Das letzte Steak

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»Halt, Polizei!«, rief Sven. »Hände aufs Dach und keine Bewegung!«

Die nächtliche Stille im Parkhaus verwandelte sich augenblicklich in ein Durcheinander aus hallenden Schritten, Türenschlagen, lauten Befehlen und Flüchen.

»Achtung, er flieht durch das Treppenhaus«, rief Sven.

Die schwarze Gestalt stürzte aus der Tür direkt vor Chris’ Füße. Kleins Partner hatte dem Flüchtenden im richtigen Moment ein Bein gestellt. Im selben Augenblick kniete sie auf dem Mann, drückte ihm das Gesicht auf den Boden und drehte ihm trotz der Stiche in der Schulter die Arme mit aller Kraft auf den Rücken, dass er laut aufstöhnte. Klein half ihr dabei, ihn zu fesseln, während sie seine Arme etwas weiter verdrehte, um zu prüfen, wie laut er werden konnte. Sie zog ihre Waffe aus seiner Hosentasche, dann erst ließ sie von ihm ab.

»Sie sind vorläufig festgenommen«, schnauzte sie ihn an. »Aufstehen!«

Ihre Schulter drohte zu explodieren, doch was sie viel mehr irritierte, war der attraktive Geruch des Scheißkerls.

Wiesbaden

Die elegante Gestalt im Verhörraum nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Mit dem Handy am Ohr beobachtete Chris verwirrt, wie der Schwarze seine Hände peinlich genau untersuchte und die Nägel ausgiebig überprüfte, als säße er im Nagelstudio der unerbittlichen Rosy. Er erhob sich, näherte sich der undurchsichtigen Scheibe, beugte sich vornüber, dass nur das Glas ihre Nasenspitzen trennte. Kritisch betrachtete er sein Gesicht von allen Seiten, fletschte die Zähne, die in makellos weißer Uniform und preußisch präzis ausgerichtet wie die Ehregarde des Alten Fritz auf sie warteten. Jamie am andern Ende der Leitung bekundete Mühe, auf ihre letzte Frage zu antworten, an die sie sich schon nicht mehr erinnerte.

»Ja, ja, ich muss jetzt Schluss machen, bis später«, sagte sie und legte auf.

Sie ließ den Verdächtigen noch zehn Minuten schmoren, bevor sie den Verhörraum betrat. Aus seinen Papieren kannte sie seine Identität. Er hieß Leonard Nuuyoma, stammte aus Namibia und arbeitete als Journalist bei der Zeitung ›Namibian‹ in Windhoek, genau wie das Opfer. »Können die ihren Arbeitskonflikt nicht zu Hause austragen?«, hatte Sven gefragt. Ein mögliches Motiv für die erste Tat wäre es immerhin, musste sie zugeben, wenn auch ein schwaches. Arbeitskonflikte endeten selten tödlich, und wenn, dann mit Schusswaffen. Zudem blieb völlig unklar, wie der bedauernswerte Professor Lorenz ins Bild passte. Sie vermutete eher, dass Lorenz und seine Arbeit an der Uni eine Schlüsselrolle spielten. Nuuyoma erhob sich sofort, als sie eintrat. Mit wachsamen Augen beobachtete er, wie sie ihm gegenüber Platz nahm, die Akten vor sich bereitlegte und das Aufzeichnungsgerät startete. Er wich ihrem forschenden Blick nicht aus. Im Gegenteil: Er schien sich in ihrer Aufmerksamkeit zu sonnen, dass sie fürchtete, er würde jeden Augenblick wieder die, zugegeben schönen, Zähne fletschen. Sie stellte sich vor, worauf er die Hand ausstreckte und mit freundlichem Lächeln sagte:

»Leonard Nuuyoma, nennen Sie mich Leon. Es tut mir leid wegen Ihrer Schulter. Ich wünschte, wir hätten uns unter andern Umständen kennengelernt.«

Sie ignorierte die Hand. »Setzen Sie sich, Mr. Nuuyoma.«

Er gehorchte zögernd, wobei ihm die Enttäuschung so deutlich vom Gesicht abzulesen war wie Jamies Betroffenheit, wenn er ihrem Humor nicht folgen konnte.

»Steht Ihnen ausgezeichnet, der V-Ausschnitt«, murmelte er laut genug, dass sie jedes Wort verstand.

Er sprach ein überraschend sauber artikuliertes Englisch, als gäbe er sich besondere Mühe, gepflegt und gebildet zu wirken. Offensichtlich litt er an narzisstischer Selbstüberschätzung – und er redete Müll.

»Wenn das eine Art Entschuldigung sein soll, dann sagen sie es«, wies sie ihn unwirsch zurecht, »aber lassen Sie meine Brüste in Ruhe.«

Kaum war es ausgesprochen, fühlte sie, wie sie errötete. Was war in sie gefahren? Seine elegante Erscheinung und das selbstbewusste Auftreten verwirrten sie komplett. Sie hatte einen ungehobelten Rüpel erwartet, nun saß sie einem schwarzen Dandy gegenüber, der versuchte, sie sanft um den Finger zu wickeln. Manchmal wünschte sie sich, etwas hässlicher auszusehen. Es würde diese Arbeit um einiges erleichtern. Er zeigte so viel Anstand, nicht auf ihren Ausrutscher zu reagieren, was den Ärger über sich selbst noch verstärkte. Ihre erste Frage klang daher wie eine Anklage:

»Was hatten Sie auf dem Schlossberg zu suchen?«

»Darf ich erfahren, weshalb Sie mich festhalten? Was werfen Sie mir vor?«

»Die Fragen stelle ich, Mister. Aber was halten Sie fürs Erste von Widerstand gegen die Polizei, Diebstahl und Tragen einer Pistole ohne Waffenschein, mal abgesehen von der wilden Flucht durch Tübingen mit geladener Schusswaffe? Wir hätten Sie erschießen können, verstehen Sie?«

Er lächelte verbindlich. »Danke, dass Sie es nicht getan haben.«

»Also?«

»Ich wollte Professor Lorenz sprechen.«

»Nachts um zehn?«

»Ich bin aufgehalten worden, und ich weiß, dass der Professor abends am besten zu Hause zu erreichen ist.«

»Klingt ganz nach Ausrede. Was wollten Sie von Professor Lorenz?«

»Fragen stellen. Ich bin Journalist, wie Sie wissen.«

»Sie leben und arbeiten in Namibia, und da reisen Sie nach Deutschland, um dem Professor ein paar Fragen zu stellen? Gibt es keine Telefone in Ihren Büros?«

»Ich erfuhr erst auf dem Weg nach Deutschland von ihm, hatte aber nicht vor, ihn zu besuchen bis ….«

»Bis was?«

»Bis ich feststellte, dass mein Kontakt wie vom Erdboden verschwunden ist.«

»Klingt nicht sehr überzeugend«, spottete sie.

»Es ist mein voller Ernst. Ich mache mir große Sorgen. Er schickte mir eine Mail, dass er Professor Lorenz treffen wolle. Das war sein letztes Lebenszeichen.«

»Von wem sprechen Sie?«

»Von einem Kollegen aus der Redaktion. Er recherchiert für eine heiße Story in Deutschland, wie er sagte.«

Die Nebel begannen sich zu lichten. Sie glaubte, die Antwort auf die nächste Frage zu kennen.

»Wie heißt der Kollege?«

»Ist es verboten, als Journalist in Ihrem Land Nachforschungen anzustellen? Ich möchte ihn da heraushalten, das verstehen Sie doch.«

»Heraushalten?«

Er zuckte nur mit den Schultern und deutete mit einer ausladenden Handbewegung an, dass er die ungemütliche Umgebung damit meinte.

»Es ist besser, Sie arbeiten mit uns zusammen, glauben Sie mir. Wenn Ihr Kollege nichts verbrochen hat, hat er auch nichts zu befürchten.«

Da er weiter schwieg, beschloss sie, es mit der Schocktherapie zu versuchen. Sie zog eine der Porträtaufnahmen der Leiche aus dem Ammerkanal aus der Akte und schob sie ihm hin.

»Kennen Sie diesen Mann?«

Er zuckte zusammen, als hätte sie ihn geschlagen. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das Foto an. Der Mund öffnete sich leicht, die Oberlippe zitterte fast unmerklich. Es war nicht bloße Überraschung, die sein Gesicht ausdrückte. Angst und Entsetzen sprachen aus seinen Augen.

»Was – ist mit Usko – ist er …«

Seine Stimme versagte. Er räusperte sich, bemühte sich, Haltung zu bewahren.

»Möchten Sie ein Glas Wasser?«, fragte sie leise, während sie ihn weiter genau beobachtete.

Er nickte stumm. Als sie ihm das Wasser reichte, schimmerten seine Augen, als hätte er geweint. Das Foto lag umgekehrt auf dem Tisch.

»Das ist Ihr Kollege, nicht wahr? Usko Mwilima.«

»Ist er tot?«, fragte er tonlos.

Die Spannung wich aus seinem Gesicht. Die Wangen schienen zu erschlaffen, die Mundwinkel zeigten nach unten. Er blickte sie unendlich traurig an. Der Tote musste ein enger Freund gewesen sein. Anders konnte sie sich sein Verhalten nicht erklären. Überraschung und Trauer waren nicht gespielt. Dennoch musste sie ihm weiter auf den Zahn fühlen, um sicher zu sein.

»Das haben Sie nicht gewusst?«, fragte sie hart zurück.

Er sprang entsetzt auf. »Nein!«, rief er. »Ich habe so etwas Schreckliches geahnt. Hier drin in meinem Herzen habe ich es gespürt.« Er schlug sich erregt an die Brust. »Seit Tagen hat er sich nicht gemeldet, und im Hotel hat man ihn auch nicht gesehen.«

»Setzen Sie sich bitte.«

Er sank auf den Stuhl, als hätte ihn alle Kraft verlassen. Sie wartete, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte, dann forderte sie ihn auf, zu reden:

»Sie sollten mir jetzt alles erzählen, was Sie über Mr. Mwilimas Aufenthalt in Deutschland wissen.«

Eine Pause entstand, während er abwesend durch sie hindurchblickte.

»Wie ist er gestorben?«, fragte er schließlich.

»Ihr Kollege ist einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen.«

»Warum?«

»Das wissen wir nicht, noch nicht. Erzählen Sie uns, was Sie über seine Recherche hier in Deutschland wissen. Vielleicht hilft uns das bei der Aufklärung.«

Er begann, stockend zu berichten. Mwilima arbeitete normalerweise als Einzelgänger, wie er selbst auch. Er war bekannt dafür, nichts über seine Stories zu enthüllen, bis er sie ›im Kasten hatte‹. Noch bis Montag letzter Woche wusste niemand in der Redaktion, dass er in Deutschland recherchierte. Dann kam sein Anruf, er brauche Unterstützung.

»Hat er Sie direkt angerufen, nicht die Redaktion?«

Nuuyoma nickte. »Wir sind – waren gute Freunde. Er vertraute mir mehr als allen andern. Aber darum ging es nicht. Ich glaube, er brauchte mich für Nachforschungen an der Uni. Er sagte, es ginge um Nahrungsmittel.«

»In Deutschland?«

»Das weiß ich nicht, aber die Uni hat damit zu tun. Ich nehme an, er hat eine Spur zu diesem Professor verfolgt. Den sollten Sie befragen.«

 

»Das geht leider nicht mehr. Jemand hat ihn vorher zum Schweigen gebracht.«

Ruhig und gefasst wartete er auf eine Erklärung.

»Die Nachricht scheint Sie nicht zu überraschen.«

Die Mundwinkel rutschten nach oben. »Ach – Sie glauben, ich hätte ihn umgebracht? Warum sollte ich einen wichtigen Informanten töten?«

»Ich glaube gar nichts. Ich stelle nur Fakten fest. Wir werden Ihre Alibis gründlich überprüfen, und wenn Sie etwas mit einem oder beiden Verbrechen zu tun haben, werden wir das zweifelsfrei feststellen. Davon können Sie ausgehen.«

»Mit deutscher Gründlichkeit, hoffe ich«, murmelte er ohne Ironie.

»Können wir weitermachen? Wie sollte Ihre Unterstützung denn aussehen?«

»Ich habe ursprünglich Agronomie studiert. Das ist die Wissenschaft von …«

»Von der Landwirtschaft. Bei uns gibt’s auch Schulen.«

»Sorry, ich wollte Sie nicht … Also, weil ich mich einigermaßen gut auskenne in der Nahrungsmittelproduktion, habe ich schon etliche Reportagen über kleine und größere Skandale in Namibia geschrieben. Wahrscheinlich brauchte er meine Hintergrundinformationen. Spezialwissen ist manchmal ganz nützlich, um die richtigen Fragen zu stellen.«

»Was Sie nicht sagen.«

Seine Geschichte klang bisher plausibel, doch er schaffte es immer wieder, sie mit solchen Bemerkungen zu reizen. Seltsam nur, dass sie es widerstandslos geschehen ließ.

»Ich möchte ihn sehen«, sagte er unvermittelt.

»Ihren Freund?«

»Ja, Usko.«

Sie nickte. »Ich werde sehen, was sich machen lässt. Hatte Mr. Mwilima Familie, Angehörige, die wir benachrichtigen müssen?«

Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich war seine Familie.«

Sein Blick wirkte verloren, wie der des Jungen, der Rat bei der Mutter sucht. Sie wandte sich ab, blätterte scheinbar konzentriert in den Akten, bis er unsicher fragte:

»Sind wir fertig? Kann ich gehen?«

»Sie werden uns noch eine Weile Gesellschaft leisten müssen. Sie bleiben in Untersuchungshaft, bis wir Ihre Angaben überprüft haben. Ach ja – eine Speichelprobe brauchen wir noch.«

Rasch verließ sie das Zimmer, bevor er ihren Verstand mit einer neuen Variante von Betroffenheit vernebelte. Sven empfing sie mit besorgter Miene. Er hatte die Einvernahme durch die Scheibe verfolgt und schien nicht glücklich zu sein über das Ergebnis.

»Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte sie gereizt.

»Nein – und wenn, dann würde ich niemals wagen …«

»Lass das, du brauchst mich nicht aufzuheitern. Verrate mir lieber, was du von seiner Geschichte hältst.«

Er rümpfte die Nase. »Das ist es ja. Vieles deutet darauf hin, dass er die Wahrheit sagt und nichts mit den Morden zu tun hat. Ich habe seine Angaben laufend überprüfen lassen. Er ist tatsächlich wie angegeben direkt von Windhoek nach Frankfurt geflogen und dort im selben Hotel abgestiegen wie Mwilima. Zum Zeitpunkt der Tat am Ammerkanal will ihn ein Zimmerkellner in Frankfurt gesehen haben. Das müssen wir allerdings noch überprüfen. Für den Mord am Professor hat er bis jetzt kein Alibi, aber ich sehe auch weit und breit kein Motiv.«

»Was nicht heißt, dass es keins gibt.«

»Schon klar, und übrigens: Nach übereinstimmenden Aussagen aus Windhoek ist das seine erste Auslandreise seit zwei Jahren. Er kommt also für die Tat in England wohl nicht infrage.«

Oberstaatsanwalt Richter trat aus dem Lift. Er musste Svens letzte Bemerkung gehört haben, denn er eilte mit Riesenschritten auf sie zu, statt den Flur hinunter zur Führungssitzung.

»Die Tübinger Fälle hängen nicht mit dem Delikt in England zusammen?«, fragte er hastig mit einem Blick auf die Uhr. »Wir können die Interpol-Akte schließen und die Fälle nach Stuttgart abgeben, wo sie hingehören?«

»Das steht noch keineswegs fest«, antwortete Sven. »Wir wissen nur, dass der Verdächtige höchst wahrscheinlich nicht als Täter in England infrage kommt.«

»Auf so ein Ergebnis können Sie ja mächtig stolz sein«, knurrte Richter.

Er war in Kampfstimmung. Chris bereitete sich sofort auf einen scharfen Gegenangriff vor. Ihr Chef bemerkte jedoch, dass die Zeit drängte. Er drehte sich angewidert um und hetzte den Korridor hinunter zum nächsten Schlachtfeld. Sven verfolgte ihn mit giftigen Blicken.

»Ich fürchte, ihm steht bald echter Ärger ins Haus«, schmunzelte Chris.

»Hoffentlich.«

Während sie ins Büro zurückgingen, schaltete sie das Handy wieder ein. Das Display zeigte einen verpassten Anruf und vier neue Nachrichten an, alle von ihrer Mutter aus Potsdam. Ihr alter Vater lag mit Fieber im Bett. »Vater geht es nicht gut«, lautete die letzte Meldung. Vater geht es seit Langem nicht gut!, dachte sie bitter. Seit seine Demenz nicht mehr zu verbergen war, mussten sie seinem Zerfall tatenlos zusehen. Sein Umzug ins Heim hatte wenigstens das Leben ihrer überforderten Mutter erträglicher gemacht, aber seither fürchtete sich Chris vor Anrufen aus Potsdam. Jede Nachricht von Vater weckte neue Schuldgefühle. Sie müsste für ihn da sein und für Mama. Die meiste Zeit jedoch blendete sie Potsdam aus und lebte ihr eigenes Leben, als könnte der Mensch das Nest für immer verlassen und wegfliegen wie ein Vogel.

»Scheiße«, murmelte sie bedrückt.

»Ärger mit Jamie?«

»Schlimmer. Vater liegt im Bett.«

»Das – tut mir leid. Ich kann deine Ermittlungen übernehmen, wenn du ihn besuchen willst.«

Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, ist nicht nötig. Kümmere dich um Nuuyomas Alibis und die Fremd-DNA an den Opfern wie besprochen. Ich versuche inzwischen, so viel wie möglich über das Umfeld in Namibia zu erfahren, und ich werde mir die Autopsieberichte vornehmen.«

Unschlüssig starrte sie auf das Handy, dann rief sie ihren Geliebten an. Während der nächsten zehn Minuten begrüßte sie dreimal Jamies Anrufbeantworter. Enttäuscht gab sie auf. Sie fühlte sich einsam, verlassen, leer. Sie verdiente nichts anderes, fand sie, als sie Mutters Nummer wählte.

Mariental, Namibia

Thula nahm den Topf vom Feuer. Der Mealie-Pap war etwas dick geraten, zuviel Maismehl, doch das schadete nicht. Ihre Patientin hatte beim letzten Besuch beängstigend schwach gewirkt. Sie zeigte deutliche Zeichen von Unterernährung. Da war sie nicht die Einzige unter ihren Bekannten, doch das Mädchen stand unmittelbar vor ihrer ersten Niederkunft. Thula rührte eine Weile weiter, kostete, dann goss sie einen kleinen Teil für sich in eine Schale und stellte den Topf bereit für den Besuch. Sie mischte zwei Löffel Orangenkompott in ihre Schale und trat damit vor die Tür. Die Sonne stand erst kurz am Himmel. Noch war es angenehm kühl. Keine fünfundzwanzig Grad, schätzte sie. Das trockene Gras der Savanne leuchtete golden wie jeden Morgen. Der Köcherbaum am Fluss warf seinen langen Schatten über ihre Hütte. Für sie waren das die schönsten Minuten des Tages. Sie genoss die Ruhe vor der Arbeit und das süße, nahrhafte Frühstück.

Sie hatte nicht damit gerechnet, die ganze Nacht schlafen zu können. Babys hielten sich nicht an feste Arbeitszeiten. Bald dürfte es vorbei sein mit der Ruhe. Sie schlenderte zum Fluss, der kaum mehr zu erkennen war. Nur einzelne flache Tümpel markierten das Bett des Fish River. Beim traurigen Anblick schüttelte sie den Kopf. Moses hatte ihr erzählt, dieses Rinnsal hätte nur eine Tagereise weiter südlich die größte Schlucht Afrikas ins Gestein gewaschen. Sie glaubte solche Märchen nicht, aber eines Tages würde sie dorthin reisen, um nachzusehen. Eines Tages, wenn der liebe Gott eine zweite Hebamme oder gar einen Arzt hierher schicken würde, damit sie sich nicht mehr allein um all die Armen kümmern müsste.

»Thula, Thula!«, rief eine Kinderstimme.

Sie hörte David, bevor er aus den Büschen sprang und auf seinen dünnen Beinen schnell, wie eine Antilope auf sie zuschoss.

»Es geht los«, keuchte er.

Sie nickte lächelnd, denn der Zehnjährige machte ein Gesicht wie ein erfahrener Geburtshelfer, der diesen Satz jeden Tag ein paar Mal aussprach. Sie winkte ihn ins Haus, gab ihm die Bereitschaftstasche und deutete auf den Topf mit dem Mealie-Pap.

»Kannst du den auch tragen?«

»Klar, was denkst du denn.«

Sie nahm die zweite Tasche aus dem Schrank. Der Behälter aus dem Kühlhaus der Schlachterei fühlte sich immer noch eiskalt an, obwohl sie ihn zur Sicherheit schon am Abend zuvor geholt hatte. Sie stellte noch eine Flasche mit dem Kräutertee dazu. Es war ihre eigene geheime Mischung, die sie über die Jahre perfektioniert hatte. Der Tee regte den Kreislauf an und stärkte ihn, weshalb die Leute ihn als Zaubertrank und sie als gute Hexe verehrten.

»Wie geht es Alexia?«, fragte sie auf dem Weg zum Haus des Farmers.

»Sie schreit.«

»Das sind die Wehen.«

»Ich weiß, aber Dad sagt, sie ist noch trocken.«

»Dad ist bei ihr?«, fragte sie erschrocken. »Das ist nicht gut, es bringt Unglück, das sollte er wissen. Und die Schwester, ist sie da?«

David nickte eifrig. »Mehr als das: Auch ihre Mutter ist gekommen.«

Nangolo Kawana wohnte mit seinen zwei Kindern aus erster Ehe und Alexia in einer einfachen Holzhütte mit Wellblechdach, wie die meisten Kleinbauern in der Gegend. Zwei Schafe, zwei Ziegen, ein paar Hühner, etwas Mais, Spinat und eine Bananenstaude lieferten das Nötigste, um den Hunger zu stillen. Geld gab es nur, wenn Nangolo Glück hatte und für kurze Zeit im Schlachthof aushelfen durfte, oder wenn man ihn bei der Ernte auf den Feldern am Stausee brauchte. Sie ging davon aus, dass sich zurzeit kein Cent im Haus befand. Die Leute bezahlten ihre Dienste mit Eiern und Gebeten, was wollte sie mehr? Auch sie betete für Alexia, die fast noch ein Kind war. Der Herrgott möge ihr Komplikationen ersparen, denn teure Medikamente konnte sich niemand leisten.

Vor dem Haus graste nur ein Schaf.

»Wo ist das Zweite?«, fragte sie.

David warf ihr einen traurigen Blick zu. »Es ist vorgestern gestorben, aber Dad will nicht darüber reden.«

»Tut mir leid, David.«

Die Zuversicht schwand schnell, als sie ans Bett trat, das nur aus einer Matratze am Boden bestand. Sie bedeutete Nangolo, die Hütte zu verlassen, dann fühlte sie Alexias Puls. Ihr Herz schlug schnell, aber immerhin regelmäßig. Die junge Frau sah sie aus angstvoll geweiteten Augen an.

»Muss ich sterben?«, flüsterte sie.

Thula redete ihr beruhigend zu. Sie tat es nicht nur für Alexia. Die andern beiden Frauen brauchten den Trost ebenso, wie es schien. Die Wehen setzten alle fünf Minuten ein, eine Zerreißprobe für die junge Mutter, aber ein gutes Zeichen. Die Fruchtblase platzte. Alexia schrie aus Leibeskräften bei der ersten Presswehe, dennoch befolgte sie die Anweisungen der Hebamme vorbildlich, jetzt, da sie das Ende ihrer Leiden kommen sah. Das Kind lag richtig, nur der Kopf musste ein wenig bewegt werden, damit sich der Muttermund weiter öffnete. Mithilfe der Frauen hob sie Alexia auf einen Stuhl, gepolstert mit Kissen und Tüchern, damit sie sitzend gebären konnte. Die Stellung linderte ihre Schmerzen und beschleunigte den Prozess.

Eine halbe Stunde später hielt Thula den winzigen Wicht in den Armen und legte ihn an Alexias Brust.

»Ein Knabe«, verkündete sie lächelnd.

Die Ankunft des neuen Erdenbewohners verwandelte die düstere Hütte in einen Ort ausgelassener Freude. Lachen und fröhliches Schwatzen erfüllten den Raum und es schien, als weiteten sich die kleinen Fenster, damit mehr warmes Sonnenlicht den Kleinen streicheln konnte. Alexia hielt ihren Sohn mit Tränen in den Augen in den Armen und fand keine Worte für ihr Glück. Vergessen waren die Schmerzen und die Todesangst. Ihr Herz beruhigte sich. Das Neugeborene machte einen gesunden Eindruck, das sah Thula mit ihrem geübten Auge, auch ohne es mit Stethoskop und Thermometer zu untersuchen. Der liebe Gott hatte ihre Gebete erhört. Sie war überzeugt, Komplikationen würden nun auch im letzten Akt ausbleiben.

»Lasst uns jetzt bitte allein«, sagte sie zu den zwei Frauen.

Sie wartete, bis sich die Tür hinter ihnen schloss, dann setzte sie die zwei Klemmen und durchtrennte die Nabelschnur. Der Blutkreislauf des Kindes brauchte diese Unterstützung nicht mehr. Behutsam legte sie den Kleinen wieder an Alexias Brust.

»Ich massiere dich jetzt, damit sich die Nachgeburt ablöst. Keine Angst, du wirst kaum etwas spüren dabei.«

Sie fühlte, wie sich die Fruchtblase verlagerte. Der junge Körper, so schwach er schien, löste auch diese Aufgabe hervorragend. Er schied die Nachgeburt unversehrt und vollständig aus. Alexia blieben gefährliche Blutungen erspart. Thula legte das kostbare Gewebe sorgfältig in den bereitstehenden Behälter.

 

»Ich bringe euch das Geld am Sonntag nach der Messe«, sagte sie.

Alexia nickte. Ein Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

»Danke, Thula.«

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?