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Kapitel 5

Lubmin

Jonas Ullrich setzte sich bescheiden auf einen der hinteren Sessel in der Fabrikhalle, die als Auditorium für den Festakt diente. Er wusste wie jeder andere im Raum, dass dies auch seine Feier war. Die jahrelange Tüftelei, die vielen Rückschläge, die hartnäckige Suche nach extrem widerstandsfähigen Werkstoffen, die auch noch bezahlbar waren, die ganze, buchstäblich aufreibende Arbeit war nicht umsonst gewesen. Ihre kleine Firma ›TransX‹ am Greifswalder Bodden im äußersten Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns würde bald Geschichte schreiben. Spätestens nach der ersten Pressekonferenz würden nicht nur die handverlesenen Leute in dieser Halle begreifen, dass der Name ›TransX‹ nicht vom Wort Transport abstammte. Die Spezial-Lkws auf dem Fuhrpark betrachtete er als Tarnung, obwohl die ›TransX‹ gut im Geschäft mit dem Transport gefährlicher Güter etabliert war.

Der Firmengründer und CEO, Professor Dr. Niklas Volkmann, brachte es auf den Punkt:

»Als Naturwissenschaftler neige ich zu Nüchternheit und gesunder Skepsis, aber heute darf ich mit gutem Gewissen behaupten: Wir stehen an der Schwelle eines neuen technischen Zeitalters. Die ›TransX‹ hat das bisher Unmögliche möglich gemacht: die sichere und endgültige Beseitigung des Atommülls. Erst war es nicht mehr als ein verwegener Traum, von dem man kaum einem Wissenschaftler erzählen durfte, ohne sich lächerlich zu machen. Viele von uns wissen ein Lied davon zu singen. Doch nun hat sich das Blatt gewendet. Wir werden der Welt beweisen, dass es nur einen richtigen Weg gibt, das Problem des Atommülls zu lösen, unsern Weg. Seit mehr als einem halben Jahrhundert, seit der erste Kernreaktor ans Netz ging, haben Wissenschaft und Technik vergeblich nach einem Weg gesucht, die strahlenden Abfälle sicher zu entsorgen. Wir wissen: Vergraben und vergessen ist keine Lösung. Einzig unsere hier am Rande des beschaulichen Seebads Lubmin entwickelte Technik erlaubt es, gefährliche radioaktive Stoffe mit Halbwertszeiten von Tausenden und Millionen Jahren endgültig zu beseitigen.«

Applaus dankte ihm für diese Streicheleinheiten. Mit ernster Stimme fuhr er weiter, ganz der väterliche Chef:

»Niemand sonst hat das bisher geschafft. Darauf dürfen wir stolz sein, und darauf erhebe ich mein Glas. Auf die glänzende Zukunft unserer Firma!«

Niemand außer den in der Halle versammelten Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern kannte die Geheimnisse des komplexen Verfahrens. Nicht einmal die Familien wussten, womit sich ihre Ehemänner oder Gattinnen bei ›TransX‹ wirklich beschäftigten. Ein einziger Externer war zu diesem ersten, geschlossenen Teil der Feier geladen: Dr. Lukas Voss, der stellvertretende Leiter des Fachbereichs Sicherheit nuklearer Entsorgung beim Bundesamt für Strahlenschutz. Er trat hoch erhobenen Hauptes ans Mikrofon, ein stolzes Lächeln auf dem Gesicht, als hätte er selbst das Problem gelöst, an dem sich sein Amt seit der Gründung die Zähne ausbiss.

»Verehrter Professor Volkmann, meine Damen und Herren«, begann er. »Ich will mich kurz fassen. Zuerst möchte ich Sie alle auch im Namen des BfS zu Ihrem außerordentlichen Erfolg beglückwünschen. Professor Volkmann hat die Bedeutung Ihrer Leistung eindrücklich geschildert. Dem ist nichts beizufügen. Denken wir aber bei aller berechtigten Freude daran, dass der Weg noch nicht zu Ende ist. Noch sind nicht alle Tests abgeschlossen, wie wir wissen. Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass auch die letzten Versuche mit der Produktion in industriellem Maßstab von Erfolg gekrönt sein werden. Bis es aber soweit ist, muss ich Sie bitten, weiterhin absolutes Stillschweigen gegen außen zu bewahren. Nach Abschluss der Tests wird die Öffentlichkeit staunend zur Kenntnis nehmen, dass sich das leidige Endlagerproblem sozusagen über Nacht in eine unbedeutende Fußnote der Geschichte ›transmutiert‹ hat. Und nun: Genießen Sie das Fest.«

Jonas Ullrich beobachtete mit einem Gefühl von Bitterkeit, wie sich die Halle vor dem Höhepunkt der Feier mit Angehörigen seiner Kollegen füllte. Wie jedes Mal in Gesellschaft fröhlicher Paare und Familien bedrückte ihn die innere Leere besonders stark. Seit Johannas Tod lebte er zurückgezogen in seinem Schneckenhaus, aus dem er nur hervorkroch, um in der Firma zu arbeiten. Er hielt sich abseits der Gruppen, die sich spontan bildeten. Bekannte und Freundinnen, die sich gemeinsam am Büfett verpflegten, die Gelegenheit nutzten, Erlebnisse mit Kindern und Urlaubserinnerungen auszutauschen und sich über den braunen Sumpf in Rostock aufzuregen, der auf Muslime einprügelte, als hätte es keinen NSU-Prozess gegeben. Zu solchen Diskussionen konnte er nichts beitragen. Nur aus Anstand blieb er, um sich wenigstens den Anfang der Darbietung anzuhören, die Volkmann als Überraschung angekündigt hatte.

Anna Volkmann bat die Gäste, Platz zu nehmen. Hand in Hand mit ihrem Gatten kündigte sie die Überraschung an:

»Sie ist in den großen Konzertsälen Europas und bald in den USA zu Hause. Sie jettet zwischen Wien, Berlin, Mailand, Paris und London hin und her. Glauben Sie mir, es war nicht leicht, einen freien Termin für diesen Anlass in ihrem Kalender zu finden. Aber jetzt dürfen wir uns auf einen ganz besonders glanzvollen Höhepunkt freuen, den man sonst nur für teures Geld in den großen Metropolen erlebt.«

Sichtlich gerührt drückte sie Professor Volkmanns Hand und sah mit geröteten Wangen zu ihm auf, stolz wie ein Mädchen nach bestandener Prüfung. Dann sprach sie mit bewegter Stimme weiter:

»Jetzt ist sie für uns da, die wunderbare Pianistin Leonie Volkmann, unsere Tochter.«

Applaus brandete auf. Jonas Ullrich klatschte einige Takte mit, ohne auf die elegant in rote Seide gekleidete Frau zu achten, die wie aus dem Nichts auftauchte, von ihren Eltern mit Umarmungen und Küsschen begrüßt wurde und sich dann artig vor dem Publikum verbeugte. Zwei Arbeiter räumten die Stellwände weg, die den Konzertflügel verbargen. Leonie Volkmann setzte sich ans Instrument. Der Applaus ebbte ab, das Getuschel verstummte. In der Halle war es so still, dass Jonas sein eigenes Atmen hörte, als die ersten, leisen Töne erklangen. Leonie brachte mit ihrer Kunst den Flügel zum Singen. Sie spielte ein romantisches Stück, das wehmütig, verträumt begann und in überbordender Freude endete. Er kannte das Stück nicht, aber die Musik rührte ihn beinahe zu Tränen, wie jedes schöne Klavierspiel, weil es ihn an seine Johanna erinnerte. Leonie erhob sich und dankte lächelnd für den Beifall; die große Künstlerin, die eine Fabrikhalle mit schlechter Akustik genauso zum Klingen brachte wie den Konzertsaal der Berliner Philharmonie. Sie sprach ein paar Worte ins Mikrofon, um das nächste Stück anzukünden, ein Nocturne von Chopin.

Jonas Ullrich hörte ihre Stimme zum ersten Mal. Die Stimme seiner verstorbenen Johanna! Wie vom Donner gerührt, starrte er die Frau an. Sein Puls spielte verrückt. Schweißperlen traten auf die Stirn. Ein kalter Schauer jagte ihm über den Rücken. So etwas war unmöglich. Es musste Einbildung sein. Leonie begann zu spielen, aber er konnte nicht mehr ruhig sitzen bleiben. Die Frau mit Johannas Stimme zog ihn mit unwiderstehlicher Kraft an. Behutsam, sich stumm links und rechts entschuldigend, näherte er sich dem Flügel. Er setzte sich auf einen freien Stuhl in der vordersten Reihe. Leonies Gesicht blieb im Halbdunkel, während sie spielte. Sobald sie sich zum zweiten Mal erhob, um sich zu verbeugen, erkannte er die Gesichtszüge deutlich. Sein Atem stockte. Vor Schreck sprang er auf, denn vor ihm stand Johanna, genauso wie sie ihm seit dreißig Jahren jeden Abend vor dem Einschlafen auf dem Foto zulächelte.

Drehe ich durch?, war sein erster Gedanke, doch es gab keinen Zweifel: Leonie Volkmann glich seiner Frau Johanna aufs Haar. Auch um ihn herum erhoben sich die Zuhörer, um die Künstlerin mit stehender Ovation zu feiern. Er aber zog sich in sein Schneckenhaus zurück. Unberührt von der Begeisterung, blendete sein Geist die Umgebung aus und versuchte nur noch, das Wunder zu begreifen, das diese Frau für ihn darstellte.

Die Erinnerung an den schlimmsten Tag seines Lebens schlich sich in seine Gedanken. Das Gesicht der Frau am Flügel verlor die Farbe wie Johannas Gesicht, nachdem ihr Blut sich mit dem Wasser in der Wanne vermischt hatte. Er kniete neben seiner Frau, die leblose Hand an seinem Mund, unfähig zu erfassen, dass sie ihn für immer verlassen hatte. Ein Jahr lang vegetierte sie mehr als sie lebte, versuchte den Verlust ihrer Tochter zu ertragen. Nun hatte der Schmerz sie besiegt. Er war zu groß für die junge Mutter. Sie gebar Marie, während er in Bautzen einsaß. Die Stasi dichtete ihm nach seinem Austritt aus dem medizinischen Team der DDR-Olympiamannschaft verbotene Auslandskontakte an. Er wollte den Doping-Wahnsinn nicht mehr mitmachen. Als ehemaliger Insider stellte er eine Bedrohung für die Brüder dar. Wahrscheinlich war das der Grund, für die systematischen Schikanen des Ministeriums für Staatssicherheit, die er und Johanna danach ertragen mussten. Es dürfte die Folterknechte der Stasi besonders gereizt haben, ihn erst Tage nach der Geburt ihres Kindes freizulassen. Bis dahin hatten sie ihm jeden Kontakt zu Johanna verweigert. Für ihn war die DDR zur Hölle geworden, aber der Gedanke an Johanna und das Kind entschädigte ihn für alles. Glücklich kehrte er heim, stieß die Wohnungstür auf und fand seine Frau zusammengesunken, mit blassem Gesicht, teilnahmslos am Küchentisch sitzend, den Sparschäler in der Hand, die unberührten Kartoffeln daneben.

»Was ist geschehen? Wo ist das Kleine?«, fragte er entsetzt.

Sie reagierte lange nicht, als hätte sie ihn nicht wahrgenommen. Er suchte wie besessen in der Wohnung nach der kleinen Marie, bis Johanna ihn schließlich mit dem Satz stoppte, der immer noch in ihm nachhallte:

 

»Marie ist tot.«

Nach und nach erfuhr er, was geschehen war. Die Ärzte im Spital hatten von Komplikationen gesprochen. Johanna wurde in Vollnarkose gelegt, Marie mit Kaiserschnitt zur Welt gebracht. Nach dem Aufwachen erfuhr seine Frau von der Totgeburt. Sie hatte ein totes Mädchen geboren. Ihr Kind durfte sie nie sehen. Es gab keinen Abschied, kein Begräbnis. Marie erhielt nicht einmal einen offiziellen Namen. Ihre Tochter hatte nie existiert. Für sie beide aber blieb die kleine Marie allgegenwärtig. Johanna zog sich immer mehr in die Fantasiewelt einer glücklichen Familie zurück, bis sie nach aussichtslosem Kampf an der unerträglichen Wirklichkeit zerbrach. Marie wäre jetzt eine Frau wie Leonie, gleich alt, mit den gleichen, vornehmen Gesichtszügen, der gleichen, warmen Stimme.

Jonas Ullrich kehrte mit einem Schlag in die Gegenwart zurück. Ein wahnwitziger Gedanke schwirrte ihm durch den Kopf. Die Vorstellung war absurd, und doch ließ sie ihn nicht mehr los. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr deutete darauf hin, die Frau am Flügel könnte weniger mit den Volkmanns zu tun haben, als sie selbst ahnte. Jedenfalls glich sie weder dem Professor noch Anna Volkmann, die im schneidigen und schneidenden Ton eines Feldwebels sprach. War es möglich, dass Marie vor ihm saß, die Totgeburt nur vorgetäuscht worden war, um regimetreuen Genossen eine Adoption zu ermöglichen? Eine solche Ungeheuerlichkeit war den damaligen Apparatschiks zuzutrauen. Er schüttelte sich unwillkürlich. Der Gedanke verursachte Gänsehaut. Er musste Gewissheit haben. So bizarr ihm das Vorhaben erschien, ihm blieb keine andere Wahl. Er gesellte sich zur Gruppe, die sich nach dem Konzert um die Künstlerin scharte. Wie viele andere, erhob er sein Glas, wollte ihr danken, brachte jedoch kein Wort über die Lippen. Sie stellte ihr Wasserglas ab, um sich mit den Gästen zu unterhalten. Er wartete auf einen günstigen Augenblick, um das Glas mit ihren Speichelresten verschwinden zu lassen.

Am nächsten Morgen betrat er in aller Frühe das Labor seines alten Bekannten Kuno in der Rostocker Uniklinik. Der erkannte ihn im ersten Augenblick nicht und fragte mürrisch:

»Wer stört?«

»Jonas Ullrich, erinnerst du dich?«

Kuno sprang auf. »Jonas! Mensch! Warum sagst du das nicht gleich? Lange nicht gesehen. Was ist aus dir geworden?«

Jonas verspürte keine Lust, alte Geschichten auszugraben, und die Antwort auf Kunos Frage kannte er selbst nicht. Nach kurzem, belanglosem Geplänkel kam er zur Sache:

»Wie schnell kannst du einen Vaterschaftstest durchführen?«

Kuno stutzte, bevor er grinsend fragte: »Hast du nicht aufgepasst?«

Er überhörte die Frage, zog das Glas in der Plastiktüte aus der Tasche und sagte:

»Ich muss so schnell wie möglich wissen, ob die DNA an diesem Glas etwas mit mir zu tun hat.«

»So schnell geht das nicht, und …«

»Doch, schneller!«

Sein Gesicht ließ keinen Zweifel daran, wie ernst ihm die Angelegenheit war. Sein Bekannter schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wie stellst du dir das vor? So etwas kann ich nicht einfach zwischen Tür und Angel erledigen. Ich brauche einen offiziellen Auftrag, und es gibt Vorschriften. Ohne schriftliche Einwilligung der betroffenen Person oder ihres Rechtsvertreters geht gar nichts.«

»Die Person heißt Marie, und sie ist tot«, sagte Jonas leise.

Kuno sah ihn verständnislos an. Jonas ließ sich auf den nächsten Sessel fallen und überlegte. Er brauchte diese Analyse. Eine andere Möglichkeit sah er nicht. Nach langer Pause entschloss er sich, etwas zu tun, was er noch nie getan hatte. Er erzählte Kuno Maries Geschichte, wenigstens soviel davon, dass er begreifen musste, wie wichtig sein Anliegen war.

Wie erwartet, verschlug der ungeheure Verdacht auch seinem Bekannten die Sprache.

»Was willst du unternehmen, wenn das Resultat positiv ausfällt?«, fragte er schließlich zögernd.

»Ich weiß es nicht.«

Wieder starrten beide schweigend vor sich hin. Dann ging Kuno zu einem Schrank, zog ein Glasröhrchen aus einer Schublade und stellte sich vor ihm auf.

»Mund auf.«

Mit dem Wattestäbchen aus dem Röhrchen wischte er etwas Speichel aus der Mundhöhle. Er verschloss das Röhrchen mit der Probe, nahm die Plastiktüte mit dem Glas und sagte:

»Drei Tage. Schneller geht es nicht mit unsern Mitteln. Ich ruf dich an.«

Der Anruf erreichte Jonas kurz vor Feierabend nach zwei schlaflosen Nächten. Sein Puls schoss an die Decke, als er Kunos Nummer sah. Er zögerte, bevor er auf Empfang drückte, denn er wollte nur eine Antwort hören, und vor der graute ihm. Er meldete sich mit heiserer Stimme:

»Ja?«

»Ja«, bestätigte Kuno.

Das Büro begann sich um ihn zu drehen. Ihm wurde übel, als trudelte er im Sturzflug in ein schwarzes Loch. Kraftlos glitt er zu Boden, blieb an die Tür gelehnt sitzen und rang um Worte.

»Sie ist deine Tochter Marie«, fügte Kuno hinzu, als hätte er die Botschaft nicht verstanden.

»Bist – du – sicher?«, gelang ihm endlich zu stammeln.

»Der Test ist zu 99.999% sicher. Es besteht kein Zweifel: Du bist ihr Vater. Ich schicke dir die Ergebnisse.«

Jonas murmelte einen Dank und legte auf. Er hatte es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen, um Johanna die unfassbare Nachricht zu verkünden.

Er verließ die Wohnung wieder gegen acht Uhr an diesem lauen Sommerabend. Gegessen hatte er nichts. Er verspürte keinen Hunger, wusste aber jetzt, was zu tun war. Das Foto mit Johannas lächelndem Gesicht in der Tasche, schritt er entschlossen auf die Villa ›Weißer Schwan‹ zu, wo die Volkmanns seit den Zeiten der DDR wohnten. Das Haus des Professors war eines der schönsten Gebäude dieser Gegend im Stil der Bäderarchitektur. Weiß wie ein Schwan bildete es mit seinen großen Rundbogenfenstern, den Pilastern, Dreiecksgiebeln und Türmchen den Mittelpunkt eines weitläufigen Parks, der an die Strandpromenade grenzte.

Am Tor zur Einfahrt verließ ihn der Mut. Er schlenderte ziellos weiter. Am Strand setzte er sich in den Sand, zog das Bild aus der Tasche und sagte mit bitterem Lächeln zu Johanna:

»Was für eine bescheuerte Idee!«

Leonie war eine Volkmann. Ihre Adoptiveltern hatten sie aufgezogen, sie offensichtlich gefördert. Der ›Weiße Schwan‹ war ihr Zuhause. Nichts verband Leonie mit ihm und Johanna, mit Ausnahme der Gene. Leonie war und blieb Leonie Volkmann, nicht Marie Ullrich. Lange saß er grübelnd in der Abenddämmerung. Die Wellen brachen sich mit einschläfernder Regelmäßigkeit auf dem flachen Strand, liefen sich tot wie sein verkorkstes Leben.

Eine Joggerin näherte sich. Sie nickte ihm freundlich zu, war schon vorbei, als er sie erkannte. Wie elektrisiert sprang er auf.

»Leonie?«

Sie blieb abrupt stehen, drehte sich um und machte ein paar Schritte auf ihn zu.

»Kennen wir uns?«

»Ich war an Ihrem Konzert bei ›TransX‹. Sie haben wunderbar gespielt.«

Sie lächelte erleichtert. »Ach so, das … Schön, dass es Ihnen gefallen hat. Tut mir leid, dass ich mich nicht an Sie erinnert habe. Es waren eine Menge Leute da.«

»Ja, vielen Dank nochmals, dass Sie für uns gespielt haben. Ich bin überrascht, Sie noch in Lubmin zu sehen, dachte, Sie seien längst wieder unterwegs nach Paris oder London.«

»Ich bin tatsächlich auf dem Sprung.«

Sie machte Anstalten, weiter zu laufen, Richtung Villa Volkmann. In diesem Moment fiel ihm ein, was er tun musste.

»Einen Augenblick noch«, sagte er hastig. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Sie blieb misstrauisch stehen, betrachtete das Foto, das er ihr zeigte, stutzte, sah genauer hin, dann fragte sie leise:

»Wer ist das?«

»Ihre Mutter.«

»Das ist nicht Anna …«

Sie stockte, sah ihn konsterniert an.

»Wer sind Sie?«

»Ganz richtig, Leonie«, sagte er ruhig. »Das hier ist Ihre leibliche Mutter.«

»Was reden Sie da!«, brauste sie auf.

Trotzdem ließ sie das Foto nicht aus den Augen.

»Sie sind ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Erstaunlich, nicht wahr?«

»Warum tun Sie das?«, fragte sie gequält.

»Leonie, ich weiß, dass die Volkmanns Sie als Baby adoptiert haben. Zwangsadoptiert. Ich denke, das sollten Sie wissen.«

Sie schüttelte den Kopf, unfähig zu sprechen. Unvermittelt wankte sie davon, benommen, als wäre sie eben aufgestanden und noch nicht ganz wach. Nach einigen Schritten drehte sie sich nochmals um.

»Wer ist diese Frau?«

»Fragen Sie Ihre Eltern«, antwortete er traurig und trottete seinerseits davon.

Als er wieder an der Einfahrt zur Villa vorbeikam, glaubte er, Fetzen einer lautstarken Auseinandersetzung durch die offenen Fenster zu hören.

Kapitel 6

Fos-sur-Mer bei Marseille, 13. Juni

Mohammed Hamidi beobachtete durch das Fernglas, wie die ›Baleine‹ an der Mole von Fos-sur-Mer anlegte. Aus seinem leicht erhöhten Versteck konnte er die Hafenanlage des riesigen Flüssiggasterminals fünfzig Kilometer westlich von Marseille gut überblicken. Keine Bewegung auf dem Schiff und am Kai entging seinen scharfen Augen. Die Gelenkarme der Entladestation schimmerten silbrig in der Abendsonne. Nahezu vollautomatisch dockten sie an die Stutzen der Tanks an, die wie gigantische Seifenblasen aus dem Bauch des Frachters ragten. Wenige Minuten nach dem Andocken öffneten Arbeiter die Ventile. Das flüssige, auf -160 °C gekühlte Methan begann in die Rohre zu strömen, die es in die nahen Vorratstanks leiteten. Über hunderttausend Kubikmeter fasste ein einziger dieser isolierten Behälter, die manches Hochhaus überragten.

Mohammed Hamidis Puls beschleunigte sich beim Gedanken an diese schier unerschöpflichen Brennstoffvorräte. Er richtete sein Fernglas auf die Gruppe der Verwaltungsgebäude und Werkstätten. Alles hing jetzt vom Insider ab. Wenn der Junkie versagte, konnten sie ihren Plan begraben. Die Zeit verrann zähflüssig wie die Melasse auf den Baklava seiner Schwester. Der Tag wollte nicht enden. In der hellen Dämmerung war es schwierig, das Licht in den Büros der Sicherheitszentrale überhaupt zu erkennen. Eine weitere unerträgliche Stunde verging, bevor das Licht in den Fenstern erlosch, wieder aufflammte, dreimal in kurzen Abständen.

»Das Zeichen!«, rief er seinen Leuten zu, die gelangweilt unter der alten Eiche Karten spielten und rauchten.

Kurz danach beobachtete er, wie ein weißer Van vom Gebäude wegfuhr, auf die Einfahrt zu, wo sie sich treffen wollten.

»Auf geht‘s, Brüder. Allah sei mit uns.«

Der Insider saß mit aschfahlem Gesicht am Steuer des Wagens.

»Hast du die Steine?«, fragte er mit zittriger Stimme.

Mohammed Hamidi legte das Päckchen mit dem Rauschgift ins Handschuhfach. Die Augen des Fahrers wollten aus den Höhlen treten. Seine Hand fuhr an den Knopf, um das Fach wieder zu öffnen.

»Ich brauche jetzt etwas!«, rief er mit rauer Stimme.

Sofort drückte ihm einer von Hamidis Männern den Lauf seiner Maschinenpistole in den Nacken. Der Insider fuhr los, an den Gebäuden vorbei, entlang den Pipelines zur Mole, wo die ›Baleine‹ angedockt war.

»Alles ausgeschaltet?«, fragte Hamidi beiläufig.

Er kannte die Antwort, aber die Frage sollte den Fahrer beruhigen, dessen Hände am Steuer merklich zitterten.

»Klar, wäre ich sonst hier?«, brummte der gereizt.

Ihr Vertrauensmann an Bord der ›Baleine‹ erwartete sie an der offenen Luke. Der Ladebaum schwenkte aus. Das Paket aus Algerien glitt nahezu lautlos am Flaschenzug zu Boden. Stumm hievten sie es in den Van, während sich die Luke über ihnen schloss. Kaum zehn Minuten, nachdem sie ins Auto gestiegen waren, fuhren sie mit der kostbaren Fracht Richtung Tank Nummer zwei, voll mit flüssigem Methan nach Angaben des Insiders. Mohammed Hamidi suchte die Umgebung mit dem Fernglas ab, bevor sie sich der Stelle näherten, wo das Flüssiggas vom Tank in die Pipelines zur Aufbereitungsanlage floss. Es war das schwächste Glied im Speichersystem, bestens für ihre Zwecke geeignet. Weit und breit war kein unerwünschter Zuschauer auszumachen. Niemand beobachtete, wie sie das Paket unmittelbar am Tank zwischen die Rohre schoben, denn auch die Überwachungskameras blieben ausgeschaltet.

Mohammed Hamidi nickte zufrieden. Bisher verlief die Aktion genau nach seinem Plan. Nun begann die letzte, heikelste Phase. Er kontrollierte die Uhr: 21:20 Uhr, perfekt. Basem Mansour, sein junger Vertrauter, kniete bereits neben dem Paket. Er öffnete das rote Kästchen an der Hülle, aus dem ein Kabel ins Innere führte.

 

»Welche Zeit soll ich einstellen?«, fragte er seinen Anführer.

»Punkt zehn Uhr wie geplant.«

Basem kannte sich mit Computern aus. Nichts anderes als ein kleiner Computer steuerte die Zündelektronik im roten Kästchen. Mit angehaltenem Atem sahen ihm die Brüder und der Fahrer zu, der jetzt am ganzen Leib zitterte. Das ist nicht der Schüttelfrost des Entzugs, dachte Mohammed Hamidi verächtlich. Der Insider hatte Angst, Angst um sein erbärmliches Leben. Nur ein Ungläubiger konnte ein solcher Feigling sein, war er überzeugt.

Basem Mansour erhob sich.

»22:00 Uhr ist eingestellt. Die Zeit läuft.«

»Gut.«

Mohammed nahm das Drogenpaket aus dem Handschuhfach und steckte es ein. Der Fahrer starrte ihn entsetzt an, wagte aber nichts zu sagen.

»Du bringst die Brüder zu ihrem Wagen, dann kehrst du mit dem Van hierher zurück«, wies Mohammed ihn an. »Sobald du zurück bist, gehört das Zeug dir.«

Die Männer sahen sich konsterniert an. Niemand begriff, was er vorhatte. Dieser letzte Akt war nicht so besprochen worden. Wie erwartet, kehrte der weiße Van rasch zurück. Er gab dem Fahrer den heiß ersehnten Lohn. Mit fiebrigen Händen riss der Junkie das Paket auf. Abgelenkt durch seine Sucht, bemerkte er die Bewegung hinter seinem Rücken nicht. Mohammeds Schlag traf in den Nacken und streckte ihn zu Boden. Noch einmal schlug Mohammed zu. Die Faust mit dem Schlagring hinterließ eine klaffende Wunde an der Schläfe des Fahrers. Er rührte sich nicht mehr. Mohammed Hamidi ließ ihn liegen. Es interessierte ihn nicht, ob der Ungläubige noch lebte. Spätestens in fünfzehn Minuten würde er sowieso den Tod des drogenabhängigen Verräters sterben. So jedenfalls würde sich der Tatort den Ermittlern präsentieren, sollte überhaupt etwas von ihm und dem Wagen übrig bleiben. Mohammed zog den Zündschlüssel ab und rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, zur Einfahrt und weiter die Straße hinunter, die zum Versteck führte.

Basem Mansours Uhr zeigte 21:59 Uhr.

»Wo bleibt Mohammed?«, fragte er, Schlimmes ahnend. »Warum ist er nicht mit uns zurückgefahren?«

Der Bruder an der Videokamera war zehn Jahre älter und entsprechend erfahrener.

»Mohammed muss sich um l‘initié kümmern«, murmelte er zweideutig.

Im nächsten Augenblick zuckte ein gewaltiger Blitz durch die Nacht, der das ganze Gelände in grelles Licht tauchte. Ihm folgte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. Eine Stichflamme schoss in den Himmel, als hätte Allah selbst seine Fackel am Tag des Gerichts entzündet. Gleichzeitig traf sie die Druckwelle. Die Wucht des durch die Explosion entfesselten Sturms schleuderte sie zu Boden und mit ihnen die Kamera. Der Druck erfasste ihren Wagen, drohte das tonnenschwere Geländefahrzeug zu kippen. Sekundenlang schwebte es auf zwei Rädern, bis es wieder auf den Boden krachte.

»Allahu akbar!«, riefen alle durcheinander.

Während die andern sich im Freudentaumel umarmten und lachend zu tanzen begannen, richtete der Kameramann seinen Apparat mit dem starken Teleobjektiv erneut auf das Inferno. Die Gewalt der Explosion hatte ein Loch in den Tank Nummer zwei gerissen. Das ausfließende Methan verdampfte sofort und entzündete sich. Der höllische Flammenwerfer versprühte sein Feuer in Sekunden über die ganze Industrieanlage. Pipelines barsten. Die Gebäude standen in hellen Flammen, bevor die erste Alarmsirene aufheulte. Hundert Meter lange Feuerzungen leckten an dürren Büschen. Bäume und trockenes Gras brannten wie Zunder. Als wäre das nicht Apokalypse genug, fachte der Scirocco die Höllenglut weiter an. Der trockene Südwind aus Nordafrika hatte kräftig zugelegt in den letzten Stunden. Die Böen trieben die Flammen mit rasender Geschwindigkeit ins Landesinnere. Bald würden die Hügel hinter Fos-sur-Mer und Richtung Marseille brennen wie Scheiterhaufen für die Ungläubigen.

»Wir können nicht länger warten«, drängte der Kameramann.

Auf der Zufahrtsstraße näherte sich eine blinkende Lichterkette. Feuerwehr und Gendarmerie rückten in Divisionsstärke an. Sie mussten über ihren Schleichweg verschwinden, bevor die Hubschrauber auftauchten und die Gegend mit ihren Suchscheinwerfern unpassierbar machten.

»Mohammed?«, rief Basem Mansour den Brüdern zu, die bereits einstiegen.

»Mohammed weiß, was er tut«, antwortete der Mann, der sich ans Steuer setzte. »Steig endlich ein!«

Kurz nach Erreichen der brennenden Steppe der Coussouls de Crau stand plötzlich Mohammeds bärtige Gestalt auf der Straße. Lachend, mit Schulterklopfen empfingen ihn die Gotteskrieger. Der Geländewagen beschleunigte und fuhr in halsbrecherischem Tempo Richtung Arles, von wo sie über Aix-en-Provence nach Marseille zurückkehren würden. Geschwindigkeitskontrollen mussten sie in dieser Nacht keine befürchten.

Marseille

Jochen Preuss murmelte etwas, das nur er verstand.

»Wie bitte?«, fragte Amira Saidi, ohne die Augen vom kleinen Fernseher im Haus am Boulevard de la Méditerranée zu lassen.

Beide starrten gebannt auf die Bilder, die seit dem frühen Morgen ganz Frankreich erschütterten. Alle Kanäle unterbrachen ihre normalen Sendungen, um über die verheerende Explosion im Flüssiggasterminal von Fos-sur-Mer zu berichten. Einsatzkräfte aus weiten Teilen des Landes waren vor Ort, um Verletzte und Todesopfer zu bergen. In der Industrieanlage hatte kaum jemand überlebt. Alles ging viel zu schnell. Die Leute hatten keine Chance. Viele verbrannten bei lebendigem Leib. Feuerwehr-Brigaden aus Marseille, Nizza, Toulon, Arles und Nîmes, ja sogar Lyon und Spezialisten aus Paris versuchten in fast aussichtslosem Kampf, die Waldbrände einzudämmen. Die kleine Gemeinde Fos-sur-Mer wurde unter schwierigen Umständen evakuiert. Die Bewohner mussten hilflos mit ansehen, wie die Flammen ein Haus nach dem andern verzehrten.

An der Pressekonferenz um zehn Uhr gab der Bürgermeister mit erstickter Stimme und Tränen in den Augen bekannt, dass man Fos-sur-Mer aufgeben musste. Die Einsatzkräfte waren überfordert. Es gab weder genug Leute noch Tankwagen und Löschflugzeuge. Man konzentrierte die Einsätze, um wenigstens Aix-en-Provence und die westlichen Vororte Marseilles zu schützen. Sechs Kompanien der Force Terrestre der französischen Truppen mit schwerem Gerät wurden aufgeboten, und der Präsident selbst war unterwegs ins Katastrophengebiet.

Der Lagebericht des verantwortlichen Kommandanten der Gendarmerie begann mit der nüchternen Feststellung:

»Wir müssen davon ausgehen, dass es sich bei der Explosion um einen gezielten Anschlag handelt.«

Amira schlug die Hände vors Gesicht und begann, leise vor sich hinzumurmeln. Preuss glaubte, den Namen Basim oder Basem zu vernehmen. Sie stand auf, um den Ton leiser zu drehen. Ihr Gesicht sah blass aus und um Jahre älter mit den Sorgenfalten auf der Stirn. Sie setzte sich wieder hin, trank einen Schluck Tee und hielt das Glas mit beiden Händen.

»Wer tut so etwas Schreckliches?«, fragte sie mit belegter Stimme.

Er nickte nachdenklich. »Und vor allem: weshalb?«

Das Attentat übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Nach den Gerüchten vom vergangenen Samstag war er auf vieles gefasst, aber nicht auf diese neue Dimension des Terrors. Er beobachtete Amira mit Sorge. Sie wich seinem Blick aus, sprach kaum ein Wort. Etwas lag auf ihrer Seele. Seine sanften Versuche, sie zum Reden zu bringen, fruchteten nicht. Schließlich ließ er den Namen fallen, den er gehört zu haben glaubte:

»Machen Sie sich Sorgen um Basim?«

Ihre großen, dunklen Augen schauten überrascht zu ihm auf. Er fürchtete, sie würde jeden Augenblick anfangen zu weinen.

»Basem«, korrigierte sie so leise, dass er es kaum verstand.

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