

»Steht im vorläufigen Bericht für alle, die lesen können«, brummte sie.

Und die Zeit dazu haben, hätte er am liebsten ergänzt. Stattdessen warf er ihr einen aufmunternden Blick zu und wartete.

»Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen«, fuhr sie widerwillig fort. »Mal abgesehen von den zahlreichen postmortalen Hämatomen, die durch unsachgemäße Behandlung des Leichnams zustande kamen, kann ich Folgendes festhalten: Das Opfer ist durch einen einzigen Messerstich ins Herz gestorben. Der Tod muss unmittelbar eingetreten sein, so präzis war der Stich geführt. Ich selbst ich hätte es nicht besser gekonnt. Die Tatwaffe ist bisher nicht gefunden worden. Vermutlich handelt es sich um einen zweischneidigen Dolch mit zirka ein Zoll breiter und mindestens sechs Zoll langer Klinge.«

»Der Täter war ein Fachmann? Ein Arzt?«, fragte er verblüfft.

»Oder ein erfahrener Metzger. Die Präzision kann natürlich auch Zufall gewesen sein, aber das halte ich für eher unwahrscheinlich, denn es gibt wie gesagt nur eine Stichwunde.«

»Kann es eine Frau getan haben?«

»Möglich. Eine kräftige Frau mit der richtigen Portion Wut im Bauch – warum nicht? Der Stichkanal führt leicht schräg nach oben. Das deutet darauf hin, dass der Täter oder die Täterin ungefähr gleich groß ist wie das Opfer.«

»Fünf Fuß sieben, Sir«, rief der junge Mann am Computer dazwischen.

»Also eher klein, gedrungen«, murmelte Adam. »Das ist wenigstens ein erster, konkreter Anhaltspunkt. Wurde das Opfer misshandelt, missbraucht?«

»Vergewaltigt meinst du? Nein, es gibt kein Anzeichen von Missbrauch oder Gewalt, außer dem Messerstich. Er muss sie vollkommen überrascht haben.«

»Todeszeitpunkt?«

»Der Zeitpunkt des Exitus lässt sich nicht mehr genau eingrenzen. Sicher ist, dass der Leichnam schon vor der letzten Regenfront im Moor gelegen hat. Das heißt, er ist irgendwann vor ein Uhr am Mittwochmorgen dort abgelegt worden.«

»Sie ist nicht dort gestorben?«

»Nicht am Fundort. Die Kriminaltechnik konnte den Tatort noch nicht finden. Dürfte auch ziemlich schwierig werden, falls sie im Moor gestorben ist. Das viele Wasser hat fast alle Spuren beseitigt.«

Er warf einen Blick auf die Projektionswand. »Wir gehen also davon aus, dass die Tat zwischen Dienstag, 17:35 Uhr und Mittwochmorgen, 1 Uhr, geschehen ist?«

»Ich hätte es kaum besser formulieren können.«

Wie von Geisterhand gezeichnet, erschien ein roter Balken mit der Beschriftung ›Todeszeitpunkt‹ auf der Zeitlinie. Es gab zu viele weiße Flecke in diesem Fall und entschieden zu wenige Detectives, die er darauf ansetzen konnte. Seine Leute vermochten mit Mühe die Befragung der Fabrikarbeiter zu bewältigen und die Familie des Opfers zu durchleuchten. Mehr lag auch mit Unterstützung der Polizei von Suffolk nicht drin. Mad Barclay fiel das auch auf. Sie reagierte ungehalten:

»Wer nimmt sich den König der Sardinen zur Brust?«

Pete grinste. »Sorin? Der wird von den Kollegen in Norfolk vernommen.«

»Gratuliere!«, schnaubte die Pathologin verächtlich. »Der King wird von seinen Vasallen ausgequetscht. Das könnt ihr euch sparen.«

Adam griff ein, bevor der Schlagabtausch eskalierte:

»Wir können nicht alles allein machen – leider. Konzentriert die Vernehmungen auf den Tatradius und die Suche nach dem Motiv.«

Auf der Karte an der Wand erschien ein schraffierter Kreis mit Sorins Konservenfabrik als Mittelpunkt. Das Programm deutete damit an, in welchem Gebiet sich das Opfer vor der Tat wahrscheinlich aufgehalten hatte.

»Es gibt verdammt wenig Greifbares«, sagte er verärgert. »Im Grunde wissen wir noch gar nichts, was uns weiter bringt.«

Während er aussprach, was alle dachten, ging die Tür leise auf. Eine jugendliche Gestalt, nicht unähnlich dem Neuling am Computer, betrat den Raum.

»Detective Sergeant Cornwallis, schön, dass Sie den Weg zu uns doch noch gefunden haben«, knurrte Adam.

»Sorry, Sir, ich wurde in Felixstowe aufgehalten. Gestern Nacht ist uns gelungen, den Jungen Scotty Stuart endlich zum Reden zu bringen. Er sagt aus, seine Mutter am Dienstagabend gesehen zu haben, als sie die Fabrik verließ. Er behauptet, ein Mann habe kurz mit ihr gesprochen, dann sei sie in sein Auto eingestiegen. Das Auto sei in Richtung Hafen gefahren. Zeitpunkt etwa 17:45 Uhr.«

Das Ereignis erschien auf der Zeitlinie, während die Augen der Kollegen an den Lippen des Sergeants hingen.

»Und weiter?«, drängte Adam. »Wie sah der Mann aus? Wagentyp, Kennzeichen?«

Cornwallis schüttelte bedauernd den Kopf. »Scotty hat sich widersprochen. Er sah die beiden nur kurz, während er auf dem Rad vorbeifuhr. Ab 18 Uhr war er nach übereinstimmenden Zeugenaussagen bereits wieder zu Hause. Sicher ist er sich einzig, dass er Felicity gesehen hat und den Rücken eines untersetzten Mannes etwa in ihrer Größe.«

»Ist uns auch schon bekannt.«

Cornwallis blickte ihn bestürzt an, dann sah er das vorläufige Täterprofil an der Wand und lächelte.

»Ja, Sir, die Größe deckt sich mit Scottys Aussage. Der Unbekannte könnte der Täter gewesen sein.«

Er hüstelte, legte eine Kunstpause ein, bevor er hinzufügte:

»Scotty hat gehört, wie der Unbekannte laut und eindringlich auf seine Mutter einredete. Er hat zwar nicht verstanden, worum es ging, ist aber überzeugt, dass der Mann mit ausländischem Akzent gesprochen hat. Wahrscheinlich Holländisch oder Deutsch, gibt er an.«

»Der Kleine beherrscht ja beide Fremdsprachen, nehme ich an«, spottete Adam.

Cornwallis schüttelte beleidigt den Kopf. »Er kennt den Klang der Sprachen von den Hafenarbeitern und Seeleuten, sagt er. Sir, ich meine, wir sollten den Jungen ernst nehmen. Es könnte eine wichtige Spur sein.«

Das brauchte der Sergeant einem alten Hasen wie ihm nicht zu erläutern. Angenommen, Scotty irrte sich nicht, dann gab seine Beobachtung dem Fall eine neue Wendung, die ihm gar nicht gefallen wollte. Cornwallis traute er zu, den Zeugen richtig einzuschätzen, also entschied er sich, großes Geschütz aufzufahren.

»Wir dehnen die Untersuchung aus«, sagte er. »Täterprofil und Tathergang werden an Interpol weitergeleitet. Ich will wissen, ob sich ähnliche Fälle in Deutschland oder den Niederlanden ereignet haben. Gibt es entsprechende Täter, die seit Kurzem wieder auf freiem Fuß sind, und so weiter, das ganze Programm.«

Wiesbaden

Der Applaus fiel höflich aus. Das Konzert im Atrium riss die Zuschauer nicht von den Stühlen. Chris hatte sich mehr versprochen von der Bigband aus Schweden. Die Musiker spulten die Evergreens routiniert und technisch perfekt ab, doch wurde sie den Verdacht nicht los, die wollten gar nicht hören, was sie spielten. Das Publikum zerstreute sich rasch. Ein paar ältere Herren unterhielten sich auf der Allee, unschlüssig, welche Kneipe es sein sollte. Ein junges Paar kam ihr entgegen. Eng umschlungen, mit sich selbst beschäftigt, traten sie auf die Straße. Chris löste die Kette vom Fahrrad. Sie nahm die schnelle Bewegung am Ende der Straße nur aus den Augenwinkeln wahr. Ein Sportwagen schlitterte mit quietschenden Reifen vom Siegfriedring in die nächtliche Allee und raste mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu.

»Achtung!«, schrie sie. »Weg von der Straße!«

Statt zu bremsen, ließ der Irre im 3er Cabrio den Motor aufheulen. Die Leute auf der Straße reagierten viel zu langsam, wie in Zeitlupe. Chris sprang ins Scheinwerferlicht, ruderte mit den Armen und rief aus Leibeskräften:

»Anhalten, Polizei!«

Der Schock traf den Fahrer hart. Er trat augenblicklich auf die Bremse. Seine motorisierte Waffe rutschte näher, zu schnell, um den Zusammenstoss zu vermeiden. Von der Ringstraße brausten Blaulichter heran. Instinktiv sprang sie auf und landete auf der Motorhaube. Ihr Rücken prallte hart an die Frontscheibe, aber der Scheißkerl stand still.

»Anhalten, Polizei!«, rief sie nochmals, während sie ächzend vom Wagen rutschte.

Der Fahrer, ein süß parfümierter Schnösel, noch grün hinter den Ohren, starrte sie entsetzt an und regte sich nicht.

Sie zückte ihren Ausweis. »Aussteigen!«

Er schien sie nicht zu hören. Die Streifenwagen schlossen auf, da löste sich die Schockstarre. Er griff an den Schalthebel, doch sie war schneller. Ohne Zögern drehte sie den Zündschlüssel und zog ihn heraus. Das Brummen des Motors erstarb.

»Aussteigen, Hände auf die Haube«, sagte sie ruhig und langsam genug, damit es auch schwache Schüler verstanden. Streifenpolizisten eilten herbei. Endlich begriff der Idiot, dass es vorbei war. Er ließ sich mit hängenden Schultern abführen.

»Sind Sie seine Begleitung?«, fragte ein Polizist in vorwurfsvollem Ton.

»Sehe ich so aus?«

Sein Blick auf ihren leuchtend blonden Zopf und in den tiefen Ausschnitt bestätigte genau das. Wütend hielt sie ihm die Dienstmarke unter die Nase und sagte zur Sicherheit:

»Kriminaloberkommissarin Christiane Hegel, BKA Wiesbaden. Und Sie sind?«

»Entschuldigung«, murmelte er verdutzt.

»Ich kam aus dem Konzert und sah, wie der Verrückte auf die Leute zuraste. Ich musste ihn aufhalten.«

 

»Sie könnten tot sein.«

»Berufsrisiko.«

Ihr Rücken schmerzte. Sie versuchte, sich die Stelle zu massieren. Dabei drohten ihre Brüste, unterstützt vom Push-up, dem Kollegen von der Streife ins Gesicht zu springen. Der junge Mann wusste nicht wohin mit den Augen, bis sein älterer Partner neugierig auf sie zutrat.

»Kommissarin Hegel vom BKA hat ihn gestoppt«, erklärte der Junge hastig.

»Oberkommissarin«, verbesserte sie.

Sie fand die feine Abstufung in der Funktionsbezeichnung lächerlich, aber es tat gut, den Jungen zu quälen.

»Oberkommissarin, Entschuldigung«, murmelte er verlegen.

»Sind Sie verletzt?«, fragte der Ältere.

Sie schüttelte den Kopf. »Danke, ich bin in Ordnung.«

»Sind Sie sicher? Sie haben ein ganz schönes Früchtchen aus dem Verkehr gezogen. Der Mann hat eine Person angefahren und Fahrerflucht begangen, deshalb waren wir hinter ihm her. Er wird wohl für eine Weile von der Straße verschwinden.«

»Hoffentlich ist er schon strafmündig«, lächelte sie.

Dadurch fasste der Junge neuen Mut. »Er ist immerhin schon achtundzwanzig«, grinste er.

Sie nickte ihm verständnisvoll zu. »Manche Leute entwickeln sich eben sehr langsam.«

Das betroffene Gesicht des Polizisten erinnerte sie entfernt an die erste Begegnung mit ihrem Jamie. Milder gestimmt, wehrte sie sich nicht dagegen, den Beamten fürs Protokoll aufs Revier zu folgen. Sie hielt den konfiszierten Zündschlüssel hoch und sagte zum Jüngling:

»Sie könnten mich ja fahren. Mein Fahrrad findet sicher Platz im Streifenwagen Ihres Partners.«

Der Junge blühte auf während der kurzen Fahrt, was nicht nur am schnittigen Sportwagen lag. Sie hatte beschlossen, in den nächsten zehn Minuten richtig nett zu ihm zu sein.

Am nächsten Morgen in der Zentrale des Bundeskriminalamts empfing sie ihr Partner mit besorgter Miene. Sven blickte sonst nicht von der Arbeit auf, wenn sie das Büro betrat, doch nun sprang er gar auf und betrachtete sie eingehend von allen Seiten.

»Bist du auch wirklich O. K.?«, fragte er leise, um sie nicht zu erschrecken.

»Dasselbe wollte ich dich fragen.«

Hatte sie etwas übersehen? Im Spiegel war ihr nur ein blauer Fleck aufgefallen, am Rücken unter dem rechten Schulterblatt. Den konnte er unmöglich sehen.

»Richter hat ganz aufgeregt nach dir gefragt. Es gab einen Verkehrsunfall?«

»So kann man es auch sehen«, lachte sie. »Wollte der Staatsanwalt etwas von mir?«

»Du möchtest dich bitte bei ihm melden, sobald es die Umstände zulassen. Seine Worte.«

»Du meine Güte! Das sind ja ganz neue Töne.«

Oberstaatsanwalt Richter gab sich im Normalfall keine Mühe, besonders höflich zu sein. Woher wusste er überhaupt Bescheid über den nächtlichen Zwischenfall? Andererseits – er war einer der Mächtigen beim BKA, und das besaß große Ohren. Sein Büro stand offen. Er kam ihr freudestrahlend entgegen, sobald er sie entdeckte.

»Dr. Hegel, Gott sei Dank. Wie fühlen Sie sich?«

Nicht besonders wohl in meiner Haut, dachte sie beunruhigt. Sie kannte nur zwei Gründe, die ihn bewogen, sie mit dem akademischen Titel anzureden: Entweder drohte eine Standpauke, oder er wollte etwas Unangenehmes von ihr.

»Es geht mir gut«, log sie. »Warum fragen Sie?«

»Na hören Sie mal. Ich fürchtete schon, sie würden zur Verkehrspolizei abwandern.«

»Die Leute dort sind wirklich nett. Ich werd’s mir überlegen.«

Er schüttelte schmunzelnd den Kopf und bedeutete ihr, Platz zu nehmen.

»Sie sind also wieder voll einsatzfähig? Keine Nachwirkungen? Mein Gott, Sie könnten tot sein!«

Dreimal ja. Sie brauchte nicht lange zu warten, bis sein Mitgefühl erlosch:

»Gut, gut, dann wollen wir – in medias res, sozusagen.«

Er nahm ein Blatt aus der Aktenmappe, die vor ihm lag, und überreichte es ihr.

»Interpol braucht unsere Unterstützung«, bemerkte er dazu.

Sie las die in umständlichem Amtsenglisch verfasste Anfrage. Irritiert legte sie den Zettel schließlich auf den Tisch.

»Ein Dolchstoß ins Herz in einem Kaff in Suffolk – was hat das mit uns zu tun?«

»Drehen Sie das Blatt um.«

»Ach so, Entschuldigung.«

Widerwillig las sie weiter. Offenbar bestand der Verdacht, es könnte sich um einen deutschen Täter handeln. Ziemlich an den Haaren herbeigezogen, fand sie. Vor allem verstand sie immer noch nicht, warum Richter ausgerechnet ihr diese Anfrage zeigte. Es arbeitete in ihrem Gesicht, was ihn zu belustigen schien.

»Sie fragen sich, warum ich die Sache nicht an die Zentralen Dienste leite. Das hatte ich vor, doch dann erinnerte ich mich an diese Meldung aus dem LKA Stuttgart.«

Er schob ihr ein zweites Blatt hin. Es war die Nachricht vom Mord an einem Schwarzen in Tübingen, die sie im Radio gehört hatte. Tod durch einen einzigen Dolchstoß ins Herz, genau wie im Fall aus England.

»Das könnte ein Zufall sein«, sagte sie.

Er nickte. »Genau, darum möchte ich, dass Sie das schnell bestätigen, damit wir die Sache vom Tisch haben.«

Das Damoklesschwert sauste mit voller Wucht auf sie herunter. Das war also der Grund für die akademische Anrede. Noch ein lästiger Auftrag. Sie, ihr Partner und ein paar andere Leute konnten sich ja nicht gerade über Arbeitslosigkeit beklagen, was Richter bestens bekannt war. Sie suchte hastig nach der besten Ausrede, als ihr Blick auf die Information über die zuständige englische Dienststelle fiel. Sie entspannte sich augenblicklich, nahm die Akte an sich und verabschiedete sich vom verdatterten Staatsanwalt mit einem Lächeln.

»Ich werde sehen, was ich tun kann.«