1989 oder Wie ich die Revolution verpasste

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1989 oder Wie ich die Revolution verpasste
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Hanskarl Hoerning

1989

oder

WIE ICH DIE

REVOLUTION

VERPASSTE

Erinnerungen eines Leipziger Kabarettisten

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorbemerkung

Januar: Wie ich die Grenze überschreiten durfte

Februar: Wie wir Münchens Kammerspiele besetzten

März: Wie ich ein Pilzbuch auf den Markt warf

April: Wie sich die Töchter aus dem Staub machten

Mai: Wie ich eine Ost-Tournee auffliegen ließ

Juni: Wie wir Didis Wühlmäuse heimsuchten

Juli: Wie vier von Venedig träumten

August: Wie man mir auf den Zahn fühlte

September: Wie der Alte Fritz entschwand

Oktober: Wie ich die Revolution verpasste

November: Wie der Wahnsinn um sich griff

Dezember: Wie ich kurz vor 12 mitschimpfte

Leipzig, nach 25 Jahren

VORBEMERKUNG

In Anspielung auf den Titel des Romans „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge beabsichtigte ich ursprünglich, die vorliegenden Texte „In Zeiten des zunehmenden Tons“ zu überschreiben. Solche Abwandlungen des Originaltitels haben ja Tradition. Man denke zum Beispiel an eine „Wach-und Schließgesellschaft“, aus der einst Münchner Kabarettisten die „Lach- und Schießgesellschaft“ machten. Von ihr wird noch mehrfach die Rede sein.

Für meine geplante Abwandlung gab es sogar einen stichhaltigen Grund. Ich hatte nämlich den Eindruck, dass „der zunehmende Ton“, also die Rufe nach Veränderungen in der DDR, im Laufe der letzten ihrer 40 Jahre nicht mehr hinter vorgehaltener Hand oder im kleinen Kreis, sondern öffentlich frei von der Leber weg zu hören waren und immer lauter wurden. So laut, dass die Firma „Horch und Guck“ alias Stasi ihre Mit-Hörgeräte getrost abschalten konnte. 1989 erreichte der zunehmende Ton seinen Höhepunkt. Selbst überzeugte SED-Genossen aus meinem Umfeld hatten den Kanal gründlich voll. Sie erwogen zwar weiterhin einen Sozialismus, aber einen „mit menschlichem Antlitz“, also ohne staatsführende Betonköpfe und Phrasendrusch von Apparatschiks.

Erinnern wir uns: Schon 1968 war diese Art Sozialismus mit der gewaltsamen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ zum Scheitern verurteilt. Die Verbände der Warschauer-Pakt-Staaten machten aus Frühlingserwachen Winterstarre. Unsere DDR-Volksarmisten allerdings rückten nicht mit ein. Die drangen weisungsgemäß nur bis zur Grenze vor. Warum? Naja, 1939 hatten deutsche Truppen nicht vor der Grenze haltgemacht. Dass sich jetzt statt der Wehrmacht die Volksarmee in Prag herumtrieb, hätte wohl kein so gutes Bild abgegeben.

Ein erneuter Versuch, diese Art Sozialismus zu etablieren, keimte hierzulande zwar mit dem heißen Herbst ’89 auf, sollte jedoch spätestens mit den ersten freien, demokratischen und geheimen (Volkskammer-)Wahlen der DDR im März 1990 Utopie bleiben. Weder die aus der SED hervorgegangene PDS mit 16,4 Prozent, noch die am 7. Oktober 1989 als Sozialdemokratische Partei gegründete SDP mit 21,9 Prozent der Stimmen würde diese Wahlen gewinnen, nicht mal, wenn sie sich zusammentaten (was sie natürlich nie getan hätten!). Da wären auch bloß 38,3 Prozent herausgekommen. Nein, Gewinner wurde die blockflötende Ost-CDU im Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ mit entscheidenden 40,8 Prozent! Nicht nur mein extra aus Lübeck angereister Cousin war zutiefst enttäuscht bei der Stimmauszählung. Wir alle in unserem Umkreis waren es. Peter Ensikat wird es in dem 2012 geführten Gespräch mit Dieter Hildebrandt so kommentieren: „Der Osten hatte die Banane gewählt.“ („Wie haben wir gelacht“, Ansichten zweier Clowns, Aufbau Verlag 2013)

Wenn auch eine Transparentparole auf den montäglichen Demos „Nie wieder Sozialismus“ lautete, hieß das doch noch lange nicht, rechts zu wählen – oder doch? Doch: Der Bogen war überspannt und zog das Gegenteil nach sich. Das Pendel schlug von rot auf schwarz um. Außerdem wollten die Leute nicht nur Bananen, die natürlich symbolisch gemeint waren. Sie wollten reisen, vor allem gen Westen. Dazu brauchten sie Westgeld, und zwar mehr als einen Hunderter per Einmalzahlung zur Begrüßung. Dieses Westgeld hatte man ja bisher – falls man in westliche Gefilde vordringen durfte – zum „Schwindelkurs“ 1:8 für sein Häppchen DDR-Mark bekommen. Ab dem 1. Juli des Folgejahres würde man sein Barguthaben bis zu einer Höhe von 4.000 Ost-Mark offiziell 1:1 in D-Mark tauschen dürfen; 60-jährige und Ältere sogar bis zu 6.000. Sparguthaben wurden 2:1 umgewechselt. 12 Jahre später wird eine weitere Umwechslung erfolgen, diesmal in Euro, der anfangs im Volksmund „Teuro“ heißt. Allmählich ist Umwechslung Gewohnheitssache.

Schließlich fand ich den Titel mit dem zunehmenden Ton doch etwas hochgestochen und beschloss, ihn durch die Jahreszahl zu ersetzen. Unter Hinzufügung der Tatsache, dass ich beim Höhepunkt der schon seit Monaten andauernden Unruhen, dem sogenannten „Wunder von Leipzig“, nicht dabei sein konnte. Sowie in der Pflicht, auf Ereignisse und Fakten aus zurückliegenden oder – je nachdem – aus bevorstehenden Zeiten einzugehen, sofern sie einen Bezug zu den Ereignissen des Jahres 1989 haben.

Von „friedlicher Revolution“ ist immer die Rede, und von „Wende“, wenn es um den Herbst des Jahres 1989 geht. Und obwohl ich, wie gesagt, den entscheidenden 9. Oktober dieser Revolution verpasst habe, weiß ich doch: so friedlich war es gar nicht. Die uniformierten Einsatzkräfte standen bis an die Zähne bewaffnet im Hintergrund, und die kommunistischen Hardliner würden liebend gern noch zwanzig Jahre später ihre Kriegsbeile ausgraben. In der Sprache eben dieser Hardliner hießen die Demonstrationen damals „nicht genehmigte Zusammenrottungen von Rowdys und Elementen“.

Und eins sollte man nicht vergessen: Von der bereits 1985 eingeleiteten Reformbewegung Gorbatschows mit Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion distanzierten sich die Genossen des SED-Politbüros mit Vehemenz. 1987 hatte SED-Chefideologe Kurt Hager gefragt: „Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung auch neu zu tapezieren?“ Demagogie in Reinkultur. Sowas hatten sie drauf, die sozialistischen Einheitsparteiler. Ohne einen Gorbatschow und nur dadurch, dass die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen nicht wie am 17. Juni 1953 eingriffen, wäre die ganze Sache blutig und vielleicht so ausgegangen, wie kurz zuvor die (von Egon Krenz goutierte) Protestbewegung auf dem „Platz des Himmlischen Friedens“ in Peking. Oder wie der schon erwähnte hoffnungsvoll begonnene Prager Frühling vor 21 Jahren. Oder wie die Niederschlagung des Volksaufstandes 1956 in Ungarn. All diese Aufstände wurden ja bekanntermaßen unter Ulbricht und Honecker als „Konterrevolution“ bezeichnet.

Ich denke noch heute mit Schrecken: Mensch, was wäre passiert, wenn auch nur ein einziger Schuss gefallen wäre, vielleicht nicht mal absichtlich, vielleicht aus Versehen – nicht auszudenken. Das Wort „Wunder“ scheint hier echt am Platze. Und korrekter wäre wohl „friedlich gebliebene“ oder „friedlich ausgegangene“ Revolution.

Mir scheint auch der Begriff „Wende“ (obwohl allgemein gängig) etwas unzutreffend zu sein. Ich sehe Wende als Zeitpunkt der Entstehung von etwas Neuem. Aber wir hatten es doch vorwiegend mit Umkehr zu Altem zu tun! Wer hätte gedacht, dass die Berliner Mauer, die laut Honecker noch in hundert Jahren stehen würde, stückchenweise abgetragen werden konnte, und dass damit Berlin nicht länger in Sektoren, noch zweigeteilt blieb, sondern wieder ein Ganzes wurde – wie es früher gewesen war? Ja, dass es Jahre später sogar wieder (gesamt)deutsche Hauptstadt werden sollte? Wer hätte gedacht, dass sich aus zwei deutschen Staaten wieder einer bildete – wie früher? Wer hätte gedacht, dass der laut DDR-Ideologen offiziell im Untergang begriffene Kapitalismus mit einer sozial sein sollenden Marktwirtschaft Auferstehung feierte? Und dass die sozialistische Planwirtschaft infolgedessen in der Versenkung und die volkseigenen Betriebe unter Dirigat der sogenannten „Treuhand“ verschwanden? Wie sagte doch in einem Programm des Kabaretts „Leipziger Pfeffermühle“ 1975 der vom „Westbesuch“ zurückkehrende Opa scheinheilig?

 

„Ich hab’n sterbenden Kapitalismus gesehen. Ein schöner Tod!“

Wer hätte gedacht, dass die mächtige Sowjetunion nach 70 Jahren zusammenbrach und auseinanderfiel? Und danach peu á peu der ganze Ostblock? Dass etliche annektierte Staaten von der SU abfielen und (wieder) ihre Eigenständigkeit erlangten – wie früher? Dass Leningrad, 1914 bis 24 Petrograd, wieder zu St. Petersburg wurde? Wer hätte gedacht, dass Karl-Marx-Stadt wieder Chemnitz, in Leipzig der Karl-Marx-Platz wieder Augustusplatz und die Ernst-Thälmann-Straße wieder Eisenbahnstraße heißen würden – wie früher? All diese Tatsachen erinnern doch wohl eher an die Herstellung eines Zustandes, der überwunden und längst der Vergangenheit anzugehören schien. Wäre da der Begriff „Kehrtwende“ nicht viel angebrachter? Nun gut, es wurde nicht alles ganz so, wie es vor 40 oder 70 Jahren gewesen war. Es blieb aber auch nicht so, wie es bis kurz vorm Mauerfall gewesen ist. Nach westlichem Vorbild würde sich das Altenheim alsbald in eine Seniorenresidenz verwandeln, das Flugzeug in einen Flieger, das Krankenhaus in ein Klinikum, der Lehrling in einen Azubi, Kinder in Kids, Straßenbahnen in Trams, und Strafzettel unterm Scheibenwischer eines Autos würden jetzt „Knöllchen“ heißen. Niedlich, nicht wahr? Nach jedem Einkauf würde man an der Kasse mit „Schönen Tag noch!“ in den Scheißalltag verabschiedet. Und jede Institution, die was zum Verkauf anzubieten hat, frohlockt schamlos mit: „Wir freuen uns auf Sie!“ Die als Freundlichkeit drapierten Floskeln grassierten allerorten. Auf Neudeutsch: es menschelte.

Noch etwas anderes. Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gab es im Programm der „Pfeffermühle“ einen Sketch, in dem es um die Vorbereitung eines Balles der freiwilligen Feuerwehr ging. Der Ausdruck „Sketch“ ist wohl schlecht gewählt, man sollte eher „Klamotte“ sagen, oder nach heutigem Verständnis „Comedy“. Da kam beispielsweise auf der Tagung des Festkomitees zur Vorbereitung eines Feuerwehrballes der Anruf eines Nebenstraßenbewohners. Der meldete, ein Brand sei in seinem Haus ausgebrochen. Worauf der Vorsitzende ihm riet, den Brand bis zur Hauptstraße vor brennen zu lassen, da käme man besser ran, und dort sei außerdem die Berufsfeuerwehr zuständig. „Lassen wir den Brüdern auch mal ’n hübsches Knäckerchen zukommen!“ Hahahaha. Politische Satire anno 1960?

Einer der vier Feuerwehrleute des Komitees war ein Lispler (was komisch sein sollte). Er wurde „Blasius“ genannt. Den spielte ich. Dieser Name übertrug sich als Spitzname ins tägliche Leben. Die damals blutjunge Anfängerin Helga Hahnemann, genannt „die Henne“, machte auf Schritt und Tritt von „Blasius“ Gebrauch. Da ich vorhatte, im Vorliegenden von mir in der dritten Person zu berichten, hätte sich „Blasius“ angeboten. Das klang mir aber auf Dauer zu blöd. Ich habe die Urfassung verändert und bin zum Ich zurückgekehrt. Soll die 1991 verstorbene „Big Helga“ mit dem nach ihr benannten Publikums- und Medienpreis „Goldene Henne“ weiter leben. Für die Vergabe des „Silbernen Blasius“ würde es wohl kaum kommen. Die Stasi – um dieses leidige Thema nochmal anzuschneiden – hat mir weder „Blasius“ noch einen anderen Decknamen verpasst. Bei Einsicht in meine „Opferakte“ taucht nur mein Klarname auf, und eine „Täterakte“ gibt es nicht. Der unliebsame Titel „IM“ blieb mir nebst inoffizieller Mitarbeit erspart. Ich war wahrscheinlich für das System so unwesentlich, dass sich keiner die Mühe machte, mich für den Geheimdienst anzuwerben.

Die Staatssicherheit der DDR hatte ja auch ihre lächerlichen Seiten. Da gab es zum Beispiel einen Schauspieler und Rundfunksprecher, der bei der „Pfeffermühle“ Regie führte. Der soll laut FAZ vom 30.10.2000 „IM Romeo“ gewesen sein, und seine Ehefrau, eine seinerzeit bekannte und beliebte Funkmitarbeiterin, „IM Julia“. Beide sollten „über die Ansichten von Westbesuchern auf der Leipziger Messe“ berichten.

Ich fürchte, es stellt sich nachträglich heraus, dass ihr Führungsoffizier der Genosse Oberleutnant William Shakespeare gewesen ist. Und an der späteren Scheidung unseres Paares sei die Nachtigall schuld gewesen, und nicht die Lerche.

JANUAR: WIE ICH DIE GRENZE ÜBERSCHREITEN DURFTE

Kaum hatte ich mich ins neue Jahr hineingesoffen, ging die Aufregung schon los. Die 15,00 DM (West) als „Reisezahlungsmittel“ in der BRD sowie meinen Reisepass mit eingestempeltem Visum und der weißen „Zählkarte“ hatte ich gegen eine „Verwaltungsgebühr“ von 5,00 M (Ost) noch im alten Jahr bei der Volkspolizei-Behörde abgeholt. Die an der Grenze abzugebende und inzwischen ausgefüllte Zählkarte sollte den DDR-Statistikern als Beweis dafür dienen, welche Massen von Bürgern der souveräne Staat unter Führung der sogenannten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in seiner unermesslichen Großzügigkeit täglich die Grenzen passieren ließ. Beim Grenzwechsel von Ostberlin, Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), nach Westberlin wurden statt weißer gelbe Zählkarten verteilt.

Ich bestieg im Leipziger Hauptbahnhof einen der „Interzonenzüge“, wie die Deutsche Reichsbahn (DR) sie nannte. Vom gemeinen Volk war so ein Monstrum bis dahin als „Mumienexpress“ deklariert worden.

Das sollte aber die längste Zeit so gewesen sein. Schon jetzt schien es für einen DDR-Bürger wie mich völlig abstrus zu sein. Mit meinem gerade begonnenen achtundfünfzigsten Jahr fühlte ich mich alles andere als mumienhaft. Nicht einmal in meinem schon erwähnten Cousin, den ich zu besuchen gedachte, konnte ich eine Mumie erkennen. Der würde nämlich in wenigen Tagen seinen Fünfundsechzigsten feiern.

Ein Anlass, der nach den neuesten Bestimmungen in der Gesetzgebung der DDR seinen Bürgern gestattete, nach entsprechender Antragstellung Verwandte ersten (und jetzt auch zweiten Grades!) in der BRD zu besuchen. Also „in den Westen zu machen“, wie man im Osten sagte. Wenn auch nur „besuchsweise“, und nicht ausreiseweise. Also für immer. Und diese Gnade, auch ohne das „Mumienalter“ schon erreicht zu haben. Das war durchaus ein Fortschritt gegenüber früheren Zeiten. Schon bei Verwandten ersten Grades ist 65 kein Anlass gewesen, geschweige denn bei denen zweiten Grades, worunter ja Cousins und Cousinen nicht nur in den Augen der Gesetzeshüter zählten.

Dieser „Express“ setzte sich Richtung Hansestadt Lübeck in Bewegung. Am Grenzübergang Schwanheide gab es den an solchen „Übergängen“ üblichen etwa einstündigen Aufenthalt zwecks Kontrolle jedes einzelnen Fahrgastes, seines Gepäcks und seiner Dokumente. Personen, die den „Organen“ in irgendeiner Weise verdächtig erschienen, mussten den Zug zeitweilig verlassen und sich in der Zollbaracke einer Leibesvisitation unterziehen. Spürhunde krochen unter die Waggons, aber nicht, um nach Rauschgift zu schnuppern (sowas war in der DDR so gut wie ein Fremdwort), sondern nach blinden Passagieren, die illegal „in den Westen machen“ wollten. Meine Person erschien unverdächtig. Mein Koffer offenbar auch. Auf einer Autofahrt über die Grenze nach Marienbad, und von dort wieder zurück nach Bad Elster, wo ich mich einmal zur Kur befunden hatte, nahm ein Zöllner mein Auto auseinander, weil er mehr als eine mitgebrachte Dose Ölsardinen bei dem Wochenendausflügler vermutete. Konservierte Ölsardinen waren (wie auch Dorschleber) Mangelware im Staate DDR.

Auf der langen Fahrt nach Lübeck hatte ich genügend Gelegenheit, über meinen ersten legalen Grenzübertritt nach dem Bau der Berliner Mauer nachzudenken. Der vollzog sich Ende April 1980, nachdem meine Mutter verstorben war. Sie hatte während der Nazizeit den Kontakt zu ihrer Jugendfreundin Trudchen und deren kleinem Sohn Ronny aufrecht erhalten, obwohl Trudchen mit einem im Internierungslager seines Hamburger Arbeitgebers eingesperrten Juden verheiratet war. Dass er nicht ins KZ abgeschoben wurde, hatte er jenem Arbeitgeber zu verdanken, offenbar einem Mann vom Schlage des Oskar Schindler.

Als die Freundin mit Mann und Kind nach dem Kriege in die USA umsiedelte, folgte ihr (nachdem Trudchen alles Organisatorische vorbereitet hatte) meine Schwester Klara, eine gelernte Herrenfriseuse. Nach „Republikflucht“, einjähriger Tätigkeit in dem zur Region Würzburg gehörenden Ort Eußenheim und ohne ein Wort Englisch zu beherrschen, durfte sie in die Staaten ausreisen. Trudchen kümmerte sich um Klara, die bei der Familie wohnen durfte. Die Sprache erlernte sie per Fernsehen und Abendschule. In Chicago bewarb sie sich als Stewardess, wurde angenommen und bewährte sich nach entsprechender Lehrzeit auf verschiedenen Inlandfluglinien. Als Klara heimlich geheiratet hatte und schwanger wurde, kündigte sie, ehe man ihr gekündigt hätte; denn die Vorschriften ließen bei Dienstleistungen über den Wolken so etwas nicht zu – so streng waren dort die Bräuche.

Sie kehrte nach Deutschland zurück, fortan beim Bodenpersonal des Flugwesens tätig. Dabei machte sie die Bekanntschaft mit Sven Sobantge, der wie sie in der Verkehrsabteilung beschäftigt, aber eigentlich Schauspieler gewesen war. Jedes Jahr zur Leipziger Messe besuchte Klara mich und meine Familie, und da sie nicht gern allein die Reise antrat, brachte sie immer eine Begleitperson mit. Eines Tages auch Sven Sobantge. Das war relativ einfach, denn zu den Messen konnte quasi jeder ohne Antragstellung und Einladung aus dem Westen einreisen. Hauptsache, er erwarb einen Messeausweis (den gab es in jedem Reisebüro), ließ sich registrieren und legte sein „Eintrittsgeld“ in harter Währung den staatlich Beamteten auf den Tisch. Später reiste Sven auch ohne Klara ein und brachte Frau und Sohn gleich mit.

Inzwischen hatte Klara unsere Mutter nach deren Eintritt ins Rentenalter „nach drüben“ kommen lassen. Ein Jahr lebten sie mit Klaras Töchterchen in England, danach in Bayern. Im Alter von Fünfundsiebzig ließ „Oma“ die beiden nach einer Infusion und eintretender Gehirnblutung allein, und ich erhielt die Erlaubnis, den Bestattungsfeierlichkeiten beizuwohnen. Allerdings erst, nachdem es die Behörde abgelehnt hatte und ein Genosse Kulturfunktionär (später letzter Kulturminister der DDR!) sich für mich eingesetzt und über eine interne Telefonleitung interveniert hatte. Obwohl ich nur ein unsicherer Kandidat und Mitglied einer der dienernden Blockparteien war. Aber ich genoss Vertrauen als kabarettelndes Mitglied der „Pfeffermühle“.

Ich wurde am Lübecker Hauptbahnhof von meinem Cousin Horst abgeholt. Horst war nach Abitur an der Nikolaischule, kurzem Dienst bei der Wehrmacht und amerikanischer Kriegsgefangenschaft schon in jungen Jahren von seiner Heimatstadt Leipzig nach Westberlin übergesiedelt, hatte an der Freien Universität studiert, geheiratet und sich mit Familie in Husum niedergelassen. Er übte den Beruf eines Lehrers aus, der zum Oberstudienrat aufstieg. Den Kontakt zur Verwandtschaft in der Messestadt hatte er nie verloren und besonders in den achtziger Jahren durch fast regelmäßige Besuche zu den Messen verstärkt.

Horst war eng befreundet mit dem 1994 verstorbenen Schriftsteller und Journalisten Bernt Engelmann und dessen Lebensgefährtin. Er schenkte mir auf Anhieb Engelmanns „Schwarzbuch Helmut Kohl“. Ebenso schwärmte Horst für den Autor, Publizisten und Kabarettisten Erich Mühsam. Dessen Lied vom „Revoluzzer“ hatte ich 1966 in einem Programm vorgetragen, das aus Kabarett-Texten der zwanziger Jahre bestand; zu einer Zeit also, in der Horst noch gar nicht mit Mühsam vertraut war. Horst beteuerte, der Erich-Mühsam-Gesellschaft beizutreten, die für den 6. April 1989 geplant war.

Gleich am zweiten Tage machte Horst mit mir eine Stadtführung. Außer dem Wahrzeichen der Stadt, dem Holstentor, zeigte er mir unter anderem das Buddenbrookhaus in der Mengstraße, das in verschiedenen Baustilen erbaute und zu verschiedenen Zeiten erweiterte Rathaus, und das nach dem Hersteller des Marzipans benannte Café Niederegger. Zum Mittagessen lud er mich in das durch den typischen Backstein-Treppengiebel unverkennbare Haus der Schiffergesellschaft ein. Es gab eine köstliche Kartoffelsuppe.

Dem dritten Tage blieb ein Besuch Hamburgs vorbehalten. Wer noch nie in Hamburg gewesen ist, was will der sehen? Das, was weltweit in aller Munde ist, also – außer der im Volksmund „Michel“ genannten, unübersehbaren St.-Michaelis-Kirche – die Reeperbahn und den Fischmarkt in St. Pauli. Für den Fischmarkt war es zu spät, da hätte man sonntags kommen müssen, wenn der Woche für Woche stattfindet, und nicht erst am Dienstag, wenn sich ein Lübecker mit seinem Gast auf die Socken macht. Für die Reeperbahn wiederum war es zu früh. Die erwacht zwar täglich zum Leben, aber da geht das rotbelichtete Remmidemmi ja erst nach Einbruch der Dunkelheit los, wenn sich der Lübecker mit Gast schon längst wieder auf den Heimweg begeben hatte. So musste sich der Gast mit einem Apfelstrudel und einem Becher Kaffee bei McDonalds zufriedengeben. Das hätte er natürlich auch in Lübeck haben können. Auf der Rückfahrt gab es noch einen Kurzbesuch bei Rainer, einem Pharmavertreter, ständigen Leipziger Messegast sowie Freund und Kollege des Helmut D. aus Wien, von dem noch die Rede sein wird. Rainer lud mich ein paar Tage später bei einer Lübeck-Visite im Steakhouse zum Essen ein. Dass wir „Pfeffermüller“ in den Folgejahren mit konstanter Regelmäßigkeit Gastspiele mit dem jeweils aktuellsten Programm in Hamburg haben würden, und zwar in Deutschlands größtem privat geführten Theater mit 744 Sitzplätzen, nämlich dem Ernst-Deutsch-Theater, und das jeweils gleich zweimal an einem Tag, war noch nicht abzusehen und wird erst im März 1992 spruchreif werden.

 

Am vierten Tage fuhr Horst mit seinem Verwandten zweiten Grades nach Travemünde. Auf Anhieb wurde ich an das mir durch sechzehn Jahre Zelturlaub im nahe gelegenen Graal-Müritz bestens bekannte Warnemünde erinnert. Erstens war es ja – ähnlich wie Travemünde der Hansestadt Hamburg – der Hansestadt Rostock seewärts vorgelagert. Zweitens ragte auch hier ein riesiger Betonklotz hervor, dessen Anblick Ähnlichkeit mit dem in Warnemünde hervorragenden Hotel Neptun aufwies. Allerdings hatte das Travemünder Maritim-Hochhaus auf einer Höhe von 119 Metern auf zehn Etagen Hotelzimmer und auf den darüber gelegenen 22 Etagen private Wohnungen. Ganz oben befand sich noch ein Restaurant. Dagegen war das Neptun mit seinen 68 Metern Höhe und 18 Etagen freilich ein Zwerg, aber dennoch weithin sichtbar. Und ganz oben, also in der 19. Etage, gab es gleichfalls ein Restaurant, die „Sky-Bar“, nach obenhin offen mit Blick auf den Sternenhimmel. Natürlich nur an regenlosen und klaren Nächten. In einem Nachtprogramm, das die sogenannte Konzert- und Gastspieldirektion den Gästen in der Sky-Bar bot, war ich sogar schon mit meinem Kabarett-Kollegen Hans-Jürgen aufgetreten. Während das Neptun 1971 in Betrieb ging, kann man das Maritim bösartig als aufgemotzten Abklatsch bezeichnen, denn es wurde erst drei Jahre später, 1974, fertig.

Am fünften Tage stieß auch Cousine Anita zu uns beiden Herren. Sie war mit ihrer Mutter in Memmingen ansässig, und vor ihrer Flucht aus der DDR eine hoch angesehene Leipziger Kindergärtnerin. Ihr Tätigkeitsfeld erstreckte sich auf die erste Etage eines Eckhauses zwischen Torgauer- und Eisenbahnstraße in Sellerhausen, hinter dem sich in grauer Vorzeit die Ausflugsgaststätte „Rheingold“ befunden hatte. Unten drin war eine Geschäftsstelle der „Volkspolizei“ stationiert, und somit Anitas Kinderchen bestens behütet. Damals hätte man die Einrichtung „Kiga“ (für Kindergarten) abkürzen können, denn „Kitas“ (Kindertagesstätten) gab es da noch lange nicht.

Der fünfte Marzipanstadt-Tag bescherte uns den Besuch des Lübecker Theaters. Cousin Horst hatte nämlich Karten für eine Aufführung des sehr sozialkritischen Musicals „Linie 1“ besorgt, das 1986 vom Berliner Grips-Theater uraufgeführt worden war. Wir unterhielten uns königlich. Nicht absehbar war zu diesem Zeitpunkt – ähnlich wie in Hamburg –, dass unser Kabarett auch hier für ständige Gastspiele vorgemerkt wird, anfangs noch im „Colosseum“ mit 680 Plätzen, und einem mit azurblauer Decke, braunroten Wänden und Kristalllüstern ausgestalteten Saal. Erste später wird das Theater seine Bühne für die Aufführung unserer Programme öffnen.

Wenn in den Beziehungen beider deutscher Staaten zueinander Normalität geherrscht hätte, wäre ich am sechsten Tage noch in Lübeck verblieben und am siebenten nach Hannover gefahren, was etwa die Hälfte der Strecke nach Leipzig gewesen wäre. Denn in Hannover sollte ich zusammen mit einem Teil unseres Ensembles, der „Pfeffermühle“, in Dietrich Kittners „Theater am Küchengarten“ (TAK) mit dem letzten aktuellen und weitgehend tabulosen Programm vor der Wende auftreten. Der Titel erinnerte an den von Friedrich II. stammenden Slogan von der „Verdammten Pflicht und Schuldigkeit“, die jedoch hier zur „Schludrigkeit“ wurde. Die andere Hälfte des Ensembles spielte indessen zu Hause ein Parallelprogramm; im folgenden soll diesbezüglich nur die Rede von dem Ensembleteil sein, bei dem ich beschäftigt war.

Einen Reisepass hatte ich ja. Aber es war ein privater Reisepass, und der hätte mir nach den Gastspielen auf der Rückreise im Tourneebus nichts genutzt. Da brauchte ich für die Grenzkontrolle – wie meine Kollegen schon bei der Einreise – einen Dienstreisepass. Und der wurde in Leipzig erst kurz vor Antritt der Reise vom begleitenden SED-Funktionär ausgegeben. So begab es sich, dass ich mich am sechsten Tage mit Privatpass auf die Heimreise nach Leipzig machte und Hannover links liegen ließ, um am siebenten Tage wieder von Leipzig aufzubrechen (diesmal mit Dienstpass!) und in Hannover Station zu machen. Ein kaum zu überbietendes Beispiel von Bürokratismus im Sozialismus. Wobei man bei aller Bürokratie mit Antragstellungen, Laufereien et cetera froh sein musste, überhaupt einen Anlass zu finden, um (west)reisen zu dürfen.

Was mir von diesem Hannover-Aufenthalt in Erinnerung blieb, ist die Tatsache, dass ich bei einem Bummel durch das dem TAK nahegelegene Viertel überrascht war, wie viele Häuserwände hier mit undefinierbaren Klecksereien besprüht waren, eine Unsitte, die sich unter dem Namen „Graffiti“ erst in den neunziger Jahren im Osten auszubreiten beginnt.

Unvergessen blieb auch, dass Familie Kittner sehr besorgt um das leibliche Wohl der Müllerinnen und Müller, aber gleichzeitig auf Sparsamkeit bedacht war. Frau Kittner (Christel) bekochte sie mit Hausmannskost. War auch nötig, denn mit 46,50 DM Tagegeld konnten die Kabarettisten keine großen Sprünge tun. In die Steingutteller, auf deren Boden in der Mitte neckischer Dekors ein Häuschen im Walde zu sehen war, wurde reichlich Kartoffelsuppe gefüllt, die richtig gut schmeckte und satt machte. Jeder kriegte sogar noch einen Nachschlag. Ich schaffte ihn kaum und stöhnte, als sich der Teller zu leeren begann: „Bin ich froh, das Häuschen wieder zu sehen!“

Ansonsten blieb erinnerlich, dass einige der meist links ausgerichteten Besucher Bauklötzer staunten, was in der DDR auf Brettlbühnen wie der unseren freimütig alles gesagt werden durfte und so gar nicht dem Ideal entsprach, das ihnen vom Honeckerstaat vorschwebte. Und ferner, dass ein Pharmakologe, ständiger Besucher der Messen in Leipzig und Kabarettfreak, der im Hannoverschen lebte und der unser Gastspiel bei Kittner besucht hatte, mich und meinen Kollegen Günter zu einer Fahrt nach Hameln in seinem Mercedes einlud. Unbeeindruckt von der Rattenfängerstadt war Günter darauf aus, seiner Frau einen Römertopf und eine Pfefferspraydose mitzubringen, weil so was daheim schwer oder gar nicht zu bekommen war. Er bekam es und brachte es unbeschadet auf der Rückreise durch den Zoll. Übrigens verstirbt der „Einzelkämpfer und Partisan“, wie Günter Wallraff Kittner einmal nannte, am 15. Februar 2013 in Dedenitz/Steiermark, wo er die letzten Jahre verbracht hatte.

Ergänzend bleibt zu sagen, dass die allerersten „West“-Gastspiele nach dem Mauerbau bereits 1983 stattfinden durften, und zwar auf Initiative von Werner Schneyder und seine Fürsprache bei Altbundeskanzler Bruno Kreisky in Salzburg, Linz und Wien, und durch Oskar Lafontaines günstigen Einfluss auf Landsmann Erich Honecker in Saarbrücken.

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