Ein Wandel der Gesinnung

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Als ich dann eine frühere Mitarbeiterin und zugleich sehr gute Bekannte dem Chef präsentierte und er sie vom Fleck weg einstellte, begann für uns beide der Spießrutenlauf. Wir wurden von den weiblichen Mitarbeitern gemobbt und sonderten uns daraufhin in der Mittagspause von ihnen ab. Der Niederlassungsleiter, der als Alkoholiker vorwiegend mit der Selbstabfüllung beschäftigt war, konnte diesem Ränkespiel nur spärlich etwas entgegensetzen und so war mein vorzeitiges Ausscheiden nur noch Formsache. Nach altem Muster, entsprechend der vorherigen Firma, erhielt ich einen Provisionsvertrag und in den schwachen Verkaufsmonaten lediglich 450 Euro. Die wachsenden Schulden trieben mich wieder in das Loch zurück, in dem ich schon vor Jahren gesessen hatte. Während sich die Arbeitslust verringerte, stieg der Alkoholkonsum permanent an. Bei der Entlassung zeigte der Möchtegernboss sein zweites Gesicht, das er hinter einer Weinmaske trug.

Ich ergab mich meinem Schicksal und suchte wieder das Jobcenter auf, wo mir der zuständige Sachbearbeiter endgültig die Augen öffnete. Aufgrund des Aussehens und der Alkoholfahne vom Vortag erklärte er in eindrucksvoller Weise, dass eine Arbeitsvermittlung angesichts des derzeitigen Gesundheitszustands aussichtslos sei und er mir eine Hilfe bei der Suchtberatung nahelege. Ich erkannte in den ehrlich gemeinten Worten die einzige Chance auf eine Lebensveränderung und war mit der getroffenen Vereinbarung einverstanden. Diese beinhaltete die Wahrnehmung von drei Terminen bei der ortsansässigen karitativen Einrichtung.

Die offen geführte Unterhaltung hinterließ bei mir einen bleibenden Eindruck und ich begann, das Erlebte im Umgang mit Alkohol niederzuschreiben. Am Tag vor dem ersten Einzelgespräch mit der mir zugewiesenen Therapeutin gab ich mir noch einmal die Kante, in weiser Voraussicht, dass die Tage des Trinkens gezählt waren. Mein anfängliches, abwehrendes Verhalten machte es meiner Therapeutin nicht leicht, mich von der Notwendigkeit einer Therapie zu überzeugen. Immerzu fielen mir neue Ausreden zu einer Aufschiebung der Maßnahme ein, wobei eine geplante Amerikareise als Hauptgrund Wirkung zeigen sollte. Doch sie ließ sich auf keinen Handel ein und rechnete mir stattdessen die noch verbleibende Lebenszeit bei Uneinsichtigkeit aus. Mit ihrer fürsorglichen und sachlichen Art besiegte sie meine Sturheit und ebnete den Weg ins neue Leben.

Unrühmliche Hinterlassenschaft aus der Trinkerzeit

Es war ein unzumutbares und willkürlich begangenes Verfahren, auf welche Weise ich Körper und Geist aufs Äußerste denunzierte. Was habe ich nur gemacht? Was habe ich mir bei alldem gedacht? In vielerlei Hinsicht war ich zu einer Kontroverse nicht bereit. Mit Ausreden und Fantastereien übertünchte ich den tatsächlichen Zustand und begab mich in eine ausgeprägte Perspektivlosigkeit. Man trank die Sorgen weg, welche am nächsten Tag wieder vermehrt auftraten. Ähnlich einem Baum, der sich im Herbst seines Blätterwerkes entledigt, versucht der Suchtkranke durch Intoleranz heikle Situationen und Probleme abzuschütteln. Er verfällt in eine seelische Gleichgültigkeit, verliert jeden Bezug zur Wirklichkeit und erhöht täglich das Maß zur totalen Abhängigkeit. Das anerzogene Gesellschaftsleben zerbröckelt wie ein poröses Mauerwerk und die Selbstzweifel finden den nötigen Nährboden, um sich zu vermehren. Durch die Erniedrigung der eigenen Person und den damit verbundenen Verlust des Selbstvertrauens erhält man zwar die Mitgliedschaft im Kreis der Süchtigen, bewegt sich aber permanent in Richtung Totalabsturz. Der tägliche Ablauf wird von den Zeiten der Ausnüchterung abhängig gemacht. Bei diesem unkontrollierten Vorgang kann es durchaus zu Verwechslungen der Wochentage kommen. Passend zu der scheinbar aussichtlosen Lage, sind Unannehmlichkeiten in Form von Arbeitslosigkeit, seelischen Rückschlägen oder der Aufkündigung einer längeren intensiven Partnerschaft. Hinzu gesellt sich zudem die finanzielle Situation, welche sich kontinuierlich verschlechtert. Die Tage des Wohlstands beschränken sich auf ein Drittel des Monats, während das Wachstum der Schulden durch stetige Kneipengänge unentwegt ansteigt. Ich bin nur dann ein guter Mensch, wenn ich den anderen etwas ausgebe, sie mit dummen Sprüchen unterhalte, bis sich in meinem Portemonnaie nichts mehr rührt. Danach werde ich fallen gelassen wie eine reife Kastanie, verlasse wie ein begossener Pudel die Wirkungsstätte und hoffe inständig, am nächsten Ersten eine weitere Chance zur Aufnahme im bestehenden Säuferclub zu bekommen. So geschehen in einer kleinen Ortschaft in Niedersachsen während meiner Zeit als Messekaufmann. Ein als Dorftrottel und Säufer bekannter Mann machte eines Tages einen unerwarteten Millionengewinn im Lotto. Er nutzte das Geld zum Einkauf in die noble Gesellschaft und trank sich dann mit Champagner zu Tode.

Auch ich stand bei unerwarteter finanzieller Zuwendung unter dem Druck des sofortigen Wiederausgebens, der sich erst legte, wenn der letzte Cent unter die Leute gebracht war. Glück und Freundschaft kann man weder kaufen noch leasen. Ich zog mich nach solchen Enttäuschungen meist in meine vier Wände zurück und schmiedete Pläne, wie man die Bierüberbrückung bis zum Monatsende bewerkstelligen könnte. Dies beschäftigte sogar das zur Untätigkeit verdammte Gehirn und ließ das noch vorhandene Organisationstalent wieder aufblitzen. Der damalige Freundeskreis ließ bei der Alkoholversorgung keinen Engpass zu und half in jeder misslichen Lage.

Durch die ständige Trinkerei wurden Zielsetzungen oder geplante Vorhaben dermaßen beeinflusst, dass es nie zu einer Vollendung kam. Die anfängliche Euphorie verschwand spätestens nach dem dritten Bier und betraf in den meisten Fällen Tätigkeiten, welche zu meinen Gunsten hätten ausgeführt werden sollen. Wie oft wollte ich mein Wohnzimmer inklusive Schreibtisch neu gestalten? Kam ich dann unerwartet zu einem kleinen Reichtum, wurde dieser umgehend in einem Elektrogeschäft ausgegeben. Ein neuer Flachbildmonitor samt Tastatur und Lautsprecher bildete einen Teil der Neuanschaffungen. Tagelang saß ich vor den ungeöffneten Paketen und überlegte beim Biereinschenken, wann denn der beste Termin zum Auspacken wäre. Doch mit zunehmendem Trinken wurde ich immer unentschlossener und gönnte mir eine Denkpause in der nahe gelegenen Stammkneipe. So verstrich die Zeit ohne nennenswerte Aktionen. Nach zwei Wochen ging dann endlich das Geld aus und ich konnte dank des einbehaltenen Kassenbons die unbenutzte Ware beim Händler gegen Bargeld wieder eintauschen. Im Nachhinein gesehen, war diese Handlung wie bei ähnlichen Taten in der Vergangenheit zum Scheitern verurteilt, da die Anschaffung von Alkohol immer Vorrang hatte.

Viele sogenannte Vorhaben wurden durch den kleinen Teufel in mir schon bei der Entstehung ausgebremst und auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Diese auftretende Lustlosigkeit zog sich wie ein langer Faden hinterher und ich unternahm keinerlei Anstalten, ihn durchzuschneiden. Dadurch kam es zu einer Anhäufung von liegen gebliebenen und unerledigten Dingen, welche jedoch nur den privaten Bereich betrafen. Möglichkeiten zu einer Änderung waren zwar gegeben, doch wurden diese bewusst von mir übersehen. Ich entwickelte mich zu einem Trickser, der je nach Laune die anfallenden Arbeiten so geschickt verteilte, dass keine davon jemals ein Ende fand. Im Gegensatz zu einigen Bauwerken in unserem Land konnte ich dies alles ohne fremde Hilfe bewerkstelligen. Da die Tage durch die ständigen Kneipengänge von vornherein kürzer waren, war es unmöglich, einen Termin für die Fertigstellung zu benennen. Zu der Unlust gesellte sich noch eine Vielzahl an Notlügen, welche die Pläne letztendlich begruben.

Unterstützung bei der Nichtausführung anfallender Tätigkeiten erhielt ich von den Kumpels, welche in ähnlichen Situationen gleichermaßen verfuhren. In geselliger Runde wurde mein Handeln befürwortet und gleichzeitig auch Hilfe bei der Lösung des Problems angeboten. Nachdem der Alkoholspiegel gestiegen war, befand ich mich plötzlich inmitten von Fachleuten, deren Arbeitsweise ich zur Genüge kannte. Einer von ihnen tapezierte sein Wohnzimmer aus Zeitgründen um die Möbel herum und rechtfertigte sein Tun mit der Aussage: „Das sieht sowieso keiner.“ Ein Weiterer wiederum beherbergte seit Jahren zwei Zementsäcke im Hausflur, welche für die Ausbesserung der Treppe vorgesehen waren. Ich hörte mir den einen oder anderen Verbesserungsvorschlag an, verzichtete aber letztendlich auf eine Mithilfe.

Eine andere Variante der Terminverschiebung bei auftretenden Verpflichtungen gegenüber Ämtern und Behörden entwickelte ich nach dem Ermessen des körperlichen Zustands. Bei unumgänglichen Besprechungen wurde am Vortag der Bierkonsum reduziert und vor dem Gespräch der Atem mit Pfefferminz kaschiert. Arztbesuche nahm ich nur dann in Anspruch, wenn ich den Kopf schon unter dem Arm trug. Selbst bei Vorstellungsgesprächen war mir der Ernst der Lage nicht bewusst, daher erhielt ich folgerichtig nach den unkontrollierten Auftritten die Absagen vonseiten der Arbeitgeber. Ein Pflicht- oder Verantwortungsbewusstsein gab es bei mir nicht mehr. Erlittene Niederlagen und den damit verbundenen Frust spülte man mit Weizenbier herunter.

Es gab aber auch lichte Momente, in denen sich das Blatt zu wenden schien. So geschehen bei den zahlreichen Krankenhausaufenthalten, bei denen ich die Zeit zum Nachdenken nutzte. Die dort gefassten Zielvorhaben wurden einige Tage in die Tat umgesetzt, doch schien ein endgültiger Durchbruch bei den sich angehäuften Arbeiten nicht zu gelingen. Also suchte ich nach anfänglichem Eifer ohne nennenswerte Erfolge wieder meine Stammkneipe auf und erzählte allen von den guten Absichten.

Wollte man zum Kreis der Elite zählen, wurde das tägliche Erscheinen zu einer Art Pflichtleistung. Zudem hatte man die Möglichkeit, die Gespräche vom Vortag nochmals mitzuhören, da es an sonstigen Neuigkeiten mangelte. Die Themenvielfalt bei den stattfindenden Unterhaltungen war sehr eingeschränkt und es bedurfte schon einer Topmeldung, um das Interesse der meist in sich gekehrten Gäste zu wecken.

 

Zu einem Muss gehörte auch das gemeinsame Anschauen eines Fußballspiels. Da die meisten Übertragungen erst abends stattfanden, das Gros sich aber schon den ganzen Tag im Lokal abmühte, saßen die Nüchternsten in der ersten Reihe. Die dahinter Platzierten, welche alles in 4D sahen, erfuhren in der Halbzeit beziehungsweise am Ende den wahren Spielverlauf. Auch ich war gegen Sehstörungen nicht gefeit und sah teils 44 Spieler dem Ball hinterherjagen. Dieses Handicap wurde durch das Zuhalten eines Auges von mir bewältigt.

Natürlich gingen diese ständigen Gaststättenbesuche nicht spurlos an meinem Geldbeutel vorbei. Mit der Zeit verlor ich jeglichen Bezug zu den Finanzen, rechnete in Weizenbier anstelle von Euros und gab mich erst zufrieden, wenn ich pleite war. Mein Lieblingsgetränk kostete damals in der Gastronomie 2,50 Euro. Nahm ich für zu Hause die billige Variante aus dem Discounter, erhielt ich für das gleiche Geld sechs Flaschen, die die Hälfte des Tagesbedarfs deckten. In besonders schweren Zeiten konnte ich mich mit dem Pfandgeld noch einigermaßen über Wasser halten. Um Aufsehen zu vermeiden, verlief die Flaschenrückgabe meist in den dunklen Abendstunden und bereitete nur in den Sommermonaten Schwierigkeiten.

Bei vorrückendem Ultimo entstand immer gähnende Leere im Geldbeutel und ich musste mich wieder auf das Organisationstalent verlassen. Man verlagerte das Suchtbegehren von der Kneipe in die Privatwohnungen guter Bekannter, in denen man das gemeinsame Interesse ausgiebig wahrnahm. Es wurde sogar gekocht und bei Bedarf auch gesprochen. Damit das feuchtfröhliche Gelage keinen abrupten Abbruch erlitt, sorgten die Beteiligten schon im Voraus für klare Verhältnisse. Der eine stand am Herd und der andere vor der Pfandflaschenstation. Zusammen mit den letzten Hinterlassenschaften aus der Geldkassette besorgte man das flüssige Gold, welches einen reibungslosen Abend gewährleistete. Um die „gute“ Laune nicht zu kippen, ließ ich mir zum x-ten Mal einen Schwank aus alten Trinkerzeiten erzählen, welcher sich aufgrund des Zustands ewig in die Länge zog. Obwohl mich das alles langweilte, hielt ich allein schon wegen der Sucht bis zur letzten Flasche durch. Diese energielosen Anekdoten zeigen auf, mit welcher Unbekümmertheit ich dem Suchtverhalten freien Lauf ließ. Selbst wenn ich die Ohren auf Durchzug stellte, beugte ich mich trotzdem dem leeren Gefasel, um dem eigenen Körper durch den Alkohol noch mehr zu schaden.

Durch die eigene Wohnung und die Teilzeitarbeit blieb mir das Schicksal von einigen Leidensgenossen erspart. Diese zogen, ähnlich wie Berber, durch die Lokale und versuchten dort, durch geschickte Verstellung ihrer tatsächlichen Lebenslage bei einem Unwissenden eine Unterkunft inklusive Speis und Trank zu ergattern. Mein Verdienst reichte für den täglichen Bierkonsum bei Weitem nicht aus, sodass es eines genau durchdachten Finanzplanes bedurfte. Die Deckel in den Kneipen wurden immer zum Ersten beglichen und für die sonstigen Anschaffungen griffen mir gute Bekannte unter die Arme. Dem Einfallsreichtum bei der Beschaffung von Getränken waren keine Grenzen gesetzt und so gab es Spitzenzeiten, in denen ich bei zwölf Gläubigern in der Kreide stand. Gutes Taktieren gehörte zu einer Grundvoraussetzung in diesem nervenaufreibenden Finanzgeschäft. Neidisch verfolgte ich Menschen, die mit viel weniger Geld auskommen mussten und trotzdem den Monat bravourös meisterten. Oft wollte ich diesen Vorbildern nacheifern, doch der geschlossene Teufelskreis, in dem sich meine Wenigkeit befand, ließ kein Entrinnen zu.

Ungeachtet des zunehmenden Gewichtsverlustes wurde das Weizenbier als flüssige Nahrung gegen den aufkommenden Hunger eingesetzt. Nachdem sich mein Magen mit der gegebenen Situation abgefunden hatte, unterließ er auch das mitleidige Knurren. Blieb die feste Nahrung für einige Tage ganz aus, trat der gesamte Körper in den Streik und äußerte diesen in Form von Übelkeit und Fortbewegungsschwierigkeiten. Dies war das Signal zum Essen von leichter Kost, damit der Verdauungstrakt wieder seine eigentliche Arbeit aufnehmen konnte. Aus diesen ständigen Unregelmäßigkeiten entwickelte sich ein Magengeschwür, welches meist im Zusammenhang mit seelischen Konflikten auftrat. Erst nach Jahren konnte ich durch eine erfolgreiche Rollkur von diesem Leiden erlöst werden. Die deutliche Gewichtsabnahme kaschierte ich mit dem Entfernen der Batterie aus der Personenwaage.

Wie schon erwähnt, hortete ich im Gegensatz zu einigen Kumpels einen reichlichen Vorrat an Weizenbieren im Kühlschrank, die als sogenannte Entspannungsgetränke nach den einfallslosen Gesprächen in der Kneipe dienten. Man suchte die einfältige Kommunikation unter Alkoholabhängigen, um dem tristen Alltag zu entfliehen. Hier konnte man die Gesamtheit der Wehwehchen im engsten Kreis aufzählen und je nach Gemütslage eine neu ausgebrochene Krankheit hinzufügen. Ähnlich einem Altweibertratsch, wobei man den Unterschied zwischen Thrombose und Zirrhose ausdiskutierte, verhielt sich das fachärztliche Gespräch am Stammtisch. Wurde jemand aus der Runde für mehrere Tage vermisst, ahnte man das Schlimmste, da die entsprechende Person unlängst über ihre unzähligen Gebrechen berichtet hatte. Doch für alle überraschend, kehrte so mancher nach kurzer Zeit aus dem Totenreich zurück und schüttete in gewohnter Art die Halben in sich hinein.

Als Alkoholkranker fällt auch die gesellschaftliche Zusammenführung von Artgenossen leicht. Durch die einstigen, ständig wechselnden Arbeitsorte während meiner Selbstständigkeit war es ein Leichtes, sich in die Herzen der sogenannten Stammtischbrüder zu stehlen. Nach den ersten geschmissenen Runden gehörte man schon zum engeren Kreis der Elite. Da ich tagsüber arbeitete, hielt man mir bis zum abendlichen Erscheinen einen Sitzplatz warm. Alles war möglich, solange man in zweifacher Hinsicht flüssig war.

In der langen Trinkerzeit lernte ich aber auch die Kehrseite der Medaille kennen. Trat die Zahlungsunfähigkeit bei selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit ein, wurden alle Beihilfen eingestellt und man wurde fortan zur Barzahlung angehalten. Das Abrutschen in die Unterschicht gewährte mir Einblick in das Leben ebenfalls Gestrandeter, für welche diese Maßregelung zum Alltag gehörte. Sie waren im Umgang mit Erniedrigungen geschult und versuchten gemeinsam, diesem eingetretenen Umstand zu trotzen. Da es bei mir immer wieder die Möglichkeit einer entlohnten Arbeit gab, war der Aufenthalt im Reich der Lebenskünstler nur kurzweilig. Entsprechend einem Gezeitenwechsel, verhielt sich meine finanzielle Situation. Nach der Ebbe im Portemonnaie kamen die Momente des Überschusses, die ich jedoch nicht sinnvoll nutzte. Ich mischte mich wieder unter die Leute, welche vorher meinen Stolz verletzt hatten. Das eigene Selbstwertgefühl schrumpfte zunehmend und die Enttäuschungen nahmen zu. Man war mit sich und seiner Sucht dermaßen beschäftigt, dass selbst der Tod vieler Bekannter an den Folgen von Alkohol der geführten Lebensweise keinen Abbruch tat.

Nachdem sich auch meine einstigen Lebensgefährtinnen wohlgenährt von mir abgewandt hatten, begann die Zeit des Hoffens und Bangens. Ausgequetscht wie eine Zitrone nahm ich vorerst Abstand von dem sogenannten trauten Heim und verlagerte die Interessen an den Tresen. Gemäß der Redewendung „Freunde in der Not gehen hundert auf ein Lot“ wurden selbst schwierigste Lebenslagen überbrückt. Die daraus entstandene wechselseitige Beziehung zu meinen Gefühlen war der Auslöser für eine Gleichgültigkeit gegenüber Pflichtaufgaben und der eigenen Gesundheit. Die Brücken zu wahren Freunden wurden von mir abgebrochen und man suchte Trost bei denjenigen, welche mit den gleichen Problemen zu kämpfen hatten. Selbst das Aufbäumen des Organismus in Form einer akuten Lungenentzündung wurde bis zuletzt ignoriert.

Trotz der unterzogenen Therapie war ich immer noch der Meinung, die Krankheit aus eigener Kraft zu besiegen. Diese utopische Selbsteinschätzung wurde nach erfolgreich eingehaltenen Durststrecken binnen kürzester Zeit widerlegt und das Versäumte in doppelter Weise nachgeholt. Im letzten Abschnitt vor der endgültigen Einsicht wurde auch noch mein Pflichtbewusstsein außer Kraft gesetzt. Der Alkohol machte bei der Verwüstung von Körper und Geist keinen Unterschied. Um einen Einblick in das wahre Ausmaß der Zerstörung zu geben, beginne ich mit den Hinterlassenschaften der psychischen Schäden.

Im fortgeschrittenen Trinkerstadium entwickelte sich eine Apathie am Leben, welche zu Schwankungen im inneren Gleichgewicht führten. Jedes auftretende Problem wurde mit Bier kaschiert, was wiederum die noch verbliebenen Zellen ergrauen ließ und eine konstruktive Gesinnung verhinderte. Die Suche nach Lösungsmöglichkeiten stellte eine Belastung dar und führte zu einer Hilflosigkeit gegenüber der Vormachtstellung des Alkohols. Der Bezug zur Realität schwand zunehmend und ich hielt mich mehr denn je in einer Traumwelt auf. Nach der erwähnten Heilbehandlung inklusive Regenerationszeit stellten sich die alten Gewohnheiten wieder ein und ich nahm die vertraute Position am Stammtisch wieder ein. Im Kreis von „Suchtlern“ fiel mein geistiger Verfall nur unwesentlich auf und gab daher auch keinen Anlass, den vom Körper ausgesendeten Signalen übermäßige Bedeutung beizumessen.

Das ständige Wechselspiel zwischen Hoffnung und Misserfolg übte einen immensen Druck auf das Innenleben aus, sodass sich der Gemütszustand innerhalb von Minuten änderte. Aus einem Freudentaumel wurde plötzlich ein Wutausbruch und stieß bei den Anwesenden auf Unverständnis. So verlor ich öfters die Kontrolle über mich selbst, was zu Einbußen bei dem mir entgegengebrachten Respekt führte. Ich passte mich mit zunehmendem Alkoholkonsum dem Niveau der anderen an und vergaß sämtliche ethnischen Grundsätze. Zwar waren diese emotionellen Ausraster nicht alltäglich, gaben aber bei Gemeinschaftsaktionen wie Dart- oder Kartenspielen den Ausschlag, mich kurzerhand zu eliminieren. Dies führte letztendlich zu zahlreicher Nichtberücksichtigung und bescherte mir den Status eines Ersatzspielers, dem man nur im äußersten Notfall einen Einsatz gewährte.

Dieses ständige Wegschieben auf das Abstellgleis war natürlich Gift für das bereits angefressene Nervenkostüm und musste mit dem Gegenmittel Alkohol aus dem Körper entfernt werden. Die daraus entstandene Unsicherheit begleitete mich über die Gesamtheit der Abhängigkeit. Vergleichbar mit einer Spinne, baute die Sucht ein engmaschiges Netz, um eventuelle Befreiungsschläge schon im Keim zu ersticken. Ich wog mich in dem Glauben, durch Auftanken mit Bier das Denkvermögen bei gemeinsamen Events zu steigern. Doch im Gegensatz zu den Mitspielern, welche gänzlich auf alkoholische Getränke verzichteten oder aber sich an einem Radler den ganzen Abend lang festhielten, war meine Wenigkeit schon nach der ersten Spielrunde nicht mehr aufnahmefähig.

In den letzten Wochen vor der Therapie verzichtete ich angesichts des verletzten Stolzes auf jegliche Veranstaltung und nahm lieber die Rolle eines stillen, trinkenden Beobachters ein. Die unter ständigem Alkoholeinfluss entstandenen Konzentrationsschwächen bildeten die Grundlage für auftretende Gedächtnislücken, welche dann unter Mithilfe von Beteiligten wieder einigermaßen geschlossen werden konnten. Daher glich die peinliche Befragung von Bekannten zu den verpassten Abläufen einer momentanen Bestandsaufnahme, welche jedoch mit Vorsicht zu genießen war. Es war einfach, mir als Unwissendem etwas unterzujubeln, da ich durch die vielen Blackouts dem mir Zugetragenen notgedrungen Glauben schenken musste.

Diese Ereignisse durchlebte ich immer wieder mit einem Schamgefühl in den zerrissenen Träumen. Dieses permanente nächtliche Abspielen der schlechten Filme führte zu zeitweiligem Aufrechtsitzen während der Schlafphase und hinterließ mir für die darauffolgenden Tage eine große Last an Reumütigkeit. So wurde aus einer lebensbejahenden Person ein Häufchen Elend, das sich überall für das unpassende Auftreten entschuldigen musste. Reuezeigen gehört zu einem typischen Gebaren eines Alkoholabhängigen und machte auch vor mir nicht Halt. Mit der Zeit werden solche Aktionen einfach weggesteckt und man agiert als gesellschaftlicher Spaßmacher, sogenannter Vollgasdepp. Das Selbstwertgefühl war dahin, das Ansehen ruiniert und die wahren Freunde wandten sich zunehmend von mir ab. Ich wurde zu einem Objekt der Begierde, man verfolgte akribisch jede von mir begangene Handlung, um an Gesprächsstoff für die Nichtanwesenden zu gelangen. Mit dem Gefühl der ständigen Beobachtung schlichen sich letztendlich dumme Fehler ein, woraus wiederum eine totale Verunsicherung entstand. In diesen Momenten sehnte ich mich nach Rehabilitierung, doch war diese bei der labilen Lebensweise in weite Ferne gerückt.

 

Bei den getätigten Recherchen in puncto Erkundigung nach dem Wohlbefinden eines Menschen fielen mir gravierende Unterschiede in anderen Ländern auf. Während der US-Amerikaner bei seiner Fragestellung „How are you doing?“ immer mit der gleichen Antwort: „Thanks, I am fine“, rechnen kann, erfährt man bei der gleichen Anfrage bei einem Bundesbürger die wichtigsten Auszüge aus dem Krankenbericht der letzten drei Wochen. Durch die in den Staaten gemachten Erfahrungen gehörte es für mich nicht zum guten Ton, andere mit meinen Problemen zu belästigen. Trug ich den Kopf unter dem Arm, erübrigte sich eine Nachfrage von ganz allein.

Heutzutage bietet sich dank der neuesten Technik die Möglichkeit, seine Wissbegierde mit einer SMS zu stillen. Daher kann ich einen Bekannten, welcher sich im Bus nur drei Sitzreihen vor mir aufhält, problemlos nach seinen Gefühlsregungen befragen, ohne ihm vor dem Aussteigen ins Gesicht blicken zu müssen. Die Anpassung an amerikanische Verhältnisse kann man in der Alkoholgesellschaft ab und an erkennen. Da bei der tristen Lebensführung kaum Bewegung eintritt, erhält man nach der üblichen Floskel „Wie geht’s?“ immer das Gleiche als Antwort: „Wie soll’s schon gehen?“

Dies beschreibt exakt den Zustand, welcher einem vor dem ersten Bier zugrunde lag. Die Redseligkeit trat in den meisten Fällen erst dann ein, wenn die anderen einen in Anbetracht der Artikulation sowieso nicht mehr verstanden. Man war nicht mehr gefragt und versuchte mit überholten Geschichten die Gunst der anderen Gäste zu gewinnen. Dass man mit alten Kamellen nicht mal mehr einen Hund hinter dem Ofen hervorlocken konnte, war den meisten in ihrem Brausekopf nicht mehr bewusst und endete in Selbstgesprächen. Die einstige Überzeugungskraft erlahmte zunehmend und das Gerüst zur Stabilisierung der eigenen Person fing an zu schwanken.

Die Zeiten, in denen man sich mit sich selbst beschäftigte, hingen vom jeweiligen Suchtverhalten ab. Tage der Einsicht gerieten nach einem erneuten Rauschzustand in Vergessenheit. Es ist schwer, jemandem Einblick in das Leben eines Suchtkranken zu verschaffen, da der Betroffene meist selbst nicht weiß, inwieweit er vom Teufel geritten wird oder aber die wahren Gründe verschweigt. Die letztere Variante wendete ich in meiner schlimmen Zeit des Öfteren an und verteidigte mein Verhalten mit paradoxen Ausreden. Mit jedem Bier wuchs der Ideenreichtum an Entschuldigungen, welche vor allem beim täglichen Arbeitseinsatz vonnöten waren. Die zu erwartenden Folgen kaute ich im Schlaf schon einmal vor, um gegen eventuelle drastische Arbeitgebermaßnahmen gewappnet zu sein.

Die Unehrlichkeit gegenüber mir und anderen kostete etliche Jahre an ungenutzten Möglichkeiten zu einer sorgenfreien Lebensführung. Weil man aber das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen kann, hilft in meinem Alter auch kein Wenn und Aber. Sieht man einmal von den finanziellen Einbußen ab, welche durch mein uneinsichtiges Verhalten entstanden, schädigte ich durch die Trinkerei meine Psyche sowie lebenswichtige Organe. All dies versucht man mit dem nächsten Bier zu verdrängen und verspricht sich selbst Besserung, ohne jedoch einen Zeitpunkt zu nennen. Beim sogenannten Freundeskreis konnte ich mit dieser Erkenntnis nicht punkten. Jeder Versuch eines vorzeitigen Austritts aus dem Klub der Säufer wurde durch die Mitglieder schon im Ansatz zu Fall gebracht. Den Begriff „Alkoholiker“ redete man sich mit der Bezeichnung „Freizeittrinker“ schön und betonte dabei die Zeiten der Enthaltsamkeit, welche niemand nachprüfen konnte.

Durch den Verlust des eigenen Ichs endeten viele weitere Aktionen in meiner genierlichen Vergangenheit in einem Chaos. Die von mir selbst herbeigeführte Unbeständigkeit am Arbeitsplatz stürzte mich zusehends in eine schwere finanzielle Misere, deren Höhepunkt mit einer Räumungsklage erreicht wurde. Dank eines Darlehens vom Jobcenter, konnte diese zwar noch rechtzeitig abgewendet werden, doch erhöhten sich damit gleichzeitig die Verbindlichkeiten, welche ich bis zum heutigen Tag abstottere.

Die Abhängigkeit vom Wohlwollen anderer gehörte in der Zeit des übermäßigen Bierkonsums zu einem Privileg und war gleichzeitig ein Indiz für die Handlungsunfähigkeit. Ein Abhängiger lebt in den Tag hinein und befasst sich mit aufkommenden Problemen ausschließlich während der Schlafphase in der Hoffnung, dass sich diese bis zum nächsten Morgen von alleine lösen. Da ich nur noch wenige Haare auf dem Kopf hatte, wurde mir die Möglichkeit eines eigenständigen Herausziehens aus dieser Misere vorenthalten.

Die steigende Resignation war der ideale Unterbau für die erlebte Gutgläubigkeit, welche den bisherigen Enttäuschungen noch weitere folgen ließ. Dadurch hatte der Alkohol einen großen Schritt in Richtung Totalzerstörung gemacht. Willenlos und ohne Aussicht auf Besserung führte man mich, vergleichbar mit einer Marionette, zu den verschiedenen Trinkquellen. Die Freude auf einen neuen Tag war nicht mehr gegeben, da die seelischen Belastungen wie Kletten an mir hafteten. In dieser Lebenslage war es für Dritte ein Leichtes, die Oberhand über meine Person zu bekommen. So setzte ich aufgrund der Leichtgläubigkeit ständig meine Paraphe unter Verträge, welche zu meinen Ungunsten abgefasst wurden. Dies zog sich wie ein rotes Tuch durch die Trinkerzeit und ließ mich unbeachtet von den Urhebern ein ums andere Mal auf die schon wunde Nase fallen. Auch einige der sogenannten Kumpels nutzten die Momente meiner Unachtsamkeit, um sich an dem wenigen, was mir noch blieb, zu bereichern.

Doch trotz dieser Niederschläge glaubte ich weiterhin an das Gute im Menschen. Als Ausgleich zu den unterdrückten Gefühlen sorgte dann wiederum der Suff, welcher nach einigen Bieren den seelischen Schmerz betäubte und einen beruhigt auf das nächste Missgeschick vorbereitete. Die Fehlstunden bei der aktiven Teilnahme am normalen gesellschaftlichen Leben häuften sich, sodass ich mich immer öfters den Gepflogenheiten des Trinker-Klüngels anpasste, welche vom Inhalt her leicht zu verstehen waren. Als Zielsetzung galt, den Körper in ständigen Ausnahmezustand zu bringen. Hierbei wurde der Alkohol zu unserem Schutzpatron auserkoren, welcher auch hilfsbereit für den ständigen Nachschub sorgte.

In dieser Elitegruppe war auch keine höhere Bildung vonnöten, da sich nach jedem zweiten Satz eh alles wiederholte. Ein damaliger Bekannter wurde von dem Wort „kompensieren“ dermaßen inspiriert, dass dieses einen Ehrenplatz in seinem sprachlichen Repertoire erhielt. Trotz falscher Aussprache, nämlich „komponieren“, wandte er es fortgesetzt an. Entwickelte sich ein normales Gespräch zu einer geistig anspruchsvollen Unterhaltung, merkte man bei einigen, wie sich plötzlich das Verbindungskabel vom Kopf löste. Doch wer einmal mit dem Alkohol verbündet ist, achtet nicht auf Feinheiten, sondern passt sich uneingeschränkt dem Niveau der anderen an. Man fühlt sich inmitten einer sich täglich wiederholenden Soap, in der sich die Mitwirkenden der Crew nur unwesentlich voneinander unterscheiden.