Wohltöter

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»Doch, ich könnte Sie vorladen.«

»Das wäre schön«, lachte er, »dann müssten Sie mich treffen.«

Allmählich begriff sie, worum es hier ging. Dr. Diagnose-Blick mit der warmen Stimme wollte sie unbedingt sehen. Gut möglich, dass sie sich das nur einbildete. Solche Wunschvorstellungen waren ihr nicht neu. Vielleicht hatte er auch einfach Hunger und wollte seine Information loswerden. Die Antwort auf diese Frage war durchaus bedeutsam für ihr Verhalten, hielt sie sich doch bisher an die eiserne Regel, Berufliches von Privatem zu trennen. Auch wenn es da nicht viel zu trennen gab.

»Sind Sie noch dran?«, fragte er besorgt.

»Wie – ja – kennen Sie ›Orsini’s‹?«

Herausgerutscht, einfach so. Klar und deutlich hatte sie das Restaurant in ihrer Nähe vorgeschlagen. Entscheid des Unterbewusstseins. Wie sollte sie sich dagegen wehren?

»›Orsini‹, South Kensington? Klar, kenne ich. Wann?«

»Um acht«, antwortete sie mechanisch.

Die Uhr bestätigte ihr: Sie hatte genau 56 Minuten. Zuwenig, um ein privates Treffen vorzubereiten, also würde es eine rein dienstliche Besprechung werden beim gemütlichen Italiener. In aller Eile flocht sie ihre blonden Strähnen zu einem dicken Zopf, zog frische Arbeitskleidung an, Jeans, weißes Shirt. Viel anderes gab ihr Kleiderschrank auch nicht her. Bevor sie die Lederjacke anzog, warf sie einen letzten Blick in den Spiegel. So lupenrein dienstlich war das Treffen doch nicht, meinte ihr blasses Spiegelbild. Etwas Rouge und Wimperntusche würde ihr Gesicht schon vertragen, ohne wichtige Regeln zu brechen. Sorgfältig zog sie die Lippen nach, rieb sie, beugte sich ganz nah an den Spiegel, schüttelte unzufrieden den Kopf, tupfte etwas Rot weg, strich nochmals mit dem Stift über die Lippen, kontrollierte, tupfte, strich, bis sie halbwegs zufrieden war mit ihrem dienstlichen Äußeren.

Sie traf wie geplant zehn Minuten zu spät ein. Dr. Roberts wartete an der Bar auf sie.

»Drink?«, fragte er mit einem besorgten Blick, als fürchtete er, sie würde gleich wieder verschwinden.

Sie schüttelte den Kopf. Ihr Magen knurrte, und sie wollte die dienstliche Besprechung nicht mit gefährlichem Smalltalk an der Bar beginnen. Der Kellner schien sich an sie zu erinnern. Seinem Gesicht nach zu schließen, freute er sich außerordentlich, dass sie diesmal nicht allein zum Dinner erschien. Sie dankte ihm für die Speisekarte, hinter der sie sich unauffällig verstecken konnte.

»Sie haben ja wirklich Hunger«, meinte er schmunzelnd.

»Sie nicht?«

»Doch, natürlich.«

Wieder der besorgte Blick. Sie entschied sich für die große Variante: Salat, Linguine und die würzigen Scaloppine al Marsala mit grünen Bohnen, die sie schon kannte. Drei Gänge, genug mechanische Arbeit, um sich auf den Fall zu konzentrieren und weniger auf ihr Gegenüber. Den Wein schlug sie aus.

»Sie sind immer im Dienst«, bemerkte er bedauernd und bestellte sich ein Glas Brunello, wie sie es, weiß Gott, auch benötigt hätte.

»Was führt Sie denn so häufig nach London?«, fragte sie zwischen zwei Bissen Brot. »Wohnt Ihre Freundin hier?«

Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. Zum ersten Mal verschwanden die Sorgenfalten von seiner Stirn. »Meine Freundin«, sagte er gedehnt. »Ja – die hat einmal hier gewohnt. Dann ist sie eines Tages abgereist. Ist schon eine Weile her.«

»Sie Ärmster.«

»Ich hab’s überlebt, wie Sie sehen. Jetzt kennen Sie meine persönlichen Verhältnisse.« Das Sorgenfältchen erschien wieder. »Um auf Ihre eigentliche Frage zurückzukommen: Ich bin praktisch jede Woche einmal in der City. Wir pflegen einen regen Informationsaustausch mit unsern Kollegen am Imperial College. Zufrieden, Detective Sergeant?«

Sie überhörte die Spitze. »Stand auch auf Ihrer Liste«, murmelte sie nur. Sie schenkte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Salat. Er wartete, bis sie die Gabel weglegte, dann wollte er wissen, wie sie mit den Ermittlungen vorankam.

»Dazu darf ich nichts sagen, das wissen Sie. Aber wollten nicht Sie mir etwas erzählen?«

Er nickte bedächtig. »Ja, schon. Ist wahrscheinlich gar nicht wichtig.«

»Nicht wichtig?«, rief sie überrascht aus. »Und dafür opfere ich meinen Feierabend?«

»Ist doch gut hier.«

»Sie haben Nerven.«

Er reagierte bestürzt: »Jetzt sind Sie sauer.«

Die Pasta ersparte ihr die Antwort. So sehr sie auch kaute, der Gedanke ließ sich nicht vertreiben, dass sie einem Verdächtigen gegenübersaß. Zu allem Überfluss schien er sich in ihrer Gegenwart wohlzufühlen. Noch schlimmer: Ihr erging es ebenso. Warum konnte Dr. Roberts nicht einer der arroganten Sorte sein, die versuchten, die Polizei mit lateinischen Fachwörtern in die Flucht zu schlagen? Mit solchen Typen wusste sie umzugehen. Warum war ausgerechnet ihr Verdächtiger ein liebenswerter Kerl, den sie am liebsten ans Herz drücken würde wie ihren Teddy, so besorgt, wie er sie dauernd anblickte?

Der Teller war leer. Sie nippte an ihrem Wasserglas, dann forderte sie ihn auf: »Nun schießen Sie mal los.«

Seine Sorgenfalte verschwand für einen Augenblick. Sie spricht wieder mit mir, schien er zu denken. Er trank den Rest des Rotweins aus, tupfte sich die Lippen trocken, dann sagte er kleinlaut: »Professor Pickering führt eine Privatklinik. Fast ausschließlich Nierentransplantationen.«

Sie starrte ihn an, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen. »Und das erfahre ich erst jetzt?«, schnaubte sie erregt.

»Es – tut mir leid, wirklich. Ich habe einfach nicht daran gedacht. Erst später ist mir eingefallen, dass es vielleicht wichtig sein könnte für Ihren Fall, obwohl ich mir das, ehrlich gesagt, nicht vorstellen kann.«

»Das zu entscheiden, überlassen Sie besser uns.«

Kopfschüttelnd fragte sie sich, wie sie so etwas bei der Vorbereitung des Besuchs in Cambridge übersehen konnte. Er beantwortete die Frage gleich selbst:

»Die Klinik heißt ›Winchmore Manor‹. Sie liegt im Westen von Cambridge und läuft auf den Mädchennamen seiner Frau, Lady Warton.«

»Deshalb ist sie uns nicht aufgefallen«, murmelte sie. »Ausschließlich Nierentransplantationen? Lohnt sich das?«

»Oh ja. ›Winchmore Manor‹ ist eine sündhaft teure Privatklinik, und der Name des Professors steht für medizinische Spitzenqualität. Ich selbst habe nichts mit der Klinik zu tun, aber ich weiß, dass dort nur Top-Leute operieren. Die Erfolgsquote liegt denn auch deutlich über dem Durchschnitt.«

»Wer kann sich diese teure Medizin leisten?«

»Vor allem Ausländer. Die Patienten kommen vorwiegend aus Israel und der Golfregion.« Er zögerte, bevor er lächelnd beifügte: »Kaum aus Pakistan.«

Sie stutzte. Hatte sie ihm erzählt, dass der Tote Pakistani war? Sie hatte. Die nächste Frage musste sie stellen, obwohl seine Antwort nur »Nein« lauten konnte. Der Gesichtsausdruck würde ihn verraten, falls er versuchte zu lügen. »Halten Sie es für möglich, dass in ›Winchmore Manor‹ eine Schweineniere verpflanzt wurde?«

»Ausgeschlossen.«

Kein Zögern, kein Wimperzucken, keine Spur von Stress in Gesicht und Stimme. Wenn sie nicht alles täuschte, sagte er die Wahrheit.

»Darum erscheint mir die Klinik ja auch nicht wichtig«, fuhr er fort. »Das Transplantationswesen ist streng reglementiert. Das ›NHSBT‹, das Direktorat des National Health Service für Organ- und Bluttransplantationen, kontrolliert und koordiniert Spender und Empfänger. Da bleibt kein Spielraum für solche Experimente. Trotzdem würde mich Ihre Gewebeprobe interessieren.«

»Sie haben selbst nichts mit der Klinik zu tun, sagten Sie?«

»Richtig. Der einzige Kontakt besteht in periodischen Informationsveranstaltungen, an denen wir unsere Forschungsergebnisse präsentieren.«

Nach dieser Bestätigung kehrte ihr Appetit zurück. Während sie die nur noch lauwarmen Schnitzel aß, überlegte sie, was die neue Information bedeutete. Vielleicht gar nichts. Ein weiteres Teil des Puzzles, von dem sie noch nicht einmal wusste, ob es sich am Ende zu einem Bild fügen würde.

»Enttäuscht?«, fragte er, nachdem der Kellner das Geschirr abgeräumt hatte.

Schau nicht so gequält, flehte sie im Stillen. Laut meinte sie: »Keineswegs. Es ist gut, dass Sie uns informiert haben.«

Das dienstliche Uns. Um die Härte der kühlen Formulierung etwas abzufedern, schenkte sie ihm ein warmes Lächeln. Das musste genügen als Nachtisch für ein dienstliches Dinner.

Kapitel 4

Newham, Greater London

Das dunkle, von Entbehrungen und Strapazen zerfurchte Gesicht des Mannes spiegelte sich im schmierigen Schaufenster. Der drahtige, athletische Körper deutete auf einen durchtrainierten Mann mittleren Alters hin. Ein verstörender Kontrast zu seinem Greisengesicht. Er musste Inder oder Pakistaner sein. Der Kleidung nach zu schließen, gehörte er zwar nicht zur Oberschicht, aber er war auch keiner der zerlumpten, armen Schweine, die mit nichts als der Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben in dieses Land kamen. Der Mann verharrte lange Zeit vor dem Schaufenster, studierte das kärgliche Angebot. Er musste die Preisliste schon auswendig kennen, als er endlich zurücktrat. Er beobachtete das Haus und die Umgebung mit grimmigem Blick, als filmte er das Ganze, dann ging er gemessenen Schrittes weiter.

Kopfschüttelnd wandte sich Barton Kingsley wieder seinen Abrechnungen zu. Die Arbeit zerrte an seinen Nerven. Seit Mary ihn nach vierundzwanzig Ehejahren verlassen hatte, blieb der ganze Bürokram an ihm hängen. Das war ungerecht, um es milde auszudrücken. Die Welt war ungerecht. Eine Binsenwahrheit, die er schon als dicker Junge begriffen hatte. Längst vergangene Zeiten. Seither hatte er die Ungerechtigkeit der Welt nicht mehr am eigenen Leib gespürt. Sein Reisebüro in Newham lief ausgezeichnet. Dank seinen guten Beziehungen zog er manch lukrativen Auftrag an Land. Sie konnten sich jedes Jahr anständige Ferien leisten. Flugreisen, eine Kreuzfahrt. Er war drauf und dran, ein Cottage in den Cotswolds zu kaufen. Warum hatte sie ihn verlassen? Ich kann nicht mehr, stand auf dem Zettel, den er eines Morgens vor genau einem Monat auf dem Küchentisch fand. Seither herrschte Funkstille. Was zum Teufel war in sie gefahren? Ein anderer Kerl? In ihrem Alter? Konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Hatte sie plötzlich festgestellt, wie fett er war? Wie schon oft zermarterte er sich das Hirn über ihren Abgang. Nicht so sehr, weil er sie vermisste, außer im Büro, sondern weil die Ungewissheit an ihm nagte. Vielleicht störten sie seine Geschäftspartner. Einige von ihnen mochte sie vom ersten Augenblick an nicht, soviel war klar. Aber was hatte das mit ihrer Ehe zu tun? Er verstand sie einfach nicht, und das steigerte die Motivation für seine Arbeit nicht im Mindesten.

 

Gerade heftete er den letzten Beleg ab, da erschien das zerfurchte Gesicht wieder an seinem Schaufenster. Was wollte der Unbekannte von ihm? Er zuckte unwillkürlich zusammen, als der Fremde plötzlich entschlossen die Tür aufstieß und eintrat. Er blieb wie gelähmt sitzen, bis der Mann vor ihm stand. Ächzend erhob er sich, während der andere ihn durchdringend musterte. Er versuchte, seine Unsicherheit mit einem geschäftstüchtigen Lächeln zu kaschieren.

»Guten Tag, Sir. Was wünschen Sie?«

Sein Gegenüber starrte ihn weiter unverwandt an und schwieg, als hörte er auf eine innere Stimme, die den Gruß erst übersetzte. Dann fragte er unvermittelt:

»Sind Sie Mr. Kingsley, Barton Kingsley?«

»So ist es. Was kann ich für Sie tun?«

»Sie sind der Besitzer des Reisebüros?«

»Ja.«

Kingsley fragte sich, ob er einem unzufriedenen Kunden gegenüberstand, an den er sich nicht erinnerte. »Warum fragen Sie?«, wollte er wissen. »Ist etwas nicht in Ordnung mit unserem …«

»Wohnen Sie allein in diesem Haus?«

»Hören Sie, warum sagen Sie nicht einfach, was Sie von mir wollen?«

Der Fremde neigte sich über den Tisch. Den Mund nahe an Kingsleys Ohr, wiederholte er die Frage eindringlich.

Kingsley plumpste erschrocken auf den Sessel. Alarmglocken schrillten in seinem Kopf. Im Geiste sah er schon das Messer in der Hand des Fremden aufblitzen. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Während er unter der Tischplatte nach der Waffe tastete, nickte er.

»Ja, ich wohne hier, allein«, bestätigte er, um den andern nicht weiter zu reizen.

Seine Hand umschloss den Griff der Pistole, und sein Puls beruhigte sich etwas.

Auf dem Gesicht des Fremden zeichnete sich ein verächtliches Lächeln ab, dann drehte er sich um und verließ den Laden ohne ein weiteres Wort.

Das geschah vor zwei Tagen.

Zuerst hatte er den weißen Vauxhall Combo nicht weiter beachtet. Nichts Auffälliges, ein Wagen wie viele, die diese Straße passierten. Der Minivan stand seit einer halben Stunde auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das einzig Ungewöhnliche daran war, dass er während dieser Zeit niemanden ein- oder aussteigen sah. Barton Kingsley wandte sich wieder seinem Computerbildschirm zu, beendete die angefangene Nachricht und wollte die Mail senden, als er unvermittelt innehielt. Auf der andern Seite bewegte sich etwas. Ein Mann stieg aus dem weißen Van. Kingsley erkannte die Gestalt, bevor er das zerfurchte, dunkle Gesicht mit den stechenden Augen sah. Sein Puls beschleunigte sich augenblicklich. Der unheimliche Fremde überquerte die Straße und blieb vor seinem Schaufenster stehen. Er hielt das Gesicht so nah an die Scheibe, dass die Nase das Glas berührte. So starrte er ihn eine Weile an. Mit klopfendem Herzen steckte Kingsley die Pistole ein und erhob sich. Er musste diesem Verrückten endlich beibringen, dass er hier nichts zu suchen hatte. Auf halbem Weg zur Tür glaubte er wieder das verächtliche Grinsen auf dem verwitterten Gesicht zu erkennen, dann drehte sich der Fremde um, ging zum Wagen zurück und fuhr weg.

Ärgerlich bemerkte Kingsley, wie seine Hände zitterten, als er zum Pult zurück schlurfte. Er verstaute die Pistole wieder im Geheimfach, bevor er zum Flachmann in der unteren Schublade griff. Das Zittern hörte erst nach dem zweiten Schluck auf. Sein Atem beruhigte sich. Er konnte wieder klar denken. Der Fremde hatte ihm mit seinem zweiten Auftritt deutlich zu verstehen gegeben, dass er ihn beobachtete, aus welchen Gründen auch immer. Er durfte ihn nicht länger ignorieren. Der Mann war nicht nur lästig. Kingsley traute ihm ohne Weiteres eine Gewalttat zu. Der Mann hatte ihn regelrecht eingeschüchtert. Vielleicht war das seine Absicht? Kingsley hatte das unbestimmte Gefühl, dass mehr dahintersteckte, aber was? Wenn er wenigstens wüsste, wovor er sich fürchtete. Die Polizei einschalten kam nicht infrage. Was sollte er den Beamten erzählen? Überdies brauchte er keine Schnüffler im Haus. Es gab eine bessere Lösung. Er griff zum Telefonhörer, begann die Nummer einzutippen, dann legte er wieder auf. Barton, du bist paranoid, dachte er kopfschüttelnd. Solange er nicht wusste, was der Fremde von ihm wollte, sollte er seine Freunde nicht mit dem Problem belästigen. Zu gefährlich.

Der weiße Wagen tauchte nicht wieder auf. Kingsley setzte die Flasche noch einmal an die Lippen, dann legte er sie mit einem Seufzer ins Schubfach zurück und widmete sich wieder seinen Mails.

Scotland Yard, London

Chris stellte ihre Tasse unter die Düse und drückte auf die Taste. Die eigene Tasse verlieh dem Automatenkaffee ein Minimum an Würde, einen Hauch häuslicher Behaglichkeit, anders als die anonymen Pappbecher. Wenn sie sich schon zu Hause zwischen sprechenden Kartons nicht sonderlich wohlfühlte, durfte der Arbeitsplatz ruhig etwas menschenfreundlicher gestaltet werden. Ron blieb bei den Pappbechern. Die musste man nicht abwaschen.

Sein Telefon klingelte. Während er zuhörte, verfinsterte sich seine Miene.

»O. K., brechen wir die Sache ab«, bestätigte er schließlich und steckte das Handy verdrossen wieder ein.

Ärgerlich enthüllte er die unerfreuliche Nachricht: »Das Gelände am New England Creek bei Southend ist sauber.«

Sie hatte es erwartet. »Der letzte Kandidat?«

»Ja, keines der untersuchten Objekte kommt als Klinik infrage. Jede verdammte Garage, jeden Lagerschuppen, ein Pornostudio, in dem sie Hunde beschäftigten und zwei illegale Bordelle haben die Kollegen ausgegraben. Nichts, keine Spur einer medizinischen Einrichtung. Es ist, als wären unsere Leichen vom Himmel gefallen. Sie stellen die Suche jetzt ein.«

»Dann kann ich ja wieder gehen«, sagte eine bekannte dunkle Stimme hinter ihrem Rücken.

Chris drehte sich um und schaute ins strahlende Gesicht der Pathologin. »Der DCI würde das wohl kaum schätzen, Doctor«, meinte sie.

Dr. Barclay antwortete mit einem kehligen Lachen. »Ach Kindchen, den guten Adam Rutherford wickle ich noch blind um den Finger.«

Chris glaubte ihr aufs Wort. Die Frau verstand es, sich durchzusetzen, das hatte sie schnell gemerkt. Immerhin war es ihr selbst bisher gelungen, der forschen Pathologin ohne Schaden auszuweichen. Begegnungen wie diese ließen sich nun einmal nicht vermeiden. Der DCI hatte das ganze Team aufgeboten für die heutige Lagebesprechung.

»Kaffee?«, fragte Chris überaus freundlich.

»Und süß, meine Süße«, nickte Dr. Barclay. »Womit habe ich diese Aufmerksamkeit verdient?«

Chris reichte ihr den Becher mit drei Stück Zucker. Dazu bemerkte sie: »Wissen Sie, Doctor, das ist eine Art Vorschuss.«

Die Pathologin hörte auf zu rühren und musterte sie misstrauisch.

»Ich hätte nämlich eine Bitte«, fuhr Chris fort.

»Wird mir schwerfallen, sie auszuschlagen«, kicherte die Ärztin.

»Wie Sie wissen, war Ihr Tipp mit Professor Pickering goldrichtig. Wir haben uns in Cambridge ausführlich mit einem Dr. Roberts unterhalten. Der Mann ist Stammzellenforscher und hat angeboten, das Nephron des Toten in seinem Institut zu untersuchen. Er fand den Befund äußerst rätselhaft.«

»Da ist er nicht der Einzige«, lachte Dr. Barclay.

»Ich glaube, es könnte uns weiterhelfen, wenn das Gewebe von den Fachleuten in Cambridge untersucht würde.«

Die Pathologin nippte an ihrem heißen Kaffee. Sie musterte Chris nachdenklich über den Rand des Pappbechers hinweg, als suchte sie die Antwort in ihren Augen. Nach einer Weile stellte sie den Becher ab und nickte. »Pickerings Team ist tatsächlich internationale Spitze auf diesem Gebiet. Wenn jemand das Rätsel lösen kann, dann seine Leute. Geben Sie mir die Adresse, mein Kind.«

Dr. Barclay war ganz in Ordnung, dachte Chris, solange man die Kosenamen ignorierte.

DCI Rutherford versammelte seine Leute vor der Pinnwand, die alle Ermittlungsergebnisse in Form von Fotos, Notizzetteln, Grafiken, Landkarten und vielen Fragezeichen festhielt.

»Also, was haben wir«, begann er. »Erstens: Die Leiche eines jungen Mannes, wahrscheinlich Pakistani, nackt, bei den Towers an der Reculver Beach angeschwemmt. Vor Eintreffen der örtlichen Polizei wieder spurlos verschwunden. Wahrscheinlichste Erklärung: Die Leiche wurde von einem Boot weggeschafft. Sie bleibt bis jetzt verschwunden. Zweitens: Die Leiche eines jungen Mannes, diesmal bekleidet mit einer Art Spitalkleidung. Der Tote stammt höchstwahrscheinlich aus dem Nordosten Pakistans, ist circa 25 bis 30 Jahre alt. Ertrunken im Bereich der Themsemündung. Keine Anzeichen äußerer Gewalt, aber fortgeschrittene Lungenentzündung. Die Spuren an Körper und Kleidern weisen darauf hin, dass der Mann bis zu seinem Tod in klinischer Behandlung war und möglicherweise von dort geflohen ist. Höchstens zwei Wochen vor seinem Tod hat man dem Mann eine Schweineniere verpflanzt. Die andere Niere ist schon früher entfernt worden. Xenotransplantation wird nirgends in diesem Land praktiziert, wenigstens ist das die offizielle Aussage der Kliniken und zuständigen Behörden, soweit wir sie bisher befragt haben. Wie es aussieht, stimmt die Wirklichkeit nicht mit diesen Aussagen überein. Wir haben es hier vielleicht nicht mit Mord zu tun, aber wir gehen zumindest von schweren Fällen fahrlässiger Tötung aus.«

Er betrachtete die Landkarte der Themsemündung eine Weile schweigend. Entlang den Küsten steckten nur noch blaue Nadeln. Die Roten waren verschwunden.

»Die Suche nach medizinischen Einrichtungen hat nichts ergeben, wie ich sehe«, brummte er verdrossen.

Ron bestätigte: »Ja, Sir. Die Suche in beiden Counties wurde heute Morgen eingestellt.«

»Wurde auch langsam Zeit«, flüsterte der alte Sergeant Townsend, laut genug, dass sein DCI es hörte.

»Möchtest du uns etwas sagen, Pete?«, fragte Rutherford gereizt.

Pete Townsend war nicht dafür bekannt, seine Meinung für sich zu behalten. Vielleicht auch ein Grund, weshalb er nie Inspector wurde. Seine Antwort ließ an Klarheit nichts zu wünschen übrig:

»Wir verschwenden nur Zeit mit diesem Fall, Adam. Es ist noch nicht einmal klar, ob er in unser Dezernat gehört. Wer sagt uns, dass der Mann nicht unbemerkt von einem Frachter gefallen ist, der inzwischen schon in China ankert? Die Schweineniere kann sonst woher stammen. Wenn du mich fragst, sollten wir den Fall zu den Akten legen, bis wir eine Vermisstenanzeige haben.«

Chris fühlte sich provoziert. Bevor der DCI reagierte, warf sie entrüstet ein: »Den Fall abschließen? Wir haben gerade erst angefangen.«

Dr. Barclay schien ihr Einwand zu gefallen, im Gegensatz zum DCI. Er warf ihr einen strafenden Blick zu, dann wandte er sich an seinen alten Freund:

»Wir bleiben dran, Pete, ist das klar? Hier ist eine buchstäbliche Schweinerei im Gang, und wir haben zwei Leichen. Motivation genug, nicht locker zu lassen. Meinst du nicht auch?« Er wartete nicht auf die Antwort, leitete zum nächsten Thema über: »Was wissen wir von den Transplantationskliniken?«

»Alle Befragungen negativ, Sir«, antwortete Ron. »Wir haben die ganze Liste abgearbeitet. Niemand will etwas von Xenotransplantation gehört haben.«

»Wir sollten unbedingt mit dem ›NHSBT‹ reden«, ergänzte Chris. »Dr. Roberts meint, die Organisation kontrolliere und koordiniere alle Transplantationen im Land.«

DCI Rutherford schaute sie überrascht an. »Ich kann mich nicht an diese Aussage erinnern.«

»Dr. Roberts hat mich gestern Abend darauf aufmerksam gemacht.«

 

»Hat er? Und warum erfahre ich das erst jetzt?«

»Es war sehr spät. Ich hatte noch keine Gelegenheit …«

»Sergeant Hegel«, unterbrach der DCI unwirsch, »solche Informationen will ich sofort, egal zu welcher Uhrzeit. Ist das klar?«

»Ja, Sir.«

Sie fühlte, wie sie errötete wie eine Schülerin, die beim Schwindeln erwischt wurde. Rutherford hatte natürlich recht. Sie hätte ihn noch gestern Nacht aufklären müssen. Vor allem über Pickerings Privatklinik. Kleinlaut holte sie das Versäumte nach. Rutherfords Blicke wurden noch finsterer, als sie die Gewebeprobe erwähnte.

»Ist Ihnen klar, Sergeant, dass Sie im Begriff sind, einem Verdächtigen Beweise auszuhändigen?«, fragte er mit verhaltenem Zorn.

»Jetzt mach aber mal halblang, Adam«, wetterte die Pathologin, »wenn dieser Dr. Roberts tatsächlich etwas mit dem unerklärlichen Nephron zu tun hätte, würde er uns dann seine Dienste anbieten? Pickerings Institut ist wesentlich besser ausgerüstet als unser Labor. Es gibt keine fähigeren Spezialisten, um dieses Rätsel zu lösen. Und überdies würde ich schnell feststellen, ob sie etwas verheimlichen. Das kannst du mir ruhig glauben.«

Der Rest der Besprechung verlief vergleichsweise ruhig. Rutherford beeilte sich, die nächsten Aufträge zu erteilen, dann winkte er Chris zu sich.

»Sie kommen mit, Sergeant.«

Sie folgte ihm ins Büro. Er schloss die Tür und setzte sich, ohne sie aufzufordern, das Gleiche zu tun. Er musterte sie nachdenklich, bevor er begann:

»Nun erzählen Sie mir mal ganz genau, wie das gestern Abend ablief.«

»Sir, da lief nichts«, wehrte sie ab. »Dr. Roberts hat mich angerufen, danach haben wir uns getroffen. Er war zufällig in London und hatte wichtige Informationen, wie er behauptete.«

So sehr sie sich auch bemühte, das Dinner mit Dr. Roberts rein dienstlich aussehen zu lassen, in den Augen des DCI war es nichts weniger als unprofessionelles Verhalten. Das machte er ihr unverhohlen klar. In Deutschland nannte man so etwas Standpauke. Bevor er sie mit einer Handbewegung entließ, schärfte er ihr ein:

»In Zukunft informieren Sie mich, bevor sie sich mit einem Verdächtigen treffen, verstanden?«

Zu aufgewühlt, um zu antworten, nickte sie nur und verließ Rutherfords Terrarium.

South Kensington, London

Wenigstens hatte der DCI den Anstand, sie nicht vor versammelter Mannschaft abzukanzeln. Schwacher Trost. Der Rest ihres Tages war ruiniert. Wie sehr ihr die Predigt des DCI zusetzte, merkte Chris erst am Abend zu Hause, als die Teile des ›BILLY‹ vor ihr auf dem Boden lagen und sie die Anleitung für Analphabeten studierte. Wie im Delirium schraubte sie das Gestell zusammen, räumte ein, leerte die andern Kartons, putzte, saugte ohne Pause, bis der Ärger über sich und ihren empfindlichen Chef zu verrauchen begann. So hatte auch dieser Tag am Ende noch etwas Gutes. Ihre Wohnung glänzte wie nie zuvor und es standen keine sprechenden Schachteln mehr im Weg.

Die Arbeit machte sie hungrig. Die paar Brotscheiben waren so staubtrocken, dass sie nicht einmal als Toast taugten, und im Kühlschrank brauchte sie nicht erst nachzusehen. Der kühlte die ganze Zeit bloß Luft. Ein anständiges, warmes Essen an einem nett gedeckten Tisch wäre genau richtig, aber es war zu spät, um auszugehen. Für solche Fälle gab es den Laden des Rashid Barija.

Der Alte begrüßte sie freudig. Um seinen dürren Hals hatte er einen Schal geschlungen, und seine Stimme klang immer noch heiser. Das hinderte ihn nicht daran, ihr wortreich zu versichern, die Geschichte mit seiner Erkältung sei maßlos übertrieben.

»Mit solchen Dingen ist nicht zu spaßen«, warnte Chris.

»In meinem Alter meinen Sie.« Seine Antwort erheiterte ihn bis zum Hustenreiz.

»Sehen Sie? Sie müssen sich schonen, Rashid.«

Sie ging nach hinten, wo die Essig Crisps im schummrigen Licht warteten. Als sie mit ihren Einkäufen wieder an der Kasse stand, schaute Rashid sie verschmitzt an und sagte:

»Ich habe Sie gesehen.«

»Das wundert mich wahrlich nicht.«

Wieder ein kurzer Hustenanfall, dann fragte er ernst: »Sie sind Polizistin, nicht wahr?«

Das überraschte sie nun doch. Woher konnte er wissen …

»Da staunen Sie«, kicherte der Alte. »Ich habe Sie neulich nachts aus einem Polizeiauto steigen sehen.«

Ron! Ihr Kollege musste das Blaulicht auf dem Dach gelassen haben, als er sie nach Hause fuhr. Sonst trug sein Wagen keine besonderen Kennzeichen. Sie nickte schmunzelnd. »Sie sind ein guter Beobachter, Rashid. Sie haben mich überführt.«

»Ich werde Ihr Geheimnis natürlich für mich behalten, keine Angst«, versicherte er.

»Ach, das ist kein Geheimnis. Es ist ein Beruf wie jeder andere.«

Rashid schüttelte den Kopf. »Sagen Sie das nicht. Sie müssen sich mit dem schlimmsten Gesindel herumschlagen. Ist es nicht so?«

»Kommt ganz darauf an, bei welcher Truppe man arbeitet.«

Er quittierte den Betrag an der Kasse und zählte das Wechselgeld ab. »Wenn ich mir vorstelle, ich müsste einen Toten aus dem Wasser ziehen«, murmelte er wie zu sich selbst.

»Auch das kommt nicht jeden Tag vor«, lachte sie.

Er stellte ihr die volle Tüte hin. »Nicht alle Tage«, meinte er betrübt, »aber erst vor Kurzem hat man doch einen jungen Landsmann herausgezogen. Unten an der Themsemündung.«

Aus den Medien konnte er diese Information nicht haben. Sie war sicher, dass nichts über die Identität des Toten veröffentlicht worden war. »Wissen Sie etwas darüber?«, fragte sie misstrauisch.

»Ich hab’s nur gelesen.«

Sie ließ nicht locker. »Wenn Sie etwas darüber wissen, müssen Sie es der Polizei melden, Rashid. Das ist wichtig.«

Eine Weile hielt er ihrem forschenden Blick stand, dann schüttelte er bedächtig den Kopf. »Ich weiß wirklich nichts, Miss Chris. Der Mullah hat am Freitag darüber gesprochen.«

»Der Mullah? Wen meinen Sie?«

»Mullah Rakhshani. Er kennt alle und weiß alles, was in unserer Gemeinschaft vorgeht.«

»Mullah Rakhshani«, wiederholte sie nachdenklich. »Hier in London?«

»Im Osten, Newham.«

Er kritzelte etwas auf einen Notizzettel und gab ihn ihr.

»Da finden Sie ihn, wenn Sie mit ihm sprechen wollen.«

»Danke. Aber wenn er etwas weiß, hätte er die Polizei informieren sollen.«

Rashid zuckte die Achseln. »Er wird seine Gründe haben«, meinte er nur. »Der Mullah hat immer gute Gründe für das, was er tut. Er ist ein weiser Mann.«

Oder nur schlau, dachte sie. Bevor sie sich verabschiedete, fragte sie wie üblich nach dem Wohlbefinden der Familie. Im Sozialleben der Barijas kannte sie sich besser aus als in ihrer eigenen Verwandtschaft. Schließlich verließ sie den Laden mit dem Gruß, den sie auch hier gelernt hatte: »Khuda Hafiz« – »Gott möge Sie beschützen.«

Noch bevor sie das Haus erreichte, öffnete sie eine der Tüten mit dem salzigen Knuspergebäck, nur um sicherzugehen, nicht vor der Haustür umzukippen.

Sie hörte ihr Handy schon im Treppenhaus.

»Wo stecken Sie denn die ganze Zeit?«, polterte ihr offensichtlich ungehaltener Chef.

»Entschuldigen Sie, Sir, ich …«

»Schon gut, sparen Sie sich die Ausrede. Wir müssen uns unterhalten.«

Versuchen wir gerade, dachte sie und schob zum Trotz noch einen Kartoffelchip in den Mund.

Der DCI hörte es knacken. »Was ist das?«

»Ich habe noch nichts gegessen, Sir«, erklärte sie während des Kauens.

»Morgen früh um sieben.«

Morgens um sieben. Die Zeit der Krisensitzungen. »Worum geht’s, wenn ich fragen darf?«

»Werden Sie morgen erfahren.«

»O. – K.«, sagte sie gedehnt. »Dann um sieben bei Ihnen im Büro.«

»Nicht im Büro. Kennen Sie das ›Waterside Café‹? Egal, es liegt mitten in Little Venice. Sie werden es schon finden. Gute Nacht.«

Ihre Antwort hörte er nicht mehr. Sie legte die Crisps angewidert weg und trank einen Schluck Wasser. Der Appetit war ihr vergangen. Wollte Rutherford sie rauswerfen? Warum nicht im Büro? Fragen über Fragen. Eine unruhige Nacht lag vor ihr, darauf würde sie einiges wetten.

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