Ein Wandel der Gesinnung

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Verblich einer aus unserem Kreis, wurde der angestammte Platz von einem bereitwilligen Newcomer automatisch „komponiert“. Ich geriet immer mehr in den Sog der Gleichgültigkeit und teilte mein geistiges Vermächtnis mit Leuten, deren einziges Bedürfnis die Selbstabfüllung war. Das dadurch entstandene Auseinanderleben von den wahren Freunden schlug mir ein ums andere Mal dermaßen auf das Gemüt, sodass ich öfters versuchte, den Kontakt wiederherzustellen. Meist wählte ich hierfür den ungünstigsten Zeitpunkt, und zwar im Anschluss einer erfolgreichen Kneipentour. Bei jedem geführten Telefonat beteuerte ich, mit dem Trinken aufzuhören, obwohl sich das zuvor eingeschenkte Weizenbier in unmittelbarer Nähe befand. Der Fehler, den ich damals beging, lag ganz einfach in der unkontrollierten Ausführung des angekündigten Vorhabens. Ergaben sich erste Anhaltspunkte für eine eventuelle Wiederannäherung, wurde aus purer Freude darüber sofort nachgeschenkt statt nachgedacht. Die Konsequenzen hieraus waren absehbar und ich verlor letztendlich meine ganze Glaubwürdigkeit. Hätte ich mir früher bei jeder selbst verschuldeten Bruchlandung in den Allerwertesten gebissen, besäße ich zwar heute keinen Hintern mehr, doch wären meine Schuldgefühle in einem überschaubaren Rahmen geblieben.

Beglückende Gefühle teilte ich anstandshalber immer mit meinem Freund, dem „Alkohol“, und das Wort „Achtsamkeit“ gewann nur im Hinblick auf einen leeren Bierkasten an Bedeutung. Die ganze Denkweise war vom Zustand abhängig, der durch den Gerstensaft bestimmt wurde. Die ständige innere Unruhe, verursacht durch das übermäßige Trinken, kam auch während der Schlafphase nicht zum Stehen. Ähnlich dem Film „Angst essen Seele auf“ von R. W. Fassbinder, durchlebte ich skurrile Abschnitte in den Träumen. Da ich mich überwiegend in der Defensive befand, steckte mein Körper in einem fortwährenden Abwehrkampf. Diese Verteidigungsbereitschaft führte bei besonders hartnäckigen Phantomen zu Blessuren an Armen und Beinen, welche ich mir in den Gefechten am metallenen Bettrahmen zuzog. Die dadurch auftretenden Schmerzen zwangen mich letztendlich zu einer Kampfpause, die ich bei eintretendem Bewusstsein dazu nutzte, um mein Schlafzimmer nach möglichen Feinden abzusuchen. So wurde aus einem herbeigesehnten erholsamen Schlaf ein nervenaufreibendes Abenteuer mit Wiederholungsgarantie. Besonders lästig waren auch die nicht enden wollenden Karussellfahrten vor dem Einschlafen nach einem überzogenen Kneipenbesuch. Am nächsten Tag fühlte ich mich wie gerädert und hatte schon Angst vor der bevorstehenden Nacht. Um diesen Horrorszenarien Einhalt zu gebieten, war ich sogar bereit, für einige Tage den Alkoholkonsum zu drosseln.

Meine einstige Verhaltensweise glich einer Selbsttäuschung, welche jeder Suchtkranke perfekt anwendet. Man schlüpft eigennützig in die Rolle des Unbelehrbaren und macht dies auch offenkundig. Jegliche angebotene Hilfe wird von sich gewiesen und als unrechtmäßiger Eingriff in die Privatsphäre angesehen. Die Gesellschaft ist in den Augen eines Trinkers nichts weiter als ein ständiger Beobachter und Besserwisser. Durch die prüfenden Blicke der Allgemeinheit entwickelte sich bei mir ein schleichender Verfolgungswahn, welcher mein Tätigkeitsfeld massiv eingrenzte. Die Welt bestand damals für mich überwiegend aus Spannern, deren Anwesenheit ich in vielen Situationen des täglichen Lebens wahrnahm. Vor dem Verlassen der Wohnung spielten sich in meinem Kopf virtuelle Szenen ab, welche den Gang zum Einkaufen oder in die Kneipe zu einem Spießrutenlauf machten. Diese Bangigkeit hinterließ zusätzliche Spuren an der eh schon vorhandenen Unsicherheit. Erst auf dem Heimweg verschwanden aufgrund des Zustands diese Gefühle der Überwachung und so konnte ich mich vollends auf das Abstützen an den verschiedenen Hauswänden konzentrieren. In meiner einstigen egozentrischen Denkweise verharrte ich in der Meinung: Ist doch schließlich mein Leben, mit dem ich unachtsam umgehe!

Jene imaginären Observationen zusammen mit den immer wiederkehrenden Albträumen trugen dazu bei, dass ich in meinem Alltagsleben den Zusammenhang, sowohl im beruflichen als auch im privaten Umfeld, verlor. Um dennoch gegenüber den Mitbürgern einen halbwegs passablen Eindruck zu hinterlassen, versuchte ich meine inneren Bürden tunlichst zu verbergen. Anstatt die zerrissene Seele zu öffnen, verschloss ich meine Gefühle vor der Selbstentfaltung. Durch ebenjene angespannte Lage erhöhte sich auch die Fehlerhaftigkeit und stellte mich erneut vor Probleme. Mein Sein befand sich in einer Umgebung voller Demütigungen und Missverständnisse. So jedenfalls empfand ich meine Misere und der Alkohol gab mir in dieser Hinsicht recht. Es brodelte in meinem Körper und ließ mich in den unvorteilhaftesten Momenten aus der Haut fahren, sehr zur Missbilligung der Betroffenen. Derartige Aufwallungen ereignen sich bei Suchtkranken immer dann, wenn sie in die Enge getrieben werden oder mit ihrem Latein am Ende sind. Wurde mein Körper danach mit Gerstensaft versorgt, verflog auch die Unbeherrschtheit und ich genoss bei den Leuten den Welpenschutz. Bei anderen hingegen löste die übermäßige Alkoholzufuhr einen ständigen Aggressionstrieb aus, welcher erst mit einer Schlägerei befriedigt werden konnte. Von diesem Los wurde ich Dank meiner noch vorhandenen Selbstdisziplin weitgehend verschont. Nebenbei möchte ich für Kneipenunkundige noch anführen, dass ein „Kampf“ unter betrunkenen Frauen teils heftiger bestritten wird, als allgemein vermutet. Fakt ist, der Alkohol macht vor keinem Geschlecht Halt!

Diese Ausraster belegten, dass meine Wahrnehmung aufgrund des Trinkens stark beeinträchtigt war. Die Kneipe bestand für mich aus einem riesigen Bierfass, dessen Inhalt es galt zu leeren. Die sich mit zunehmendem Rausch vertrübenden Sichtverhältnisse nahm ich billigend in Kauf. Andererseits konnte ich im Vergleich zu einigen anderen trotz eingeschränkter Optik noch das wahre Aussehen einer weiblichen Person erkennen und musste sie mir bei Nichtgefallen noch zusätzlich schöntrinken.

Im normalen Alltag fanden interessante Objekte wie zum Beispiel Museen, Ausstellungen, Konzerte oder aber Naturereignisse kaum Beachtung, da sie nicht auf meinem Stundenplan standen. Bei diesem gab es außer der Jahreszahlkorrektur keine weiteren nennenswerten Veränderungen. Selbst die Verschlechterung meines Allgemeinzustands wurde unbedacht unterdrückt. Man gab sich mit dem zufrieden, was die Sucht einem hinterließ. Es gab Zeiten, da war ich nicht nur im reellen Leben ohne Arbeit, sondern hatte auch im Umgang mit meinem Körper keine Beschäftigung mehr vorzuweisen. Das ganze Tun und Handeln oblag allein dem Alkohol, zu dessen alleinigem Handlanger ich degradiert wurde. Was nützt der beste Vorsatz für das Einhalten gesundheitsfördernder Maßnahmen, wenn diese immer wieder von Versuchungen untergraben werden? Der Suff übernahm alsbald die alleinige Führerschaft über mein Ich und mir blieb nur noch die Rolle als „Bierschlecker“. Verweigerungen wurden mit lästigen Schüttelattacken bestraft. Die eigentliche Schaltzentrale, das zentrale Nervensystem, unterlag den Anweisungen der Sucht. Selbst wenn man, auf Deutsch gesagt, „den Kragen schon voll hatte“, wurde bis zum Erbrechen weitergebechert.

Da sich bei mir durch den übermäßigen Bierkonsum Gedächtnislücken auftaten, vergaß ich die Zuordnung der gesetzlichen Feiertage und stand als einziger Kunde mit dem Leergut vor den verschlossenen Türen des Discounters. Dadurch kam es zu nicht eingeplanten Versorgungsengpässen, welche mich zur Umschau nach Alternativen veranlassten. Diesem ständigen Druck, etwas beschaffen zu müssen, um ein Besäufnis herbeizuführen, war ich in all den Jahren als Trinker willensschwach ausgesetzt.

Vom ewigen Drangsalieren entmutigt, verweigerten auch meine Gefühle ihren Dienst. Glück, Leid, Freude und Trauer wurden in einen Topf geworfen und konnten je nach Anlass herausgefischt werden. Ich befand mich in einem Zustand der absoluten Interesselosigkeit und hatte nicht einmal Lust auf eine Unterredung mit dem Gewissen. Sich seinem Schicksal zu fügen, war für mich die schlimmste Phase während meiner Sucht. Hier kam es mitunter zu einem Zusammenfall der lebensnotwendigen Funktionen im Körper und daher war es mir egal, ob ich nach einem Vollrausch überhaupt noch aufwachte. Man stellte sich in den wirren Träumen das eigene Begräbnis vor, in dem ich die noch in mir vorhandene Sentimentalität entdeckte. Am nächsten Tag stand man erneut vor dem hinterlassenen Scherbenhaufen und war unerfreut angesichts der plötzlichen Wiederauferstehung.

Nach solchen Erlebnissen stellte ich mir oft die Frage: „Wie tief muss ein Mensch eigentlich sinken, damit man von dem Laster Alkohol erlöst wird?“ All die Stunden, die ich mit ernsthaftem Sinnieren verbrachte, erwiesen sich aufgrund der Willenlosigkeit als verlorene Zeit. Ein einziger Anruf von einem Kumpel genügte, um meine Denkweise umzumodeln. Nach den ersten Bieren keimte wieder Hoffnung auf und ich stellte mir ein Leben mit eingeschränktem Trinkverhalten vor. Befand man sich jedoch wieder im Kreis der Mitstreiter, wurde ich mit den Worten: „Auf einem Bein steht es sich schlecht“, von einem vorzeitigen Gehen abgehalten. Danach, wenn ich Bekanntschaft mit dem Asphalt machte, spielten die Beine eh keine Rolle mehr.

Mit dem Vorsatz, nicht wieder in Grübeleien zu verfallen, überbrückte ich einen gewissen Zeitraum der Misere. Trotzdem blieb das Ignorieren der vom Körper ausgesandten Signale nicht ohne Folgen. Vorerst wurde alles, was gegen meine Vorgehensweise sprach, rigoros abgeblockt und wie eine Fahrkarte entwertet. Die krankhafte Abhängigkeit vom Alkohol trieb mich zu einer Tätigkeit, die dem eines Wünschelrutengängers glich, nur lag das Objekt der Begierde nicht beim Aufspüren von unentdeckten Wasserstellen, sondern man hielt Ausschau nach einem geöffneten Fass voller Gerstensaft. Schon allein der Gedanke an das „wohlverdiente Feierabendbier“ verbunden mit dem unsinnigen Geschwätz des Suffhaufens kreiste während meiner beruflichen Tätigkeit unaufhaltsam im Kopf herum. Je näher dieser herbeigesehnte Moment heranrückte, desto hibbeliger wurde ich. Kam es durch Überstunden zu unvorhersehbarer Verzögerung bei der Einhaltung des fest eingeplanten Trinktermins, entwickelte sich automatisch ein kontraproduktives Arbeiten. Die Frustreaktion gepaart mit äußerster Reizbarkeit ließ so manches Fehlverhalten zu. Gelangte ich mit Verspätung schließlich doch zum Weizenbier, musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass sich einige der Stammtischfreunde aufgrund einer geregelten Arbeitszeit schon einen gewaltigen Vorsprung beim Trinken verschafft hatten. Obwohl sich durch die fortwährenden Wiederholungen der bereits geführten Gespräche bei mir keine Bildungslücke auftat, ärgerte ich mich trotzdem über die geleistete Mehrarbeit und versuchte den Artgenossen durch zügiges Hinunterschütten in nichts nachzustehen. Diese Verhaltensweise führte zum Verlust des konstruktiven Denkens. Ich wurde geleitet und war von meiner Selbstdarstellung meilenweit entfernt. Mein Intellekt kam innerhalb des Bekanntenkreises zum Erliegen, da der Alltag aus Arbeit, Kneipe und Schlaf bestand. War einmal eine außergewöhnliche Aktion geplant, wurde so lange darüber geredet, bis man sie letztendlich verwarf.

 

Erkennbare Defizite taten sich bei mir in Hinsicht auf das Erfassen der Umwelt auf. Allein beim Wechsel der Jahreszeiten hatte ich Schwierigkeiten mit der richtigen Zuordnung. Saisonbedingte Ereignisse wie die Erdbeer- oder Pilzzeit wurden nicht wahrgenommen, da ich diese Nahrungsmittel ganzjährig in der Dose beim Discounter erwerben konnte. Fiel mir dann nach etlichen Stürzen auf, dass sich die Sommerschuhe mit glatter Sohle nicht für den schneebedeckten Boden eigneten, wurde zum Kauf von passendem Schuhwerk griesgrämig Geld aus der Bierkasse entnommen. Für einen Laien ist diese Lebensform zwar nicht nachvollziehbar, entspricht aber dem eines typischen Kneipengängers, welcher mit der Schönheit und Vielfältigkeit der Natur nichts anfangen kann und lieber seine Barschaft in alkoholische Getränke umsetzt. Die einzigen Veränderungen, welche man in dieser Phase noch erkennt, sind das schlecht eingeschenkte Bier oder das Fehlen der Papierrolle auf der Toilette.

Nach Beendigung eines arbeitsreichen Tages gehörte es zu einem Muss, die erlittenen Strapazen innerhalb der Brüderschaft in allen Details noch einmal zu schildern. Hier kam mir mein letzter Job als Kurierfahrer entgegen, da sich während der Tätigkeit immer wieder neue Situationen abspielten. Ganz im Gegensatz zu den Langzeitarbeitslosen, welche geduldig in der Schenke auf einen vermeintlichen Arbeitgeber warteten. Um die dafür notwendige Ausdauer sinnvoll zu nutzen, führte man heiße Debatten über den verschwenderischen Umgang des Staates mit „unseren“ Steuergeldern. Ihr Beitrag als Hartz-IV-Empfänger lag lediglich in der Abgabe der Tabak- und Alkoholsteuer. Daher führte ein Anheben der Bier- und Zigarettenpreise, aufgrund der niedrigen Lebensunterhaltskosten fürs Nichtstun, zu heftigen Debatten. Ansonsten wurde in diesem geselligen Kreis das Blaue vom Himmel gelogen und jeder warf seine Verbesserungsvorschläge dazwischen. Auch die knappen Gesprächspausen wurden mit kurzem „Zuprosten“ sinnvoll ausgefüllt. Hier rechtfertigten sich selbst die Ein-Euro-Jobber für ihre Arbeitsweise, die aufgrund des Rausches vom Vortag als besonders schwer anzusehen war. Schließlich mussten sie mit zittriger Hand und der verlängerten Kneifzange die einzelnen Zigarettenkippen vom Bürgersteig aufsammeln, welches zur öffentlichen Sauberkeit beitrug. Es gab aber auch einige Scheinarbeiter in unserer eingefleischten Clique, die mit einem ausgegrabenen Blaumann versuchten, uns ein festes Beschäftigungsverhältnis vorzugaukeln, um anerkannt zu werden. Selbst als Alkoholiker musste man um seine Zugehörigkeit kämpfen. Bei Nichtbeachtung der gängigen Regeln drohte die Verdammung vom Stammtisch.

Im Gegensatz zu anderen Interessengemeinschaften bedurfte es bei uns Suchtkranken keines Kassenwartes, da wir eh alle pleite waren. Aus diesem Grund übernahm der Wirt die buchhalterische Tätigkeit und zog pünktlich zum Ersten des Monats die erschütternde Bilanz aus unseren feuchtfröhlichen Hinterlassenschaften. So diente der Alkohol nicht, wie oft vermutet, zur Entspannung, sondern war nichts anderes als ein unsicherer „Wirtschaftsfaktor“.

Ich fügte mir durch die Trinkerei zu den schon vorhandenen Problemen noch zusätzliche Belastungen hinzu, welche immer mehr auf meinen Gemütszustand drückten. Man wurde zum Jonglieren mit Zahlen genötigt, damit man einigermaßen über die Runden kam. War kein Land mehr in Sicht, hoffte ich auf eine Eingebung. Doch da ich auf einen Lotsen verzichtete, war es nicht verwunderlich, das ich immer in den falschen Hafen einlief. Es entstand eine Eigenliebe, die mich vor all den bösen Einflüssen bewahren sollte. Gedanklich ging ich meinen eigenständigen Weg, wohl wissend, dass es diesen gar nicht gab. Dies waren nur Ausreden, um der Wahrheit auszuweichen.

Als sich dann mein Seelenleben zusehends verschlechterte, drängte sich der Gedanke nach einer erneuten Therapie auf, doch wollte ich vorab noch das Ergebnis des körperlichen Verfalls abwarten, welches sich wie nachstehend zusammensetzte: Die Fahrlässigkeit im Umgang mit meiner Gesundheit gab selbst bei schmerzlichen Geschehnissen keinen Anlass zum Umdenken in der Verhaltensweise. Wurde ich von einem Leiden in Anbetracht aufopferungsvoller, ärztlicher Hilfe errettet, stellte ich einen sofortigen Kontakt zu meinem damaligen Weggefährten, dem Alkohol, wieder her, um mich unaufhaltsam in die nächste Gefahrensituation zu begeben.

Eigentlich hätte die damalige Operation eines bösartigen Stimmbandkarzinoms bei einem normal Denkenden zu einer radikalen Änderung des Lebenswandels geführt. Doch hielt mich selbst die Verkündung des Stimmenverlustes durch den Professor der Uni-Klinik in Göttingen nicht davon ab, die Zerstörung des Körpers mit Alkohol und Nikotin fortzusetzen. Tage vor dem unvermeidlichen chirurgischen Eingriff saß ich wie ein Häufchen Elend in der Kneipe und konnte ohne funktionierendes Sprachorgan die Bestellung nur auf einen Zettel notieren. Das ganze Leben wurde mir im Zeitraffertempo noch einmal vorgeführt und ich fiel in Bedrücktheit. Eine Woche nach dem guten Verlauf der OP war alles wieder vergessen und ich konnte mit krächzenden Lauten am heimischen Stammtisch über das Erlebte Bericht erstatten. Zu meiner Ehrenrettung muss ich hierzu noch anführen, dass ich innerhalb der nächsten Jahre sämtliche Termine zur Nachsorge wahrnahm, da sich die Angst über eine mögliche Streuung in meinem Gedächtnis eingeprägt hatte.

In der Folgezeit meines beklagenswerten Handelns tauschte ich noch mehrfach meine Wohnung gegen ein Krankenhausbett. Bei diesen unfreiwilligen Aufenthalten lernte ich nicht nur viel über die Anatomie des menschlichen Lebewesens kennen, sondern war auch maßgeblich an der Einrichtung einer Zimmerbar beteiligt. Mein Bettnachbar und ich funktionierten unsere Beistelltische zu einem Bierdepot um. Es war erstaunlich, dass wir in unserem Privatleben ähnliche Interessen vertraten und diese in der Klinik weiterhin wahrnahmen. Nach der vollzogenen Abendvisite gestalteten wir einen feuchtfröhlichen Gemeinschaftsabend. Für die Bierversorgung waren die Besucher verantwortlich, welche stets darauf bedacht waren, dass es zu keinem Engpass kam. Hatte einer von uns beiden am nächsten Tag eine Magenspiegelung, waren wir dazu angehalten, das Besäufnis um einige Stunden vorzuziehen. Das vereinbarte Treffen nach meiner Entlassung in einer Kneipe fand durch den plötzlichen Tod des netten Zimmernachbarn nicht mehr statt.

Da sich bei mir die unter Alkoholeinfluss passierten Unfälle häuften, gehörten die Aufenthalte in den verschiedenen Krankenhäusern schon zu einem routinemäßigen Vorgang. Viele Fragen über den tatsächlichen Unfallhergang musste ich in den meisten Fällen aufgrund der Bierfahne oder eines eiligst durchgeführten Alkoholtests nicht mehr beantworten.

Besonders desaströs verlief die Einlieferung in die Notaufnahme nach einem erlittenen Bruch des Sprunggelenks. Dies alles geschah nach einer ausgiebigen Feier, als mich ein Bekannter aus reiner Vorsichtsmaßnahme von der Kneipe nach Hause fuhr. Beim schwungvollen Aussteigen verkantete ich mich mit dem linken Bein zwischen dem Autounterboden und der Bordsteinkante. Da mein Fahrer mich danach nicht mehr sah, stieg er sicherheitshalber aus dem Kraftfahrzeug und entdeckte mich unter seinem Auto liegend. Als er mich dann mit aschfahler Gesichtsfarbe auf den Bürgersteig zog, sagte ich nur: „Danke, das geht schon wieder.“ Erst bei einem Blick auf meinen Haxen erkannte ich den Ernst der Lage. Mein Fußgelenk hatte sich sprichwörtlich quergestellt und der herbeigerufene Notarzt sowie die Rettungssanitäter trauten ihren Augen nicht, als der Alkomat einen Wert von 4,2 Promille anzeigte. Dadurch erübrigte sich für das OP-Team die Frage nach einer Vollnarkose bei der für den folgenden Tag (Sonntag) angesetzten Notoperation. Aufgrund der veranlassten örtlichen Betäubung konnte ich über die Gesamtdauer der Wiederherstellung des lädierten Fußes die gegen meine Person gerichteten Gespräche des Ärzteteams verfolgen, bei denen ich am liebsten im Erdboden versunken wäre.

Nach Ende des dreiwöchigen Klinikaufenthaltes hatte sich die Landschaft in ein Wintermärchen verwandelt und ich war an den Rollstuhl gefesselt. Doch selbst diese erschwerten Umstände hielten mich nicht davon ab, auch bei diesen Witterungsverhältnissen meine Stammkneipe für das geliebte Weizenbier aufzusuchen. Für die 150 Meter benötigte ich mit dem Gefährt eine halbe Stunde durch den knöcheltiefen Schnee. An dieser einstig aufgebrachten Energieleistung lässt sich im Nachhinein ersehen, welchen Drang ich verspürte, um der Sucht hinterherzulaufen. Auftretende Schmerzen vergingen nach einigen Bieren von allein und man fühlte sich nach erfolgreichem Zusammenflicken zu neuen Aufgaben berufen. Unbeirrt der mahnenden Worte von den behandelnden Ärzten, endgültig die Finger vom Alkohol zu lassen, setzte ich meine Säuferkarriere unvermindert fort.

Es muss in dieser Zeit irgendjemand seine schützenden Hände über mich gehalten haben, damit ich heute das Erlebte noch niederschreiben kann. Durch die immer wiederkehrenden Fallattacken auf dem Heimweg war der Gaststättenbesuch mit einer gewissen Risikobereitschaft verbunden. Außerdem wurde ich durch meine eiernde Gangart schnell zum Gespött der trinkfesten Szene, welche ihre Ausrutscher in Abwesenheit von Bekannten vollführten. Bei mir half auch ein Wechsel der Lokalität nichts, da die Mundpropaganda schon längst die Runde gemacht hatte. Es gab auch Tage, an denen ich bereits nach dem Bettverlassen über meine eigenen Füße stolperte. Bei derartigen Vorkommnissen wurde mir von meinem Körper ein Hausarrest auferlegt, bei dem ich zum Improvisieren angehalten wurde. Ein Anruf beim Pizzaservice mit einer unauffälligen Bestellung, die dann lautete: „Einen kleinen Salat und zehn Flaschen kaltes Weizenbier“, ließ mich auch solche schwere Stunden einigermaßen überbrücken. Der Tag war gerettet und ich konnte meine Sturzübungen ohne Observation im eigenen Heim durchführen.

Seit diesem misslichen Unfall ließ ich mich nach einem Besäufnis den genannten knappen viertel Kilometer aus Sicherheitsgründen mit dem Taxi nach Hause kutschieren oder fand unter den Gästen einen hilfsbereiten Begleiter, der mich sicher bis vor die Wohnungstür brachte. Kam es bei eigenwilligen Fußmärschen doch zu einem unerwarteten Zusammenstoß mit einer hervorstehenden Außenmauer oder einem Verkehrsschild, versuchte ich am nächsten Tag auf Arbeit, die erlittenen Blessuren weitgehend zu vertuschen. Diese Verschleierungstaktik hätte in einem speziellen Fall fast zum Tod geführt.

Beim Aufsuchen einer Bekannten nach einem üblichen Abend rutschte ich im Treppenhaus auf dem von Kindern hereingetragenen Schnee aus und fiel so unglücklich, dass ich mir den Ellenbogen in die linke Körperseite rammte. Da an diesem Tag auch die gesamte Beleuchtung im Hausinneren ausfiel, kroch ich auf allen vieren aus dem Gebäude in Richtung meiner Wohnung, welche auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag. Schmerzen verspürte ich durch die vorher eingenommene Biernarkose nicht und ließ mich nach der Ankunft einfach ins Bett fallen.

Am nächsten Morgen bei der Teambesprechung in der Firma wurde mir plötzlich vor versammelter Mannschaft dermaßen übel und mein Gesicht war nach Aussagen der Kollegen nicht mehr von der Zimmerwand zu unterscheiden. Dieser Zustand veranlasste unseren Niederlassungsleiter, mich sofort einem Arzt zuzuführen, welches mein Bekannter übernahm. Mein Hausdoktor konnte trotz eines Lungentests keine Beeinträchtigung bei den Atmungsorganen feststellen. Er sah in der durch den Sturz zugefügten Prellung die Ursache für das ungewohnte Nach-Luft-Schnappen.

 

Zwei Tage später suchte ich erneut die Praxis auf und klagte über zeitweiligen Atemstillstand. Da dieses aufgetretene Krankheitsbild seine ärztlichen Kompetenzen überschritt, überwies er mich umgehend an das hiesige Röntgenzentrum. Nach Auswertung der dort erstellten Aufnahmen führte mein Weg direkt in die schon vertraute Notaufnahme des Klinikums. Während mir eine Drainage gelegt wurde, klärte mich die Oberärztin über den wahren Grund des Aufenthaltes auf. Durch den Ausrutscher war ein Lungenriss entstanden, der den linken Flügel zusammenfallen ließ, sodass Luft eintreten konnte. Die galt es nun mithilfe des eingeführten Schlauches abzusaugen. Zu meiner Erleichterung führte sie noch an, dass ich bei einer Nichterkennung zwei Tage später ohne großes Zutun nicht mehr aufgewacht wäre.

Fortan lebte ich für die Dauer des Aufenthaltes gesundheitsbewusst und verschmähte sogar das alkoholfreie Bier des Zimmernachbarn. Dieser war ehemaliger Brauer und hatte eine unheilbar fortgeschrittene Leberzirrhose und eine Hautfarbe, mit der er problemlos ohne Visum nach China hätte einreisen können. Nach meiner Entlassung hielt ich mich zumindest eine Woche lang an das mir von der Ärztin auferlegte Rauchverbot.

Die zwangsweise eingelegten Zwischenstopps im Krankenhaus hatten auch ihre positiven Seiten. Meine Gesinnung fand endlich wieder Zeit für eine Ursachenforschung und der Magen kam nach langer Enthaltsamkeit in den Genuss von fester Nahrung, was er in vollen Zügen auskostete. Alles schien sich zum Guten zu wenden, wäre da nicht das Problem mit dem Umsetzen in den unbetreuten Alltag gewesen. Unmittelbar nach den jeweiligen Kuraufenthalten übernahm wieder der Alkohol das Zepter und führte mich schnurstracks zu den schon auf meine Ankunft wartenden Trinkquellen. Am schlimmsten traf es hierbei wiederholt meinen Verdauungstrakt, welcher sich nach den üppigen Tagen abermals mit der Rolle des hungrigen Wolfes abgeben musste.

Die unkontrollierte Nahrungsaufnahme führte unweigerlich zu Störungen im gesamten Organismus. Hiervon war bei mir besonders die Haut betroffen. Die schon in jungen Jahren aufgetretene Psoriasis erhielt durch den Alkoholmissbrauch zusätzlichen Nährboden und verbreitete sich schnell über mehrere Stellen am Körper, welches aus reinem Schamgefühl den sommerlichen Badespaß verhinderte. Auch andere Ekzeme fanden mehr und mehr Gefallen beim Ansiedeln an der Haut. Zwar war mir die Ursache der zunehmenden Erkrankungen vollkommen bewusst, doch verzichtete ich lieber auf T-Shirts oder kurze Hosen als auf das heiß geliebte Weizenbier. Neidvoll beobachtete ich Menschen, welche sich trotz ähnlicher Probleme ungeniert in der Öffentlichkeit zeigten.

Die damalige Verhaltensweise stellte bei mir sowohl Körper als auch Geist vor eine neue Belastungsprobe, der ich zum Schluss nicht mehr standhielt. Der einstige Rhythmus bei der Nahrungsaufnahme geriet durch das übermäßige Trinken immer mehr aus dem Gleichgewicht. Der unüberhörbare Rumor aus der Magengegend wurde mit Gerstensaft besänftigt. Erst bei extremer Übelkeit war Handlungsbedarf angesagt. Man wechselte kurzerhand von der Bierstube in ein Restaurant, in dem der Hunger gestillt wurde. Auf dem Weg dorthin malte ich mir schon die bevorstehende Mahlzeit aus und sehnte mich nach dem traditionellen Abschiedsschnaps. Nach Erhalt der Speisekarte zog sich jedoch urplötzlich mein Magen zusammen und die Vorfreude auf ein üppiges Essen schwand zunehmend. Entgegen der eingetretenen Appetitlosigkeit bestellte ich eine angemessene Portion in der Hoffnung auf ein Wunder. Nach der hastigen Einnahme des Salats und dem dazugehörenden Baguette erschien der Kellner mit der Hauptspeise. Beim Anblick dieser erinnerte ich mich an eine Szene mit Mr. Bean, als er die ungeliebten Austern, ohne dabei großes Aufsehen zu erregen, in die offen stehende Handtasche einer am Nebentisch sitzenden Dame verschwinden ließ. Doch diesen Gedanken musste ich angesichts der unbesetzten Tische im Umkreis schnell wieder verwerfen. Nach dem zögerlichen Herumstochern und der ständigen Fragerei des Obers, ob denn alles meinem Geschmack entspreche, entschloss ich mich zur Mitnahme des Essens. Sorgfältig in einer Tüte verpackt, wurde mir dieses zusammen mit einem Gläschen Sambuca überreicht. Während andere Leute diese nette Geste zu einer Essensfortsetzung für daheim nutzten, suchte ich die nächstbeste Mülltonne auf und entledigte mich des lästigen Ballasts.

Im Gegensatz zum Trinken war meine damalige Lust am Essen nicht gerade berauschend. Es gab aber auch Momente, in denen ich mich mit dem Zubereiten von Mahlzeiten befasste, speziell, wenn es in der Kneipe bei einem Frauengespräch um den Austausch wichtiger Kochrezepte ging. Natürlich musste man bei dieser Unterhaltung gewisse Abstriche machen, da es sich dabei um eine schon länger zurückliegende Tätigkeit handelte, welches auch der Zustand der Betreffenden erahnen ließ. Trotzdem regten einige Tipps meinen Appetit an und daher begab ich mich kurz entschlossen in ein Lebensmittelgeschäft. Von der Vielfalt des Angebots angetan, versuchte ich das vorher Aufgeschnappte zu einem eigenen Menü zusammenzustellen. Immer mit einem sehnsüchtigen Blick in Richtung Getränkeabteilung gerichtet, füllte sich mein Einkaufskorb ohne Rücksichtnahme auf das Preis-Leistungs-Verhältnis. Geleitet von der verschwommenen Sicht, wurden Sachen eingekauft, welche dann als Zierde bis zum Verfallsdatum die Küche schmückten. Bevor ich dann zur Kasse einbog, versorgte ich mich noch mit Bier, das man zu Hause noch vor dem Auspacken der restlichen Lebensmittel erst einmal einschenkte. Danach wurde in aller Ruhe die weitere Vorgehensweise ausgetüftelt. Kurz vor der tatsächlichen Ausführung der Wunschvorstellung stellte sich auch rechtzeitig der Hunger ab, sodass ich den Plan auf ungewisse Zeit verschob. Um vor den anderen nicht als Versager dazustehen, aß ich etwas beim Metzger und berichtete danach ausführlich von meinen Kochkünsten, welche ich mir vorab aus einem Buch herausgelesen hatte.

Diesem undisziplinierten Umgang mit dem Körper musste ich letztendlich Tribut zollen. Der enorme Gewichtsverlust stellte meine Standfestigkeit bei aufkommenden Windböen oder alkoholbedingten Schwankungen erheblich infrage. Da bei einem ehemaligen Arbeitskollegen und zugleich guten Bekannten ähnliche Symptome auftraten, schlossen wir uns an den Wochenenden zu einer Essgemeinschaft zusammen. Dies machte die Runde und so gesellten sich mit der Zeit zwei bis drei weitere Personen hinzu. Um in nichts nachzustehen, wurde allgemein gut gegessen und danach dementsprechend gebechert. In diesem Kreis befand sich auch ein guter Kollege, der seit zwei Jahren abstinent war und daher nur Spezi trank. Leider verließ er uns durch seinen plötzlichen Tod viel zu früh. Auch ein anderer aus unserer Tafelrunde verstarb drei Monate später an den Folgen des Alkohols und nicht an denen des Essens. Somit verblieben nur noch wir als Gründungsmitglieder und setzten das gemeinsame Sonntagsessen bis zum Anfang meiner Therapie fort.