Im Schatten der Flügel

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»Woher weißt du das?«

»Kam eben im Radio. Hat bei Norwood gearbeitet.«

»Hast du ihn gekannt?«

»Nicht wirklich. Ray schon. Er kennt jeden hier auf der Insel. Ich hab Rick zwei, drei Mal gesehen, das ist alles.«

»Hast du eine Ahnung, was passiert sein könnte?«

»Keinen Schimmer.«

»Drogen?«

»Ich weiß es wirklich nicht.«

»Haben sie was zum Täter gesagt?«

Maggie schüttelte den Kopf und nahm die Tupperware mit Corinnas Gulasch aus der Tüte.

»Ich sterbe vor Hunger. Isst du mit?«

6 Moonshadow

Vier Tage später, am 28. September, verschwand ein Mädchen in Owls Head. Jake war bei Corinna, als sie abends davon erfuhren; sie hatten Spaghetti Carbonara gekocht, in der Küche gegessen, mehrere Espressi getrunken und danach die Spülmaschine eingeräumt. Als der Moderator auf Frank 106.9 vom vermissten Mädchen berichtete, lagen sie auf dem Sofa im Wohnzimmer, plauderten und alberten herum: Die sechsjährige Jane Libby hatte mit ihrer Mutter Kylie deren Eltern in Owls Head besucht. Etwa um 14 Uhr hatte Jane das Haus verlassen, um zu spielen, zehn Minuten später hatte ihre Mutter nach ihr gesehen und festgestellt, dass sie verschwunden war. Sie machte sich, zusammen mit ihren Eltern und einigen Nachbarn, sofort auf die Suche, fand jedoch keine Spur ihrer Tochter. In der Zwischenzeit waren die Polizei und der Sheriff alarmiert und mit Suchtrupps und Spürhunden im Einsatz. Bisher ohne Erfolg.

Corinna stand auf, schaltete das Radio aus, legte Tango in the Night von Fleetwood Mac auf und setzte sich in Michaels früheren Musiksessel.

»Mac-Attac«, sagte Jake spöttisch, »die Lieblingsband aller Frauen.«

»Vermisstenfälle sind das Schlimmste, was du als Polizist erleben musst«, gab sie zurück, ohne auf seinen Scherz einzugehen.

»Kann ich mir denken.«

Sie sah sich in einer Reihe anderer Polizisten ein Feld durchkämmen, als sie noch Streife gefahren war, sah sich verzweifelten Eltern gegenüber vor einer Haustür stehen, sah sich im Rotorenstrudel eines Polizeihubschraubers in einer Wiese kauern, der dicht über ihr schwebte, sah sich heulen vor Erschöpfung und Enttäuschung.

»Die Hoffnung und Ängste der Eltern und Angehörigen haben mich fix und fertig gemacht«, sagte sie.

»Ich muss Ihnen etwas mitteilen.« Wie oft hatte sie diesen Satz im Dienst gesagt und dabei versucht, ruhig, gefasst und kompetent zu wirken?

»Furchtbar, nicht zu wissen, ob jemand, den man liebt, noch am Leben ist oder nicht.«

»Ganz schlimm war es, wenn wir von Spürhunden auf Leichenhunde umstellten.«

»Hast du das erlebt?«

»Einmal, ja. Libby. Komischer Name.«

»Nicht in Maine. Spätestens morgen sind die Freiwilligen da, glaub mir.«

»Die Freiwilligen?«

»Die Anonymen Alkoholiker. Der Frauenbund. Die Methodisten. Die von der Freikirche. Die ehemaligen Drogensüchtigen. Das ist so, hier bei uns in Amerika. Der ganze Zirkus der Hilfsbereiten.«

»Was ist mit der Army?«

»Vielleicht die Reservistenvereinigung, kann sein. Und selbstverständlich die Aasgeier von der Presse. Leg dich wieder zu mir, komm.«

Sie blieb einen Moment auf Michaels Sessel, um Jake nicht das Gefühl zu geben, sie gehorche ihm, stand dann aber auf und schmiegte sich an ihn. Mit Michael hatte sie selten länger geschwiegen, Jake dagegen sagte oft lange Zeit nichts und drängte sie nie, sich ihm andauernd mitzuteilen. Schweigend lagen sie auf dem Sofa, bis sich der Tonarm knackend von der Platte hob und in die Startposition zurückschwenkte.

»Du bist jünger«, flüsterte Jake, »darum müsstest eigentlich du aufstehen und die Platte umdrehen. Andererseits bist du die Frau.«

»Und du der Mann?«

Er gab ihr lachend einen Kuss, löste sich aus ihren Armen und stand auf. Es war kühl im Zimmer und so dunkel, dass sie die Katze, die reglos auf dem Deck vor der Glastür saß und sie mit grün blitzenden Augen starr ansah, erst nach einer Weile bemerkte.

Am nächsten Morgen fehlte noch immer jede Spur von Jane Libby. Es gebe, so der Radiosprecher, keine brauchbaren Hinweise, und die Eltern sowie die Polizei bäten um Hilfe und Unterstützung.

Sie aßen am Küchentisch, Porridge mit einem ungeschälten geraspelten Apfel, Nüssen, Leinsamen, gefrorenen Blaubeeren, die in der warmen Milch sofort tauten und Ahornsirup von der Weskeag Farm, dazu tranken sie Kaffee, den Jake gebraut hatte, weil er es liebte, mit ihrer glänzenden italienischen Caffettiera herumzuhantieren. Der Morgen war verhangen, der Nebel so feucht, dass Corinna glaubte, sie stehe im Nieselregen, als sie aufs Deck hinaustrat und nach der Katze rief. Schließlich gab sie auf, zog die Glastür hinter sich zu, legte Teaser and the Firecat von Cat Stevens auf, setzte sich aufs Sofa und hörte, wie Jake in der Küche die Caffettiera auswusch. Michael hatte ihr die LP zu ihrem fünfzigsten Geburtstag auf einem Flohmarkt gekauft, weil »Moonshadow« eines ihrer Lieblingslieder war. Als Jake sich neben sie setzte, roch er nach der Handseife, die in einem Spender neben der Keramikspüle stand.

»Gibt es Neuigkeiten, was den Erschossenen betrifft?«

Sie schüttelte den Kopf und ließ sich an ihn sinken; er legte einen Arm um sie und streichelte sie abwesend, mit seinen Gedanken offenbar an einem anderen Ort.

»Ich würd mal sagen, er hat mit Drogen gedealt.«

»Gut möglich«, sagte sie, die Lippen dicht am Stoff seines Jeanshemdes.

»Machen viele Fischer. Die meisten.«

»Er war kein Fischer. Er hat im Lager von Norwood gearbeitet.«

»Trotzdem.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

»Verrückt, nicht? Zwei Tote auf einer so kleinen Insel in so kurzer Zeit. Erst Dunbar im Juli und jetzt der Angestellte von Norwood

»Zufall«, sagte sie leichthin und setzte sich gerade hin, »oder glaubst du, ich ziehe das Unglück an?«

»Blödsinn!«

»Sieht doch beinahe so aus!«

»Hast du eigentlich noch Kontakt mit der Frau von Dunbar? Ist sie nicht eine Freundin?«

»Tracy? Von der hab ich nichts mehr gehört, seit sie nach South Carolina zurückgekehrt ist.«

»Und ihr Haus hier auf der Insel?«

»Steht leer.«

Kurz vor zehn begleitete sie Jake zur Haustür und sah zu, wie er auf die Rockledge Road zurücksetzte und dann Richtung Brücke davonfuhr. Sie erwiderte die Kusshand, die er ihr zuwarf und blieb vor der Tür stehen, bis sein Wagen verschwunden war. Der Wind hatte Wolken und Nebel vertrieben, die Blätter der Bäume leuchteten, als seien sie mit kräftigen Lackfarben bemalt worden. Erstaunlich, wie man sich an das Schauspiel der Natur gewöhnte und es als gegeben nahm – als sie Maine das erste Mal im Indian Summer besuchte, hatte sie sich kaum von der Farbenpracht lösen können.

Zurück im Haus ging sie durch die Zimmer im Erdgeschoss und räumte auf, bis ihr bewusst wurde, dass sie sich nur abzulenken versuchte. Sie hatte leichte Kopfschmerzen und verspürte das Bedürfnis, ein letztes Mal dieses Jahr im Atlantik zu schwimmen, am liebsten am kleinen Strand in der Bucht unter dem Leuchtturm am Owls Head.

Die Dublin Road war auf beiden Seiten von Autos gesäumt; ein Polizist in Uniform stand auf der Veranda eines stattlichen Hauses und gab der Menge, die sich auf der Wiese vor ihm versammelt hatte, Anweisungen. Sie fuhr im Schritttempo an einigen Klapptischen am Straßenrand vorbei und erkannte Stapel von Flugblättern, Klebebandrollen, Pappbecher und Thermoskannen.

Der Übertragungswagen eines Lokalsenders parkte auf der Wiese, aber da sein Logo von einer Menschentraube verdeckt wurde, konnte sie nicht erkennen, ob er zu einer Fernseh- oder Radiostation gehörte. Sie nahm die erste Parklücke, die sie sah, und ging zu einem der Tische, um den sich Freiwillige drängten. Auf die Landkarte des Bezirkes, die auf der Tischplatte klebte, war mit rotem Filzstift ein engmaschiges Gitternetz gezeichnet worden. Neben der Karte lagen Listen der verschiedenen Suchabschnitte, in die man sich eintragen sollte, sowie mehrere Stapel Flugblätter. Die Frau, die hinter dem Tisch auf einem Campingstuhl saß und telefonierte, hatte ein Klemmbrett im Schoß und klopfte mit ihren rot lackierten Fingernägeln ungeduldig auf den Tisch. Corinna nahm ein Flugblatt, faltete es zusammen und schob es in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Eigentlich wollte sie gleich wieder ins Auto steigen und losfahren, mischte sich dann aber doch unter die Leute.

»Haben Sie sich schon eingetragen?«

Die Frau, die sie angesprochen hatte, trug eine Rolle Klebband wie einen Armreif am Handgelenk und strahlte sie offen an. Corinna begriff erst nach einer Schrecksekunde, was die Frau meinte, und nickte beflissen.

»Suchen oder kleben?«, fragte die Frau.

»Kleben.«

»Die Flugblätter sind eine Spende vom Samoset Resort, also nicht kleckern, klotzen, wir haben genug davon! Am schnellsten geht es, wenn wir die Angestellten in Tankstellen, Schnellrestaurants, Waschsalons, Galerien und so weiter bitten, die Flugblätter gleich selber an die Tür zu kleben.«

»Mach ich. Klingt vernünftig.«

»Telefon- und Strommasten an Kreuzungen sind perfekt. Aber nicht an Bäume kleben, das gibt Bußen. Der Bus nach Rockland fährt da drüben. Aber nehmen Sie den eigenen Wagen, wenn Sie einen haben. Damit genug Platz ist für die, die darauf angewiesen sind. Ich heiße übrigens Kathy.«

»Corinna. Freut mich.«

»Sie sind aber keine Amerikanerin, nicht?«

»Aus Europa, stimmt.«

»Viel Glück!«, sagte die Frau und ging weiter.

»Danke«, rief Corinna ihr nach und ging zu ihrem Wagen zurück.

 

Ein Mann mit geschulterter Kamera ging an ihr vorbei, eine junge Frau ließ sich schminken, offensichtlich eine TV-Reporterin. Sie trug Pumps mit Absätzen, dunkle Strumpfhosen und ein senfgelbes Kostüm. Eine Frau verteilte Walkie-Talkies, Hunde bellten. Sie sah Namensschilder auf einem Tisch, mit dem Namen »Jane Libby« bedruckte T-Shirts. Es ging zu wie auf einem Rummelplatz. Die Menschen waren aufgeregt, viele wirkten, als seien sie in einer Art Trance, begierig darauf, zu helfen und etwas Gutes zu tun. Auf einem Tisch unter einem aufgespannten großen Schirm lagen in Plastikfolie eingeschweißte Sandwiches, Chipstüten und Kekse. Auf der Veranda sprach jetzt ein Pfarrer ein Gebet. Nahezu alle Freiwilligen hatten die Hände gefaltet, als er »Amen« sagte, bekreuzigten sie sich. Das Murmeln der Menschen, die auf ihren Einsatz brannten, schwebte über der Szene wie ein unheilvolles Omen, und Corinna ging schnell zu ihrem Wagen zurück. Fahrig zündete sie sich eine Zigarette an, schaltete zerstreut das Radio ein und gleich wieder aus, dann fuhr sie endlich los, ohne noch einmal in den Rückspiegel zu schauen.

7 Die Schaukel

Es verschlug ihr den Atem, so kalt war das Wasser. Sie widerstand dem Drang, ans Ufer zurückzulaufen, und watete stattdessen weiter ins tiefere Meer hinaus, bis sie schließlich den Boden unter den Füßen verlor und mit kräftigen Zügen in die Bucht hinausschwamm.

Eine Weile trat sie hinter der Brandungslinie Wasser, dann wagte sie sich darüber hinaus, drehte sich auf den Rücken und überließ sich dem Puls des Meeres. Urplötzlich wurde sie seitwärts weggetragen, als liege sie in einem Schlafwagen, der sich mit einem Ruck in Bewegung setzte und nun der Küste entlangfuhr. War sie in die Rückströmung der Brandung geraten oder in einen gefährlichen Gezeitenkanal, der sie in den offenen Atlantik hinauszog? Sie kämpfte sich in die Senkrechte und sah, dass der Strand wie eine Kulisse an ihr vorbeiglitt. Mit aller Kraft schwamm sie gegen den starken Sog an, begriff aber schnell, sie hatte keine Chance. Es war, als halte sie jemand an der Schulter fest und ziehe sie unerbittlich vom rettenden Ufer weg.

Ihr fiel ein, dass sie parallel zum Ufer schwimmen musste, um mit etwas Glück aus der Strömung zu kommen; sie drehte sich um neunzig Grad, wurde von einer Welle erfasst, wie eine Marionette herumgewirbelt, am Nacken gepackt, nach unten gedrückt und seitwärts über den Grund geschleift. Der Lärm war ohrenbetäubend, das Wasser um sie schäumte weiß, als werde es gekocht. Sie hatte keine Ahnung, wo oben war und in welcher Richtung sich das Land befand, ruderte mit beiden Armen, so kräftig sie nur konnte, schlug mit den Beinen um sich, bis sie plötzlich mit den Zehenspitzen den Meeresboden berührte, sich abstoßen konnte und nach Atem ringend die Wasseroberfläche durchbrach. Sie war hinter der Brandungslinie, in Sicherheit. Um aufzustehen, fehlte ihr die Kraft, doch es gelang ihr, sich so weit ans Ufer zu kämpfen, bis sie mit den Händen den Boden berührte und keuchend auf allen vieren an Land kriechen konnte. In ihren Augen brannte Salz, ihre Schulter tat weh, als sei sie gebrochen, die rechte Seite ihres Oberkörpers fühlte sich wund und taub an.

Sie rannte über den Sand, ließ sich auf dem Grasband am Waldrand zu Boden fallen und riss sich die Badeschuhe von den Füßen. Ihre Zehen waren eiskalt und gefühllos, und sie fing an, am ganzen Körper zitternd, sie mit beiden Händen zu reiben und zu massieren. Wäre sie ertrunken, kein Mensch hätte es mitbekommen. Das Meer hätte sie davongetragen und mit sich genommen und vielleicht irgendwo wieder abgelegt. Wieso rief sie nicht Jake an und bat ihn um Hilfe? Sie rollte mit der Schulter und betastete sie: gebrochen war sie bestimmt nicht. Ihre rechte Hüfte und die rechte Seite ihres Oberkörpers waren aufgeschürft und bluteten leicht, wenn sie tief Luft holte, schmerzte der Brustkorb. Sie massierte ihre Zehen, bis sie wieder normal durchblutet waren und ihre Beine sie trugen. Sie schälte sich aus dem Badeanzug und zog sich schnell an. Als sie in die Jeans schlüpfte, fiel ihr das Flugblatt ein, und sie zog es aus der Gesäßtasche und entfaltete es.

Das Farbfoto auf dem Flyer zeigte die sechsjährige Jane Libby auf einer Schaukel, die am Ast eines Baumes hing. Sie trug ein blau-weiß kariertes Kleid mit Puffärmeln, eine Halskette aus Brausetabletten, war barfuß und hatte die langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich einzelne Strähnchen gelöst hatten. Neben ihr saß ein Teddybär im Gras, vornübergesunken, als habe er aufgegeben. Jane sah offen in die Kamera, ohne zu lächeln, als warte sie auf Anweisungen oder eher noch ein Lob. Ihr linkes Knie war aufgeschürft.

Direkt unter dem Foto war aufgelistet, was Jane Libby getragen hatte, als sie verschwunden war (schwarze Leggins, einen gelben Sweater mit Kapuze, eine Jeansjacke mit goldenen Sternchen auf den Brusttaschen, weiße Walmart-Sneakers und Engelsflügel), dass sie 114 Zentimeter groß und 16,3 Kilogramm schwer war, dunkelblonde, schulterlange, gelockte Haare, grünblaue Augen und keine besonderen Kennzeichen hatte, außer dass ihr der obere rechte Eckzahn fehle. Unter diesen Angaben stand in etwas kleinerer Schrift: »Sollten Sie Informationen haben, wenden Sie sich bitte an die Rockland Police oder an den Bezirkssheriff.« Dann folgten mehrere fett und rot gedruckte Telefonnummern und Hotlines.

Sie verwarf den Gedanken, nach Owls Head zurückzufahren, um bei der Suche mitzuhelfen. Sie würde stattdessen nach Hause zurückkehren, sich ausruhen, die Schürfwunden verarzten, eine Schmerztablette nehmen, heißen Tee trinken und die Katze ins Haus rufen. Sie wäre beinahe ertrunken, doch sie hatte sich zurückgekämpft und lebte.

Das Meer hatte eine bleigraue Farbe angenommen, die Wellen, die in die Bucht rollten, trugen weiße Schaumkronen; sie hörte das Knirschen der Kiesel, die von den Wogen umgeschichtet wurden. Ein Geräusch, das sie sonst beruhigte und mit angenehmer Wehmut erfüllte, ihr heute jedoch Angst machte, verriet es doch die Macht des Meeres.

Der Wald hinter South Thomaston war dunkel, der Himmel wurde von Scheinwerfern der Autos erhellt, die auf der Route 73 unterwegs waren. Sie fuhr langsam, hörte keine Musik. Auf der Brücke vom Festland zur Insel wurde ihr Auto von einer Windböe erfasst, und sie glaubte, sie werde von einer großen starken Hand emporgehoben und wieder abgesetzt.

Sie fuhr vorsichtig in ihre Garage, schaltete Licht und Motor aus, blieb jedoch sitzen. Es war kühl und dunkel in dem schmalen Raum, es roch nach Motorenöl und Dachpappe. Erst nach einer Weile bemerkte sie die Katze. Sie hockte auf dem Reifenstapel in der Ecke, sah sie unverwandt an, sprang endlich unvermittelt zu Boden und dann in einem Satz auf die Motorhaube und schmiegte sich an die Windschutzscheibe, als sei das Auto ein Wesen, das sie liebkoste.

8 Guns N’ Roses

Leah Tucker blätterte in den Workamper News, dem Magazin für Menschen, die in Wohnmobilen lebten und auf der Suche nach Arbeit durchs ganze Land fuhren. Ihre vorletzte Stelle im September bei der American Sugar Company in Minnesota hatte sie auf der Website der Workamper News gefunden; für einen Stundenlohn von zwölf Dollar plus den freien Stellplatz für ihren Camper mit Strom- sowie Wasseranschluss hatte sie Zwölf-Stunden-Schichten geschoben. Am Ende ihres Einsatzes war sie kaum mehr fähig gewesen, aus eigenen Kräften aus dem Bett zu steigen. Auf derselben Website hatte sie erfahren, dass die Bestimmungen für eine Einbürgerung, auf die man sogar als Arbeitsnomade angewiesen war, in South Dakota lockerer waren und dass man in diesem Bundesstaat auch keine Einkommensteuer zahlte. Sie hatte eine Nacht in einem Motel in South Dakota verbracht, sich bei einem Postnachsendedienst registriert und beide Quittungen dem Department of Public Safety vorgelegt; damit war ihr Wohnmobil offiziell in South Dakota angemeldet, wo sie auch ihren Führerschein erneuert hatte.

Sie faltete die Workamper News zusammen und legte sie in die Schublade ihres Tisches. Sie hatte nicht das Bedürfnis, durch die Zeitung an ihre unsichere Arbeitssituation erinnert zu werden. Im Dezember würde sie bei Amazon arbeiten, danach folgten die sorglosen Wochen in Florida, in denen sie Zeit genug hatte, sich um Arbeitsstellen im neuen Jahr zu bemühen. Ihre Königspython Slash lag träge im Terrarium; sie hatte sie gestern mit einem Kaninchen gefüttert, das sie nur halb aufgetaut hatte, weil sie die warmen Körper der Warmblüter anwiderten. Sie schob Use Your Illusion II von Guns N’ Roses in den CD-Player und sprang zum elften Titel »Estranged«, einem ihrer Lieblingssongs der Band.

Im Haus ihres Sohnes J war sie nicht mehr gewesen, seit sie sich vor ein paar Nächten heftig gestritten hatten. J hatte seinen Truck rückwärts ein Stück in den Wald hineingefahren, der an sein Grundstück grenzte, und sie schimpfend vertrieben, als sie aus ihrem Wohnmobil stieg und wissen wollte, was er da mitten in der Nacht trieb. Den glatzköpfigen Kerl, der ihren Sohn begleitete, hatte sie bei einer seiner wüsten Partys gesehen, bei der nie Frauen dabei waren. Weshalb hatte sie nicht den Mut, J zu fragen, ob er schwul war? Nach ihrem Streit war er zwei Tage nicht nach Hause gekommen, und sie hatte sich gefragt, ob er sich aus dem Staub gemacht hatte, da war er eines Morgens wieder aufgetaucht und hatte ihr eine Tüte mit Toast, Milch, Bier und Chips vor die Tür ihres Campers gestellt.

Sie hörte sich »Estranged« noch einmal an, stoppte die CD und wechselte auf einen Radiosender, der ausschließlich alte Rockmusik spielte. Die Stimme des Sprechers erinnerte sie an den Mann, mit dem sie letztes Jahr bei der Zuckerrübenernte in Montana in derselben Pflückbrigade gearbeitet hatte. Eines Abends hatten sie gemeinsam Burger gegrillt, den widerlich süßen Geruch der Zuckerrüben in der Nase, zusammen eine Flasche Southern Comfort getrunken und sich in seinem Wohnmobil geliebt. Zwei Tage später war der Mann abgereist, während sie arbeitete. Wie alle anderen hatte sie ihn Healer genannt, da gemunkelt wurde, er sei ausgebildeter Masseur; seinen richtigen Namen hatte sie nie erfahren.

Seit einigen Tagen berichtete der Rocksender von einem Mädchen, das vor dem Haus seiner Großeltern in Owls Head verschwunden war. Der Sender rief zu einer weiteren gemeinsamen Suchaktion auf, zu der man sich vor dem ehemaligen Grocery Store in Owls Head versammelte. Warum nahm sie nicht teil? Sie würde Leute kennenlernen, käme an die frische Luft und aus ihrem stickigen Camper, in dem sich ihre Gedanken im Kreis drehten, so sehr sie sich auch dagegen wehrte. Ein Aufruf der Mutter des verschwundenen Mädchens wurde eingespielt, ihre Stimme klang erstaunlich sicher, und Leah versuchte, sich das Gesicht der Frau vorzustellen und wie sie sich fühlte. Saß ihr Mann neben ihr, als die Aufnahme gemacht wurde? Offensichtlich gab es keinerlei Spuren, die Polizei stand vor einem Rätsel. Jane Libby. Der Name des Mädchens klang vertraut, so oft hatte sie ihn mittlerweile gehört. Sie musste sich eine Zeitung besorgen, damit sie erfuhr, wie das Mädchen aussah. Was es getragen hatte, als es verschwand, wusste sie, so oft war es im Radio wiederholt worden. Das Geräusch eines Automotors riss Leah aus ihren Gedanken. Sie erhob sich, machte das Radio aus, trat ans Fenster über dem Spülbecken, in dem sich Gläser und Tassen stapelten, und schob vorsichtig die Gardine zur Seite.

J fuhr seinen Truck rückwärts dicht an ihren Camper heran, als wolle er nachprüfen, ob sie da war; das tiefe Blubbern des PS-starken Motors ließ ihr Küchenfensterchen vibrieren, und sie ertappte sich dabei, den Atem anzuhalten. Fürchtete sie sich vor ihrem Sohn? Der Mann, der neben J saß, trug eine Mütze und hatte eine Zigarette im Mund, die Ladefläche des Trucks war mit einer straff gespannten Plane abgedeckt.

Schließlich setzte sich Js schwerer Wagen langsam in Bewegung und fuhr vom Grundstück. Bevor Leah die Gardine zufallen ließ, fiel ihr auf, dass die amerikanische Fahne auf der Veranda ihres Sohnes verkehrt am Mast hing. Dass dies »Nationale Katastrophe« bedeutete, wusste sie.

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