Staatsfeinde

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KAPITEL 3

Köln

John Stein war fast durch mit der morgendlichen Zeitungslektüre, als er im 39. Stock des Kölnturms aus dem Lift trat. Sein erster Gang führte ihn wie jeden Morgen in die Küche zum Kaffeeautomaten. Beim Blick durch die Glaswände in die leeren Büros schmunzelte er zufrieden. Ein einziger Platz war besetzt. Seine Assistentin Greta Vogt saß an ihrem Pult mit der schönsten Aussicht auf den Kölner Dom, höher als dessen Glockenstuhl.

Auch das gehörte zum Ritual. Ihr Ehrgeiz gefiel ihm. Greta wollte hoch hinaus wie er. Sie war nicht nur eine brillante Marketingstrategin, sondern auch eine knallharte Geschäftsfrau. Wie jeden Morgen erhob sie sich sofort, als sie ihn erblickte, und folgte ihm in die Küche.

Die drei Küsschen zur Begrüßung bedeuteten ihm mehr als ihr. Für eine junge Frau wie Greta gehörte das einfach zum guten Umgangston in der Schickeria, zu der sie sich zu Recht zählte. Für den alternden Playboy John Stein mit den inflationären Krähenfüßen im Gesicht signalisierte die Berührung willkommene Wertschätzung. Zumindest bildete er sich das ein. Illusionen waren schließlich sein Geschäft, von dem er ganz gut lebte.

»Ich bin gespannt auf die Reaktion der Autolobby«, sagte sie.

Die Kaffeetasse in der Hand, lehnte sie lässig am Küchenschrank. Wie zufällig öffnete sich dabei der Seitenschlitz des Rocks und gab den Blick auf das feine Muster ihres Nahtstrumpfs frei. Er zwang sich, nicht hinzusehen und versuchte, sich zu erinnern, was sie gesagt hatte.

»Die Autolobby – du meinst den Krawall in Berlin? Ja, das wird unseren Kunden nicht gefallen.«

Sie nickte. »China wird die Importzölle nicht so schnell senken ohne Freihandelsabkommen.«

»Absolut, aber ich denke, unser Freund von der Lippe wird auch nicht so schnell aufgeben.«

Sie trank aus. Schmunzelnd spülte sie die Tasse und stellte sie aufs Abtropfbrett.

»Wetten, der taucht heute hier auf?«, sagte sie lachend beim Hinausgehen.

»Dr. von der Lippe«, meldete die Dame am Empfang eine Minute nach acht Uhr, dem offiziellen Arbeitsbeginn.

Das Erscheinen des Bereichsleiters ›Global External Affairs‹ vom Verband Deutscher Automobilindustrie war so sicher wie das Amen in der Kirche. Ein leichtes Kopfnicken genügte, um Greta herbeizurufen. Gemeinsam erwarteten sie den Stammkunden der PR-Agentur Stein im Sitzungszimmer. Die Aussicht auf einen fetten Deal war ebenso spektakulär wie die aus den Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten und vorgaben, gar nicht da zu sein. Der Eindruck, zu fliegen, trug nicht unwesentlich zum Erfolg seines Geschäfts bei, war er überzeugt. Die großen Verträge wurden stets in diesem luftigen, lichtdurchfluteten Glaskasten hoch über der Stadt abgeschlossen. Hier fühlte sich der Kunde schwerelos, abgehoben, genau richtig für die teuren Kampagnen.

»Horst, was für eine unerwartete Freude am frühen Morgen«, begrüßte er den Lobbyisten.

Von der Lippe gab beiden wortlos die Hand. Er wirkte nervös, verärgert. Small Talk war gestrichen an diesem Morgen. Dennoch versuchte John, die Stimmung aufzulockern.

»Ein Gläschen von deinem Speziellen?«, fragte er. »Du weißt, für dich halten wir immer eine Flasche auf Eis.«

Von der Lippe winkte ab. »Nee, lass mal, bin nicht in der Stimmung.«

Die Stimmung war das Problem, nicht die Tageszeit, die keine Rolle spielte beim Verkosten seines Lieblingssekts. Von der Lippe knallte die neue Ausgabe der Bild-Zeitung auf den Tisch. DAS VOLK SAGT NEIN!, bedeckte in fetten Lettern die halbe Frontseite. Bilder vom Massenauflauf vor dem Reichstag und von brennenden Autos zierten den Rest der Seite.

»Das ist unser verdammtes Todesurteil«, schimpfte er dabei. »Ihr wisst, wovon ich spreche.«

»Du glaubst doch sonst auch nicht, was in der Bild steht«, antwortete er lachend.

Er kannte Horst von der Lippe lange genug, um den lockeren Spruch zu wagen. Sein Klient schob das Kinn vor.

»Ich bin nicht für deine lahmen Scherze schon morgens um sieben im Stau gestanden, John. Meine Industrie hat ein Riesenproblem, wenn die Verhandlungen jetzt eingestellt werden. Es geht hier um Hunderttausende Arbeitsplätze. Das solltest du den Idioten da draußen mal klarmachen, denen die Engel das Hirn vernebelt hat.«

»Wir verstehen Ihre Sorge vollkommen, Herr von der Lippe«, lenkte Greta ein, »und wir nehmen sie ernst – wie immer.«

»Das will ich verdammt noch mal auch hoffen. Es geht schlicht um die Existenz der deutschen Automobilindustrie, Leute. 250 Milliarden Euro Umsatz stehen auf dem Spiel. Der Export in die USA stockt, Lateinamerika ist krank. Wir brauchen einen massiven Zuwachs in den asiatischen Märkten. Wir müssen China mit unseren Qualitätsprodukten überschwemmen, sonst geschieht bald das Umgekehrte.«

Er übertrieb gerne etwas, wenn es ums Wohl seines Arbeitgebers ging. Dennoch stimmte John ihm in diesem Fall zu. Er selbst reagierte wohl ähnlich, steckte er in dessen Haut. Es konnte nichts Gutes für die Automobilindustrie bedeuten, wenn die Regierung aus Angst vor den nächsten Wahlen nun den Schwanz einzog und die Hände in den Schoß legte nach dem Motto: Wer nichts tut, macht nichts falsch.

»Wir führen zwar die besten PR-Kampagnen durch«, sagte Greta mit schiefem Lächeln, »die Regierung umzustimmen, dürfte aber selbst uns schwerfallen.«

»Auch da muss ich leider zustimmen, Horst«, bekräftigte er Gretas Meinung. »Die Kampagne der Gegner jeglichen Freihandels und mit China insbesondere hat eine Eigendynamik erreicht, die kaum mehr zu stoppen ist.«

Von der Lippe sah ihn böse an. »Wollt ihr mich eigentlich loswerden oder einfach nur den Preis hochtreiben? Ihr müsst mir nicht erklären, wie schwierig das Unterfangen ist. Euer Job ist es, dafür zu sorgen, dass die Stimmung im Volk kippt und die Gegner des Freihandels endlich ihre verfluchte Klappe halten. Schafft ihr das?«

Diese Entwicklung des Gesprächs war absehbar gewesen. Sie wussten beide genau, was sie darauf antworten mussten, legten aber eine Kunstpause ein, um der Antwort das nötige Gewicht zu verleihen. Schließlich sagte Greta mit ernstem Gesicht:

»Eine solche Kampagne wird dauern und dementsprechend teuer, Herr von der Lippe, und es gibt keine Erfolgsgarantie.«

»Den Scheiß höre ich jedes Mal«, gab er unwirsch zurück. »Bisher hat es stets geklappt, sonst säße ich jetzt nicht hier.«

»O. K., Horst«, sagte John nach einer weiteren Pause gedehnt. »Wir arbeiten eine Offerte aus. Zwei Varianten, wie üblich.«

»Es eilt!«

»Ich weiß, Horst. Trotzdem brauchen wir Zeit, um so eine große Sache seriös anzugehen. Wir dürfen uns keine Fehler leisten und du auch nicht. Die Stimmung im Volk ist äußerst aufgeheizt. Dein Kollege Scholz …«

»Scholz!«, unterbrach von der Lippe ärgerlich. »Man soll nicht schlecht über Tote reden, aber der hat nun wirklich alles verbockt, was man als Lobbyist verbocken kann. Wir hätten ihn schon viel früher aus dem Verkehr ziehen müssen.«

»Ihr werdet doch nicht …«

Er wagte den Gedanken nicht auszusprechen. Horst klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und brachte gar ein Grinsen zustande.

»Komm wieder runter, John. Wir sind doch nicht die Mafia.«

»Guten Tag, Phil«, grüßte das Sicherheitsschloss am Drehkreuz zur verbotenen Zone eine Etage unter John Steins Büro.

Außer dem Chef und seinem blonden Gift mit dem bösen Blick hatten nur er und Kollegin Leni Kraus Zugang. Leni saß im Cockpit vor der Wand aus großen Monitoren. Kein natürliches Licht störte die Arbeit in diesem ovalen Hochsicherheitsbereich im Kern der 38. Etage. Dennoch schimmerte Lenis rotes Haar und strahlte eine Wärme aus, die nicht zur unterkühlten Technik passen wollte, die sie umgab. Sie arbeiteten in einer künstlichen Gebärmutter, zwei verlorene Keimlinge. Ihm gefiel das. Sie sprang sofort auf, als er eintrat.

»Phil!«

Es war ihre gewohnte Art, ihn zu begrüßen, jeden Tag, freudig, als hätten sie sich lange nicht gesehen. Peinlich genau hielt sie den Abstand von einem Schritt ein, um ihm nicht die Luft abzuschneiden. Leni Kraus war nicht nur eine disziplinierte, zuverlässige Programmiererin. Leni war auch ein gutes Mädchen. Vielleicht sollte er ihr das eines Tages sagen. Wie gewohnt erwiderte er den Gruß mit freundlichem Kopfnicken. Der Sprechapparat blockierte, sobald sein Blick die Information auf den Bildschirmen erfasste. Ohne Anstrengung verschaffte er sich sofort den Überblick. Die News blendete er aus. Mehr als einige Schlagzeilen zu konsumieren lohnte sich nicht, da konnten die TV-Anstalten noch so viele Sondersendungen einschalten. Im Moment war einzig sein Projekt wichtig. Alles andere ging den gewohnten Gang, wie die Displays bestätigten.

»Nicht viel los heute«, klagte Leni.

Der Becher mit kaltem Wasser stand bereits neben den Tastaturen, als hätte sie sein Kommen vorausgeahnt. Sie fragte nicht nach dem Grund für das späte Erscheinen kurz vor Mittag. Gutes Mädchen, ging ihm wieder durch den Kopf. Er verspürte nicht die geringste Lust, überhaupt nur an den verlorenen Vormittag zu denken. Bereits zum dritten Mal hatte ihn dieser unmögliche Kommissar Fischer zur Nacht der Morde in Aachen vernommen. Zum dritten Mal hatte er dieselben Fragen gehört. Zum dritten Mal hatte er ihm wortwörtlich dieselben Sätze an den Kopf geworfen. Zum dritten Mal wäre er fast gestorben, erstickt in der giftigen Atmosphäre voller Misstrauen und latenter Gewalt im LKA Düsseldorf.

Sein Projekt entwickelte sich überraschend gut. Während er die Protokolle studierte, wuchs die Zuversicht, nah am Ziel zu sein. Künstliche Intelligenz stand erst am Anfang der Entwicklung. Als Spezialist war ihm das bewusst wie keinem Laien. Stand er jetzt wirklich vor dem großen Durchbruch, ausgerechnet hier in John Steins verbotener Zone mit modernstem Computerequipment, das für eine Uni gereicht hätte, dem Symbol von Johns Hybris? Hatte er den Durchbruch schon geschafft? Würde sein Algorithmus den Turing-Test bestehen? Würde man das Verhalten seines Programms von demjenigen eines intelligenten Menschen nicht mehr unterscheiden können? Entwickelte sein Algorithmus echte Intelligenz? Das zu entscheiden, war keine leichte Aufgabe, denn auch Computerintelligenz entwickelte sich allmählich, fast unbemerkt. Sie war nicht plötzlich da. Um die notwendigen Tests durchzuführen, brauchte er Unterstützung von unabhängigen Wissenschaftlern und Laien. Leni würde helfen aber bei Weitem nicht genügen. Zurück an die Uni? Irgendwann gab es wohl keine andere Lösung mehr. Vorderhand hielt ihn allerdings zu viel in Köln fest.

 

»Du denkst an deine Mutter«, stellte Leni fest, die sein Mienenspiel aufmerksam beobachtete.

Er schüttelte den Kopf. »Nein – ja, doch, irgendwie schon.«

»Sie tut mir so leid, Phil. Ich habe sie ja nur einmal kurz gesprochen …«

»Kurz bevor sie der Zufall umgebracht hat«, unterbrach er düster. »Es gibt Zufälle, die töten wie die Kugel eines Wahnsinnigen den alten Rosenblatt getötet hat.«

»Die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu sterben, ist leider viel höher als die, von einer Kugel getroffen zu werden«, versuchte sie zu trösten. »Entschuldige«, fügte sie hastig an, als sie sein betroffenes Gesicht sah.

»Du musst dich nicht für eine Tatsache entschuldigen. Das ist unlogisch.«

Ihre leise Antwort ging in Chopins Trauermarsch unter. Das blonde Gift rief an.

Die Chefstrategen der PR-Agentur Stein waren im Wolkenkuckucksheim versammelt, wie er das Sitzungszimmer mit der besten Aussicht Kölns nannte. Das übliche Brainstorming für einen neuen Auftrag war im Gang. Er verspürte den starken Drang, sich gleich wieder in die Gebärmutter zurückzuziehen. Brainstorming hielt er für verlorene Zeit. Beauty Contests, um den Chef zu beeindrucken, wäre seiner Meinung nach die korrekte Bezeichnung für Brainstormings.

Greta winkte ihn zur Seite. Während die andern sich weiterhin mit abenteuerlichen Vorschlägen an der Pinnwand überboten und Lösungsansätze zu gewichten suchten, für die es keine Gewichte gab, klärte sie ihn auf.

»Wir werden eine Kampagne starten, um ein positives Klima für Verhandlungen mit China zu schaffen«, begann sie.

»Freihandel mit China – die Stahlbarone werden begeistert sein.«

Sie wischte den Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung weg. »Im Moment haben wir tatsächlich fast das ganze Volk gegen uns. Genau deshalb werden wir diesen Auftrag an Land ziehen. Wer sind wir denn? Wenn es jemand schafft, die Stimmung im Volk zu drehen, dann doch wohl wir, nicht wahr?«

Ihrem selbstsicheren Gesichtsausdruck nach zu urteilen glaubte sie, was sie sagte.

»Im Übrigen lohnt es sich für uns alle«, fügte sie lächelnd hinzu.

Geld interessierte ihn nicht. Er verdiente genug für ein anständiges Leben. Allerdings – seine Schwester könnte einen Zuschuss gut gebrauchen, fiel ihm rechtzeitig ein, bevor er eine abschätzige Bemerkung machte. Pias Bar musste dringend saniert werden.

»Und was habe ich damit zu tun?«, fragte er.

»Abwarten.«

Sie wandte sich mit einem Wink an John. Der gebot dem Durcheinander Einhalt. Alle setzten sich mit geröteten Wangen an den Tisch.

»Leute, wo stehen wir?«, fragte der Chef, die Zettel an der Pinnwand im Blick.

Es war die Aufforderung an den Jüngsten, den Stand des Gedankenaustauschs zusammenzufassen. Phil erkannte, worauf es hinauslief, bevor der nervöse junge Mann ein Wort sagte. An der Seite der Pinnwand, die schlicht mit positiv überschrieben war, hefteten nur wenige Zettel mit Ideen, keine davon überzeugend, fand er. Die negative Seite enthielt eine Menge Zettel aber auch nichts wirklich Neues. Einige Vorschläge schrammten hart an der Grenze der Legalität vorbei. Die würden Steins Anwälte in der Luft zerreißen. Prominente Gegner des Freihandels und Wortführer der Protestbewegung wie Lotte Engel durch Diffamierung und Mobbing mundtot zu machen, wären zwar die wirksamsten Mittel, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen, wie John scherzhaft bemerkte.

»Die PR-Agentur Stein wendet aber keine solchen dirty Tricks an«, stellte er klar. »Wir gehen subtil vor.«

Greta übernahm. »Ich denke, wir sind uns aber einig, dass nur eine negative Kampagne zielführend sein kann. Es gibt einfach zu wenige Argumente für den Freihandel aus Sicht unseres Auftraggebers, die nicht genauso gut als Gegenargumente verwendet werden könnten. Statistische Fakten sind leider heutzutage nicht mehr nur simple Tatsachen, sondern Argumente, die man bekämpft. Vergessen wir also die Statistik. Konzentrieren wir uns aufs Bauchgefühl des kleinen Mannes auf der Straße.«

Wie lange wollen die noch um den heißen Brei herum reden?, fragte er sich. Seine Aufmerksamkeit drohte nachzulassen. Das war gefährlich, solang sich jemand wie Greta im Raum befand. Die flüsterte John etwas ins Ohr. Er nickte. Sie kam zur Sache.

»Dieser Auftrag ist mit Abstand der lukrativste seit Langem. Wir müssen ihn unter allen Umständen akquirieren. Die Offerte wird unseren Freund von der Lippe glatt aus den Socken hauen, Leute! Wir brauchen alle Argumente und Angriffspunkte der Gegner klipp und klar auf dem Tisch. Jeder Punkt mit Aktionsplan, aber ihr wisst ja, wie der Hase läuft. Das ist die Grundlage. Die brauchen wir in zwei Tagen. Länger dürfen wir von der Lippe nicht hinhalten.«

Sie trank einen langen Schluck aus ihrer Wasserflasche, bevor sie weitersprach, den Blick auf ihn gerichtet, dass ihn unmittelbar fröstelte.

»Das alles genügt natürlich nicht. Phil und sein Supercomputer werden die Netz-Kampagne vorbereiten. Diesmal brauchen wir mehr als ein paar Webseiten und nette Blogs. Wir können von der Lippe nur überzeugen, wenn wir demonstrieren, dass die Kampagne bereits erfolgreich angelaufen ist. Unsere Analysten liefern wie gewohnt den Inhalt. Phil, wir brauchen mindestens einige Tausend Twitter Follower am Thema, wenn wir den Kunden überzeugen wollen. Schaffst du das in der kurzen Zeit?«

»Aber sicher schafft er das«, lachte John. »Es wird Zeit, dass sich die Investition in deine KI-Forschung auszahlt, Phil, nicht wahr?«

»Der Erfolg von Forschung ist nicht planbar«, antwortete er automatisch, »das habe ich schon ganz am Anfang betont.«

Er wandte sich demonstrativ an Greta. Sein Gehirn verweigerte den weiteren Dialog mit dem Chef. Es war vollauf mit ihrem überraschenden Ansinnen beschäftigt. Bisher konnte er mehr oder weniger unabhängig vom Alltag der Agentur die Arbeit weiterverfolgen, die er an der Uni unterbrechen musste. Einsatzmöglichkeiten von künstlicher Intelligenz in Public Relations: Sein ungenau umschriebener Auftrag ließ viele Interpretationen zu. Jetzt sollte seine experimentelle Software von einem Tag auf den andern Geld in die Kasse spülen?

Alle Augen richteten sich auf ihn. Zu viel Aufmerksamkeit blockierte das Denken. Es kostete ihn große Anstrengung, die andern auszublenden und sich auf Gretas goldenes Halskettchen zu konzentrieren. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn, bis der Denkapparat die in dieser Situation einzig vernünftige Frage formulierte:

»Wie stellst du dir das vor?«

Ein spöttisches Lächeln umspielte Gretas Mund. Sie hatte die Frage erwartet, antwortete ohne Zögern:

»Es wird dir nicht schwerfallen, ein paar virtuelle Freunde und Follower zu organisieren.«

Wusste sie, wovon sie sprach? Er zweifelte daran und fragte nach. Auch darauf antwortete sie sofort:

»KI kann doch auch Nutzer simulieren, oder irre ich mich? Vergiss nicht: Wir leben von Illusionen. Die Motivation unserer Kunden ist Voraussetzung für den Erfolg jeder Kampagne. Da kommt deine Software ins Spiel.«

»Ihr erwartet ernsthaft von mir, bei diesem Falschspiel mitzumachen? Glaubt ihr, die Automobilindustrie falle auf ein paar Tausend Sockpuppets, Social Bots und Google Bombs herein?«

John Stein reichte es. Er reagierte allergisch auf negative Schwingungen in seinem Sitzungszimmer und Fremdwörter, die er nicht verstand.

»Phil, wir diskutieren das hier nicht weiter, zumal wir Laien nur Bahnhof verstehen. Wenn du konkrete Fragen hast, richte sie an Greta. Ansonsten erwarte ich zügig Resultate.« Nach einem lauernden Blick in die Runde fuhr er fort: »Wir treffen uns hier jeden Morgen um sieben fürs Statusmeeting. Alles klar? Los geht›s, Leute, packen wir›s an!«

Was hat mich bloß geritten, hier anzufangen?, fragte sich Phil nach der anschließenden Diskussion mit Greta. Er zweifelte nicht zum ersten Mal am Sinn seiner Arbeit für John Stein, und er kannte die Antwort auf die Frage längst ganz genau.

Die Hiobsbotschaft seiner Mutter hatte ihn mitten aus der Doktorarbeit in Edinburg gerissen. Hals über Kopf musste er nach Köln zurückkehren, um die todkranke Frau zu unterstützen. Von einem Tag auf den andern brauchten er und seine Schwester viel Geld für Pflege, Therapie und Medikamente. Enorme Kosten, die nicht von der Kasse übernommen wurden. So stand es im Kleingedruckten, das seinerzeit niemand gelesen hatte. Technisch arbeitslos, gab ihm keine Bank Kredit. Die Limite der Schwester war sowieso ausgereizt. Zwecklos, sich jedes Mal wieder darüber zu ärgern. Die Antwort auf die berechtigte Frage lautete ganz profan: Er brauchte Geld. Im Grunde müsste er John dankbar sein, denn nicht nur die Kohle stimmte, es gab auch an der hochmodernen und leistungsfähigen Infrastruktur in der verbotenen Zone nichts auszusetzen – und er fand genug Zeit, seine Forschung voranzutreiben. Bis jetzt.

Mit einem leisen Fluch schlüpfte er wieder in den Schoß der Gebärmutter. Leni sah ihn erwartungsvoll an, ohne Fragen zu stellen. Sie konnte sich ausmalen, in welcher Verfassung er von einer solchen Sitzung zurückkehrte. Auch das zeugte von ihrem guten Charakter. Sie hielt die Klappe, wenn es darauf ankam. Er setzte sich an seinen Platz, starrte eine Weile an die unsichtbare Decke, so schwarz war die. Schließlich sah er sie an und sagte:

»Wir haben ein Problem.« Nach kurzer Pause korrigierte er sich: »Das heißt, ich habe ein Problem. Vielleicht hast du keins damit.«

Er brauchte nicht viel zu erklären, bis sie sein Dilemma verstand.

»Greta will also, dass wir einen Twitter Account für die Kampagne eröffnen und ein paar Tausend Fake Followers aus dem Hut zaubern«, fasste sie zusammen. »Technisch kein Problem, das weißt du. Du hast moralische Bedenken.«

»Das ist doch ein billiger Taschenspielertrick, um den fetten Auftrag an Land zu ziehen«, brauste er auf.

Sie stimmte zu, gab aber zu bedenken, dass es offenbar um viel Geld ging, wovon sie alle profitierten. Tatsächlich, Greta rechnete mit einem Gesamtvolumen von fünf Millionen Euro, wie sie ihm hinter vorgehaltener Hand versichert hatte. Er verschwieg die Summe, um nicht am Ende Lenis Begeisterung für den zu erwartenden Bonus zu wecken.

»Sieh’s mal so«, begann sie nach einer Denkpause. »Wem schadet die kleine Flunkerei?«

Er zögerte, schüttelte dann den Kopf. »Es ist einfach unmoralisch.«

Sie lachte. »Deinen Kodex in Ehren, aber ich glaube, du irrst. Unmoralisch wär‘s doch nur, wenn die Firma lediglich auf Kosten anderer profitierte.«

Zu diesem Thema hätte er einige Argumente parat, wollte jedoch nicht weiter darüber diskutieren. Sie sah kein Problem in Gretas Auftrag und wusste, was zu tun war.

»O. K., dann nichts wie los, bereite alles vor«, sagte er nur und widmete sich wieder seinem Programm.

Es wurde still in der Gebärmutter. Einzig die Ventilatoren der Serverfarm summten einschläfernd weiter, hin und wieder von einer Tastatursalve unterbrochen. In die Arbeit versunken, nahmen sie kaum Notiz voneinander, bis sie aufstand, sich dehnte und neugierig auf seine Bildschirme schaute.

»Eines Tages musst du mir erklären, was du da eigentlich treibst.«

Es war nicht ihre Schuld. Sie unterbrach seinen wichtigen Gedankengang ohne Absicht, aber der Gedanke war weg. Die Arbeit stockte abrupt, und er verlor die Beherrschung. Ein böses Schimpfwort entschlüpfte ihm, das er bereute, bevor es verklungen war. Hastig packte er seine Sachen zusammen und verließ den Raum fluchtartig.

Leni starrte ihm wie versteinert nach. Sie war seltsame Reaktionen von ihrem Kollegen gewohnt, aber die war neu. Ihr blieb indessen keine Zeit, darüber nachzudenken. Gretas Mail mit den ersten aufzuschaltenden Texten traf ein. Phil rückte in den Hintergrund. Sie würde Gretas Deadline nicht einhalten ohne volle Konzentration auf die Arbeit.

 

Sie war dabei, die letzten Sockpuppets anzulegen, Mehrfach-Konten, um viele verschiedene Benutzer vorzutäuschen, als der System-Monitor ungewöhnliche Aktivitäten anzeigte. Riesige Mengen an Datenpaketen wurden empfangen. Keines ihrer Programme war dafür verantwortlich. Sie versuchte, den Sünder zu lokalisieren. Es gab kein Anwendungsprogramm im ganzen internen Netzwerk, das diese Daten verarbeitete. Schließlich entdeckte sie eine System-Task, einen Dämon, der im Hintergrund lief und die Daten konsumierte wie ein schwarzes Loch. Sie überlegte sich kurz, das unheimliche Programm abzuschießen. Der Gedanke verflüchtigte sich rasch, als sie feststellte, unter welchem Account der Dämon gestartet worden war.

»Phil, was zum Geier soll das werden?«, fragte sie den Bildschirm kopfschüttelnd.

Er musste den Datentransfer remote ausgelöst haben. Das war nicht der einzige Umstand, der sie verstörte. Viel verwirrender fand sie die Tatsache, dass es in ihrem System keinen Input-Kanal gab, der solche Transferraten zuließ. Sie verstand gar nichts mehr.

Ziellos durch die Stadt irren, half nicht. Der Gedanke war verloren. Wenige Schritte vor dem Hauptbahnhof auf der Domplatte besann Phil sich eines Besseren. Im Laufschritt rannte er durch die Unterführung auf die andere Seite des Bahnhofs und den Eigelstein hinunter zu Pias Bar.

Er wählte den Hintereingang, der direkt über die Treppe zu seinem RZ, dem privaten Rechenzentrum, führte. Es bestand aus einer fensterlosen Abstellkammer schräg gegenüber Monis Arbeitszimmer in der ersten Etage. Die Wände waren dünn, der einzige Nachteil dieses unauffälligen Altbaus, in dem zwar jedermann viel beschäftigte leichte Mädchen wie Moni vermutete aber niemand einen KI-Forscher mit modernster Technik auf der Suche nach dem Heiligen Gral der Informatik. Die Kammer mit der Aufschrift privat war der ideale Rückzugsort. Außer Moni und seiner Schwester wusste niemand, dass er dort manchmal nächtelang am Computer saß oder irgendwelche Gadgets zusammenlötete, deren Zweck sich keiner normalen Menschenseele erschloss.

Statt das RZ zu betreten, klopfte er an Monis Tür, nicht ohne sich vorher zu versichern, dass niemand über ihr stöhnte.

»Die Türe ist offen, Max«, antwortete sie mit der Glockenstimme, die wie geschaffen war für ihren harten Beruf.

Er öffnete einen Spaltbreit.

»Sorry, Moni, ich bin›s.«

Sie stand wie der Blitz bei ihm. Ohne die Stimme hätte er sie kaum erkannt. Riesige Fledermausohren, mit denen sie bestimmt fliegen konnte, das Gesicht schneeweiß, als wäre sie beim Bäcker ins Mehl gefallen, die Augen fast Schlitze über die ganze Breite des Gesichts, grasgrüne Mähne bis in die Kniekehlen, ein ebenso grüner Stringtanga mit goldenem Rand, sonst nichts. So stand sie da, die Arme in die Seiten gestemmt, bereit, dem Störenfried eine Standpauke zu halten.

»Um Gottes willen, wie siehst du denn aus?«, fragte er albern.

»Geht dich gar nichts an. Was willst du? Ich habe jetzt keine Zeit.«

»Ach so, der Max, verstehe.«

»Gar nichts verstehst du, aber du solltest jetzt verschwinden. Mein Kunde wird sich sonst erschrecken.«

Er lachte. »Ich denke, den kann nichts mehr erschrecken, wenn er es mit so einem Monster treibt.«

»Willst du mich beleidigen?«

»Nein!«, wehrte er hastig ab. »War ein Scherz. Habe schon bessere gemacht, ich gebe es zu. Kannst du mir eventuell mit etwas Casablanca aushelfen, wollte ich fragen.«

Sie verschwand, kehrte nach einer Millisekunde mit dem Briefchen zurück und stieß ihn weg. »Jetzt hau ab. Max ist gleich da.«

Die Tür flog zu. Zu spät, ihr Kunde betrat gerade den Korridor. Erschrocken hielt er inne, wollte umkehren.

»Max!«

Der gepflegte, ältere Herr, Typ Apotheker mit Familienbetrieb, erstarrte.

»Kommen Sie, die kleine Meerjungfrau wartet schon sehnsüchtig. Mich haben Sie gar nicht gesehen.«

Noch bevor Monis Kunde sich wieder umwandte, verschwand er im RZ. Beruhigt hörte er gedämpfte Stimmen an Monis Tür, während er das Briefchen Marokkaner zu einem handlichen Joint rollte.

»Rauchen tötet«, krächzte Hermann auf dem Büchergestell hinter seinem Rücken.

Der künstliche Papagei besaß einen Rauchmelder, den er eigentlich eingebaut hatte, um Brandgefahr zu melden.

»Halt die Klappe, Hermann!«

Das blecherne Vieh hielt sich normalerweise nicht an seine Anweisungen. Diesmal schwieg der Papagei, ein Zeichen, dass er sich beleidigt fühlte. Nach ein paar Zügen spürte Phil die Entspannung. Die düstere Kammer erschien ihm heller, beinah ein wenig rosa. Die Melancholie ließ nicht auf sich warten, dann rückte der Alltag in weite Ferne, verkroch sich in der Wolke des Vergessens, bis die Wolke sich verformte und Lenis Gesichtszüge annahm.

»Leni«, murmelte er, »ich fürchte, ich habe sie verletzt.« Schnell brachte er den traurigen Rest des Joints noch einmal zum Glühen. »Hermann, was meinst du? Habe ich sie verletzt?«

Das Vieh schwieg.

»Hermann, ich habe dich etwas gefragt.«

»Ich soll die Klappe halten.«

»Aber doch nicht, wenn ich dir eine Frage stelle.«

»Wie lautet die Frage noch mal?«

»Verarschen kann ich mich selber, Alter. Also, was ist jetzt. War ich zu grob zu Leni?«

»Vielleicht«, krächzte der Vogel. »Vergiss nicht: Wenn wir einen Menschen glücklicher und heiterer machen können, so sollten wir es in jedem Fall tun, mag er uns darum bitten oder nicht.«

Jetzt kam die Nummer mit den Zitaten, die er sich selbst eingebrockt hatte, weil er den Vogel seinerzeit den ganzen Hermann Hesse lesen ließ. Es war nur ein blöder Test gewesen, aber seither wurde das Vieh nicht müde, daraus zu zitieren, und seither hieß er Hermann.

»Ich habe das Glasperlenspiel auch gelesen«, gab er unwirsch zurück, »war dröger Abi-Stoff.«

»Ich wollte nur helfen.«

Es klang wieder beleidigt, obwohl er wusste, dass er sich das nur einbildete. Der Papagei besaß bloß eine fixe, ziemlich rostige Stimme.

»Ich brauche Musik«, sagte er und wandte sich dem Computer zu, »muss arbeiten.«

Hermann gehorchte, schaltete die Surround-Sound-Anlage ein, kalibrierte die sechs Lautsprecher auf seinen Standort und justierte die Beleuchtung für stressfreies Arbeiten.

»Nicht wieder den Trauermarsch! Mensch, wie oft muss ich dir das noch beibringen?«

»Ich bin kein Mensch«, krächzte die Maschine, »hast du selbst gesagt.«

»Ist ja gut jetzt. Nerv mich nicht! Die Nocturnes.«

»Bitte.«

»Was?«

»Bitte heißt es«, krächzte Hermann.

Phil schüttelte grinsend den Kopf. Der Vogel reagierte schon verblüffend menschlich, als besäße er Gefühle. Einfache Gemüter wie Moni oder ihr Max würden wohl darauf hereinfallen. Der Trauermarsch lief immer noch. Die düsteren Akkorde hinderten ihn am Denken, also tat er Hermann den Gefallen.

»Die Nocturnes bitte.«

»Geht doch.«

Die Musik wechselte. Nun passte sie perfekt zu seiner Wolke. Der zündende Gedanke wollte sich dennoch nicht wieder einstellen. Enttäuscht widmete er sich der anderen Aufgabe, die er stets vor sich hergeschoben hatte. Sein Algorithmus benötigte Daten, tonnenweise Daten aus dem Netz. Die Quellen waren identifiziert, zumindest für einen vernünftigen Testbetrieb. Drei Probleme blieben noch zu lösen. Um Entscheidungen in Echtzeit, also ohne Verzug, fällen zu können, musste der notwendige Input sozusagen augenblicklich zur Verfügung stehen. Das war natürlich nur annähernd zu schaffen über ein riesiges Netz von Dämonen, die auf Tausende Rechner verteilt gleichzeitig Daten sammelten und filtrierten.

Sein Programm war bereits fähig, diese Hilfsprogramme unbemerkt auf bis zu einer Million Rechner im Netz zu verteilen und binnen Sekunden zu aktivieren. Er war trotzdem nicht zufrieden mit der Arbeit. Professionell ausgerüstete Hacker oder Behörden würden den Ursprung der digitalen Invasion, sein Programm, rasch ermitteln. Das durfte nicht geschehen, denn jeder Eingriff von außen verfälschte potenziell das Ergebnis.