Situationsdidaktik konkret (E-Book)

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Man kann gut zuerst das Verfahren modellieren und dann erst die Theorie einführen, um einige Aspekte des Vorgehens damit zu erklären. Es ist aber auch umgekehrt möglich, zuerst den notwendigen theoretischen Hintergrund vorzubereiten und dann das Vorgehen auf diesem Hintergrund darzustellen. Wichtig ist einzig, dass Theorie und Verfahren eng aufeinander bezogen sind.

Welche Reihenfolge man wählt, hängt unter anderem von den Vorlieben der Lernenden ab. Manche verlieren bei einem vorangestellten Theorieblock den Faden, andere können ohne vorgängige Orientierungshilfe der modellhaften Vorführung des Vorgehens schlecht folgen. Wenn sich anhand der Theorie erklären lässt, warum die Lernenden im Schritt 3 Schwierigkeiten hatten, ergibt es mehr Sinn, diesen Teil der Theorie vor dem Vorgehen zu behandeln. Dient die Theorie hingegen dazu, Aspekte des Vorgehens zu begründen, ist sie für die Lernenden leichter einzuordnen, wenn sie nachher zum Thema gemacht wird.

Hintergrundtheorien dienen typischerweise dazu, die verschiedenen Elemente der im Zentrum stehenden Handlungssituation zu ordnen und zueinander in Verbindung zu bringen. Dieses Ziel entspricht dem Ziel von A3 Phänomene einordnen. Vor allem, wenn eine grössere Menge Hintergrundtheorie eigeführt werden muss, kann man an dieser Stelle auch A1 Handeln vorbereiten unterbrechen und einmal vollständig und ausführlich A3 Phänomene einordnen durchspielen.

Zu Schritt 6: Die Lernenden eigene Beispiele erfinden lassen, bis sie sich sicher fühlen

Hintergrund: C6 Varianten des Übens

Anleiten: Eventuell ist es zweckmässig, zuerst ein, zwei Beispiele im Plenum zu erfinden und zu bearbeiten. Dann sollten die Lernenden in Gruppen üben, bis sie sich sicher fühlen. Manchmal braucht es für die Gruppenphase nochmals ein bereits formuliertes Beispiel, um die Aufgabenproduktion in Schwung zu bringen. Beim Arbeiten in den Gruppen benötigen die Lernenden zu Beginn meist noch mehr oder weniger Unterstützung (sowohl beim Erfinden der Beispiele wie beim Lösen). Mit der Zeit kann und muss diese aber wegfallen. Gegen Schluss kann man sogar dazu übergehen, spontan zusätzliche Schwierigkeiten in die Beispiele der Lernenden einzubauen.

Wörtliche Umsetzung: Ein Verfahren kann man nur einüben, wenn man sich in der Übungsphase strickt an das vorgeschlagene Vorgehen hält. Wichtig ist daher, dass alle Lernenden angehalten sind, das in Schritt 5 modellierte Vorgehen so gut es ihnen gelingt zu nutzen und nicht hier schon Varianten zu produzieren. Eine Diskussion über Varianten und Grenzen des Vorgehens wird auf später verschoben (vgl. «Reflexion» unten).

Anzahl: Besteht eine Klasse aus 20 Lernenden, die je eine Aufgabe erfinden, 19 Aufgaben ihrer Kolleginnen und Kollegen lösen und dann nochmals 19 Lösungen zu ihrer Aufgabe korrigieren, wurde gut und genug geübt.

Lösungen: Alle, die eine Aufgabe beisteuern, geben separat dazu eine Musterlösung ab. Anhand dieser Lösung korrigieren sie dann die Lösungsversuche der anderen Lernenden. Dies ist nur zielführend, wenn die Musterlösungen korrekt sind. Um dies sicherzustellen, kann die Lehrperson in der Zeit, in der die Lernenden an den Aufgaben arbeiten, die Musterlösungen kontrollieren. Spannender und interaktiver geschieht dies aber, wenn die Lernenden ihre Musterlösungen irgendwo aufhängen. Die Lernenden können dann ihre eigene Lösung mit den Mustern vergleichen. Typischerweise entsteht bei nicht korrekten Musterlösungen, aber auch bei Aufgaben, zu denen es mehrere akzeptable Lösungen gibt, bald einmal eine rege Diskussion zwischen den Lernenden, da nicht alle mit der Musterlösung einverstanden sind. Die Lehrperson kann diese Diskussion nutzen, um alternative Lösungen, typische Schwierigkeiten und typische Fehlüberlegungen zu thematisieren.

Reflexion: Für jedes praktische Vorgehen müssen gewisse Bedingungen erfüllt sein, damit es sinnvoll eingesetzt werden kann. Die Lernenden können das eingeübte Vorgehen im praktischen Alltag nur dann sinnvoll einsetzen, wenn sie sich dessen bewusst sind. Gegen Ende des Schritts 6 ist es ein guter Moment, um mit ihnen diesen Aspekt zu thematisieren. Am besten greift man dazu nochmals auf die Lösungsversuche von Schritt 3 zurück und bespricht, inwiefern und unter welchen Bedingungen das eingeübte Vorgehen die dort erlebten Schwierigkeiten behebt. Dabei zeigt sich manchmal auch, dass in einigen Fällen eine der Gruppenlösungen das praxistauglichere Vorgehen darstellt und somit dem von der Lehrperson eingeführten Vorgehen vorzuziehen ist (Beispiel: B2 Randumfang einstellen).

Zu Schritt 7: Die Lernenden Spickzettel für die Arbeit im Betrieb erarbeiten lassen

Hintergrund: C3 Situierte Abstraktion; C7 Schnelles Denken, langsames Denken

Für den Betrieb: Wenn die Situation auch oder nur an einer Prüfung vorkommt, ist es sinnvoll, auch für diesen Einsatz im Rahmen des rechtlich Erlaubten einen Spickzettel zu erstellen. Von der Grundidee her geht es aber darum, einen Spickzettel für den Gebrauch im Betrieb zu erstellen. Die Lernenden müssen sich daher folgende Frage stellen: Wenn ich morgen im Betrieb mit genau dieser Situation beziehungsweise Aufgabe konfrontiert bin, was brauche ich da als Gedächtnisstütze, damit ich versuchen kann, das Gelernte einzusetzen?

Kurzfristiger Gebrauch: Ein Spickzettel kann eine kurzfristige und eine langfristige Rolle erfüllen. In der kurzfristigen Funktion hilft er den Lernenden, sich im Betrieb daran zu erinnern, wie sie überhaupt vorgehen sollen (z.B. «Zuerst …, dann … Nicht vergessen …!»). Wird das entsprechende Vorgehen mit der Zeit zur Routine, verliert diese Komponente des Spickzettels ihre Bedeutung. Kann sich aber keine Routine ausbilden, weil die entsprechende Situation zu selten auftritt, ist es sinnvoll, dass auch dieser Teil des Spickzettels irgendwo überlebt und später wieder zur Verfügung steht.

Langfristiger Gebrauch: Langfristiger brauchbar können für das Vorgehen zentrale Grössen und Daten sein, die man einfach kennen muss, um den Arbeitsablauf durch Nachschlagen beziehungsweise Nachrechnen nicht zu behindern (Beispiel: B2 Randumfang einstellen). Die Lernenden können daraus ein persönliches Nachschlagewerk aufbauen, das sie unter Umständen längere Zeit während ihrer beruflichen Karriere begleitet.

Individuelle Form: Wichtig ist allerdings, dass die Lernenden nicht einfach Material kopieren, sondern eine Darstellungsform finden, die für sie individuell hilfreich ist, die ihnen genau die Unterstützung bietet, die sie brauchen (Hintergrund: C3 Situierte Abstraktion).

Unterstützung: Brauchbare Spickzettel zu schreiben, muss gelernt werden. Anfänglich ist nicht zu erwarten, dass alle Lernenden gleich das für sie brauchbare Format finden. Es braucht daher etwas Beratung und dann auch gemeinsame Diskussionen, bis ein gutes Format gefunden ist. Sinnvoll ist es, bei Schritt 8 (Erfahrungsberichte aus dem Betrieb) auch die Brauchbarkeit der jeweiligen Spickzettel zu evaluieren und allenfalls daraus Konsequenzen für ein nächstes Mal zu ziehen.

Zu Schritt 8: Die Anwendung im Betrieb diskutieren

Hintergrund: C6 Varianten des Übens; C7 Schnelles Denken, langsames Denken; C8 Gewisse Ungewissheit

Zeitaufwand: Die Bedeutung dieses Schritts darf man nicht unterschätzen. Wird er ernst genommen, kann er schnell mehr Zeit beanspruchen als alle anderen Schritte zusammen! Gelerntes, das man im Prinzip verstanden hat, unter Alltagsbedingungen situationsangemessen zu nutzen, ist keineswegs trivial (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen).

Vorbereiten: Man kann diesen Übergang in die betriebliche Anwendung vorbereiten, indem man in der Klasse vorausschauend diskutiert, was geschehen wird beziehungsweise geschehen könnte, wenn die Lernenden morgen oder nächste Woche eine entsprechende Situation in ihrem Betrieb anpacken. Am besten geschieht das im Zusammenhang mit der Erstellung der Spickzettel. Dabei kann sich zeigen, dass die Lernenden noch Informationen oder Hilfe zu Punkten brauchen, die bisher gar nicht besprochen wurden.

Nachbereiten: Allerdings lässt sich kaum vorhersehen, welche Schwierigkeiten die einzelnen Lernenden im Betrieb dann tatsächlich haben werden. Wichtiger als eine Vorbereitung auf den Einsatz des Vorgehens ist deshalb, dass die Lernenden zu einem späteren Zeitpunkt die im Betrieb gesammelten Anwendungserfahrungen in die Schule zurückbringen, um sie dann gemeinsam zu diskutieren. Dies ist typischerweise der Moment, wo die Lehrperson als erfahrene Berufsperson aus dem Vollen schöpfen kann und auch soll.

Kritische Reflexion: Dies ist dann nochmals der Moment, die Möglichkeiten und Grenzen des behandelten Vorgehens kritisch zu diskutieren, seine Stärken und Schwächen festzuhalten. Oft ergibt sich das von selbst, wenn einzelne Lernende davon berichten, dass in ihrem Betrieb anders vorgegangen wird oder dass das an der Schule behandelte Vorgehen dort explizit abgelehnt wird.

Erfahrungen reflektieren: Wenn man sich besonders intensiv mit einer Erfahrung, die die Lernenden aus dem Betreib zurückbringen, auseinandersetzen will, kann man das mithilfe von A2 Erfahrungen reflektieren machen.

A1.4 Erwähnte Literatur

Cattaneo, A. & Felder, J. (2018). Eine digitale Brücke zwischen den Lernorten. skilled, 1/18.

 

A2 ERFAHRUNGEN REFLEKTIEREN

Zweites Grundrezept: «Reflektierende Fallstudie»

A2.1 Die Zielsetzung

Die Lernenden machen im Betrieb täglich neue Erfahrungen in unterschiedlichsten Situationen wie «Brot backen», «ein Kundengespräch führen», «eine Klientin mobilisieren», «ein Gerüst aufstellen», «einen Computer als Server einrichten» etc. Diese Erfahrungen werden in Zukunft ihr Handeln leiten (Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche). Daher ist es wichtig, sie zu reflektieren. Professionelles Handeln ist nur möglich, wenn sich die Lernenden bewusst sind, welche ihrer Erfahrungen positive Modelle abgeben, die man getrost kopieren kann (z.B. beim Gerüstbau einen Helm tragen), und welche eher negative Beispiele sind, die man meiden sollte (z.B. schnell, schnell und ungesichert am Gerüst noch eine Veränderung vornehmen).

Für viele Situationen gibt es Regeln oder Leitlinien wie «Hygieneregeln», «Sicherheitsregeln auf dem Bau», «Grundsätze eines erfolgreichen Kundengesprächs» oder «ergonomisches Arbeiten». All diese Leitlinien eignen sich, um Erfahrungen kritisch zu reflektieren, haben aber meist nicht die Form eines Verfahrens, das man erlernen könnte. Aus den «Grundsätzen eines erfolgreichen Kundengesprächs» lässt sich beispielsweise nicht direkt ableiten, was man in einem bestimmten Moment genau sagen soll. Die «Grundsätze» eignen sich aber hervorragend, um nachher darüber nachzudenken, ob das, was man im Verlauf eines bestimmten Gespräches gesagt hat, sinnvoll war (positives Modell) oder eher nicht (negatives Modell) (Hintergrund: C7 Schnelles Denken, langsames Denken).

Um den Lernenden zu helfen, ihre Erfahrungen in diesem Sinne zu reflektieren, entstand das Unterrichtsrezept Erfahrungen reflektieren.

Leseanleitung: Möchten Sie sich einfach informieren, wie dieses Rezept aufgebaut ist, dann lesen Sie hier direkt weiter. Möchten Sie aber angeleitet werden, wie Sie sich dieses didaktische Rezept am besten zu eigen machen, dann gehen Sie zu A9 Leseanleitung zu Teil A.

A2.2 Erfahrungen reflektieren kurz gefasst

Das Rezept umfasst acht Schritte, die aufeinander aufbauen. Im Zentrum stehen:

• Eine bestimmte Situation – wie «Brot backen» oder «einen Computer als Server einrichten» –, welche die Lernenden im beruflichen Alltag immer wieder antreffen und zu der sie entsprechend schon verschiedene Erfahrungen gesammelt haben.

• Ein bewährtes Raster (Regel oder Leitlinie), mit dessen Hilfe man diese Erfahrungen als positive oder negative Modelle einstufen kann.

Schritt 1: Vorgabe einer typischen beruflichen Handlungssituation

Die Lehrperson bestimmt eine typische berufliche Handlungssituation, die im Fokus stehen soll (z.B. «Reklamationen von Kunden entgegennehmen»). Dies muss eine Situation sein, welche die Lernenden bereits erlebt haben.

Schritt 2: Geschichte wählen und erzählen

Vorschlagen: Die Lernenden machen Vorschläge zu Geschichten, die sie über Erlebnisse in der betreffenden Situation erzählen können (z.B. «eine anspruchsvolle Kundin», «ein wütender Kunde», «eine verwirrte Kundin»).

Auswählen: Alle (Lernende und Lehrperson) stimmen darüber ab, welche der vorgeschlagenen Geschichten vertieft behandelt werden soll (z.B. «ein wütender Kunde»).

Erzählen und Nachfragen: Die Lernende, die die gewählte Geschichte vorgeschlagen hat, stellt diese ausführlich dar (z.B. «Der Kunde war zuerst ganz höflich, aber dann …»). Die anderen fragen nach, wenn ihnen Dinge unklar sind oder wenn sie gern weitere Informationen hätten.

Schritt 3: Frage wählen

Fragen vorschlagen: Alle machen Vorschläge, welche Fragen sie gern anhand der erzählten Geschichte behandeln würden (z.B. «Was mache ich, wenn es zu einer Schlägerei kommt?» oder «Wie kann so etwas überhaupt passieren?»).

Fragen wählen: Alle stimmen darüber ab, welche Frage vertieft behandelt werden soll (z.B. «Wie kann so etwas überhaupt passieren?»).

Schritt 4: Raster wählen und darstellen

Wahl eines Rasters: Es wird ein Raster (ein theoretisches Konzept, ein Modell, eine Theorie) bestimmt, anhand dessen sich die gewählte Frage im Rahmen der Geschichte behandeln lässt (z.B. das Konzept des Vier-Ohren-Modells von Schulz von Thun).

Präsentation des Rasters: Eine Person beschreibt das Raster, sodass es allen präsent ist.

Schritt 5: Beschreibung

Die Geschichte wird in das Raster «eingefüllt», das heisst mithilfe der Begrifflichkeit des Rasters geordnet (z.B. Aspekte einzelner Äusserungen im Gespräch mit dem verärgerten Kunden den entsprechenden «Ohren»).

Schritt 6: Analyse

Anschliessend wird geklärt, ob das, was in der Geschichte geschehen ist, aus der Sicht des Rasters sinnvoll beziehungsweise korrekt war (z.B. «Wurde ein ‹Ohr› systematisch vernachlässigt?»).

Schritt 7: Varianten

Dieser Schritt schafft einen Freiraum, um Aspekte der Geschichte zu behandeln, die durch die vorangegangene fokussierte Analyse nicht berücksichtigt wurden. Er kann verschiedene Formen annehmen, wie beispielsweise:

Diskussionen, Input: Alle beteiligen sich an einer Diskussion, wie man beispielsweise in der Geschichte auch noch hätte vorgehen können (z.B. «Und was mache ich jetzt wirklich bei einer Schlägerei?»).

Übungen: Ausgewählte Aspekte des Rasters und seiner Anwendung werden gezielt geübt, etwa in Form von Rollenspielen (z.B. «auf Widersprüche zwischen den ‹Ohren› achten»).

Schritte 8: Konsequenzen

Individuell planen: Die Lernenden ziehen je für sich Konsequenzen aus dem Behandelten (z.B. das benutze Raster nochmals genauer durcharbeiten, in Zukunft im Betrieb anders zu reagieren …).

Schlussrunde: Die Lernenden beschreiben reihum kurz, welches ihre persönlichen Konsequenzen sind.

ERFAHRUNGEN REFLEKTIEREN IM ÜBERBLICK

1. Vorgabe einer typischen beruflichen Handlungssituation

2. Geschichte erzählen

3. Frage wählen

4. Raster wählen

5. Beschreibung

6. Analyse

7. Varianten

8. Konsequenzen

A2.3 Anregungen zu den einzelnen Schritten

So weit das Rezept Erfahrungen reflektieren einmal im Schnelldurchgang und anhand eines einfachen Beispiels (weitere Beispiele: B4 Reklamationsgespräch, B5 Das gute Leben und B6 Unterrichtsbeispiele besprechen). Damit die einzelnen Schritte die gewünschte Funktion übernehmen und als Ganzes ineinandergreifen, gibt es Verschiedenes zu beachten.

Zu Schritt 1: Vorgabe einer typischen beruflichen Handlungssituation

Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche; C7 Schnelles Denken, langsames Denken

Situation als Analyseeinheit: Erfahrungen werden als Situationen erinnert (Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche). Entsprechend ist die Einheit bei der Analyse von Erfahrungen die Situation.

Bekannte Situation: Der ganze Ablauf geht davon aus, dass die Lernenden mit der Situation bereits Erfahrungen gemacht haben. Am besten eignen sich daher Situationen, bei denen diese Voraussetzung für alle Lernenden erfüllt ist. Es ist aber auch möglich, an Situationen zu arbeiten, zu denen nicht alle Lernenden eigene Erfahrungen gemacht haben. Eine bestimmte Geschichte wird letztlich für alle – ausser der Lernenden, die sie erzählt – eine fremde Geschichte sein, und auch die Lernenden mit einschlägigen Erfahrungen müssen sich in diese fremde Geschichte eindenken. Allerdings sollten mehr als ein Drittel der Lernenden die Situation schon erlebt haben, da sonst in der Klasse der Eindruck entsteht, dass es sich um eine Ausnahmesituation handelt, die den ganzen Aufwand nicht wert ist.

Beobachtungsaufträge: Das Material, auf das die Lernenden bei der Arbeit an ihren Erfahrungen zurückgreifen, ist reichhaltiger, wenn man ihnen geeignete Vorbereitungsaufträge stellt. Dabei kann es sich um Beobachtungsaufträge handeln. Die Lernenden beobachten sich selbst oder andere in der entsprechenden Situation und machen sich Notizen. Man kann sie aber auch auffordern, Materialien wie schriftliche Unterlagen oder Handyfotos der erlebten Situation mitzubringen, soweit dadurch nicht rechtliche Bestimmungen verletzt werden.

Zu Schritt 2: Geschichte wählen und erzählen

Auswahl: Als Einstieg fragt die Lehrperson, wer von den Lernenden schon Erfahrungen mit der entsprechenden Situation (z.B. «Reklamationen entgegennehmen») gemacht hat und darüber erzählen möchte. Die Lernenden schildern kurz in zwei, drei Sätzen, was sie erzählen könnten. Diese Kurzfassungen dienen dann als Basis für die Entscheidung darüber, welche Geschichte ausführlicher erzählt werden soll.

Dadurch, dass die Lernenden bei der Auswahl der Geschichte mitwirken, wird sichergestellt, dass sich möglichst viele Lernende dafür interessieren und sich aktiv mit ihr auseinandersetzen (Hintergrund: C8 Gewisse Ungewissheit). In seltenen Fällen kann es trotzdem sinnvoll sein, wenn die Lehrperson die Lernenden überstimmt und eine Geschichte wählt, dank der sich besser an aktuellen Lernzielen arbeiten lässt (z.B. lieber «eine anspruchsvolle Kundin» als «ein wütender Kunde»).

Geschichte: Die Arbeit wird ergiebiger und wirksamer, wenn die Erfahrung ungefiltert einfliesst. Der Begriff «Geschichte» ist daher ganz bewusst gewählt. Es geht nicht darum, einen «Fall» zur Illustration einer bestimmten Theorie zu gewinnen, sondern darum, an den realen Erfahrungen der Lernenden anzuknüpfen und diese zu bearbeiten (Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche; C2 Erfahrungen und Ressourcen; C7 Schnelles Denken, langsames Denken).

Nur eine Geschichte: Es wird nur eine Geschichte erzählt, damit genügend Platz vorhanden ist, um die entsprechende Erfahrung in ihrer vollen Komplexität darzustellen und zu analysieren. Allerdings wird so das situative Wissen nur von einer einzigen Lernenden direkt bearbeitet. Daher ist es wichtig, die Geschichte ausführlich zu erzählen, sodass die anderen Lernenden sie als eine Ersatzerfahrung auch in ihr situatives Wissen einbauen können (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen; C5 Erfahrung und Instruktion).

Zu Schritt 3: Frage wählen

Funktion: Jede reale Erfahrung lässt sich aus verschiedenen Blickwinkeln genauer analysieren. Fragen, die man im Zusammenhang mit der erzählten Geschichte behandeln möchte, entsprechen solchen Blickwinkeln. Dabei kann es um eher fachliche, aber genauso gut um sozial-kommunikative oder methodische Fragen gehen.

Bei «Reklamationen entgegennehmen» könnte es beispielsweise aus einem eher fachlichen Blickwinkel um den professionellen Umgang mit Reklamationen gehen oder aus einer eher sozial-kommunikativen Perspektive um die Gestaltung der Interaktion mit dem Kunden.

Wahl: Auch hier sollen nach Möglichkeit die Lernenden die Frage bestimmen, mit der weitergearbeitet wird, damit sich möglichst viele von ihnen mit ihr identifizieren und aktiv mitarbeiten (Hintergrund: C4 Lernziel richtige Antwort). Sogar wenn die Frage aus Sicht der Lehrperson nicht besonders sinnvoll erscheint, kann es zweckmässig sein, auf den Wunsch der Gruppe einzugehen. Dies ermöglicht es den Lernenden zu erleben, welche Fragen in welchem Kontext eher zu interessanten Einsichten führen.

Buchführung: Für alle Beteiligten ist es hilfreich, die Liste der Fragen gut sichtbar aufzuhängen und im weiteren Verlauf gelegentlich zu dokumentieren, welche davon man bereits wie angegangen hat. Man kann diese Liste auch laufend um weitere Fragen ergänzen, die vielleicht bei der Bearbeitung der folgenden Schritte auftauchen.

Zu Schritt 4: Raster wählen und darstellen

Geeignete Raster: Nützlich sind Raster mit einer klar normativen Aussage, das heisst, aus denen man ableiten kann, ob das Vorgehen in der geschilderten Situation professionellen Standards genügt. Und selbstverständlich sollte das gewählte Raster eine Bearbeitung der gewählten Frage ermöglichen.

 

Das Vier-Ohren-Modell nach Schulz von Thun (1981) beispielsweise beleuchtet Situationen eher aus einer sozial-kommunikativen Perspektive, ist also für entsprechende Fragen geeignet. Es enthält verschiedene normative Aspekte, wie etwa die Aussage, dass es für eine gelingende Kommunikation wichtig ist, auf Widersprüche zwischen den vier «Ohren» zu achten.

Quelle: Sofern das Raster früher schon einmal behandelt wurde, sollten nach Möglichkeit die Lernenden es kurz zur Auffrischung darstellen. Kommt ein neues, unbekanntes Raster zum Einsatz, wird es an dieser Stelle durch die Lehrperson eingeführt.

Darstellung des Rasters: Notwendig ist an dieser Stelle nur ein Überblick über die zentralen Aspekte (z.B. kurz und anschaulich, welche vier Aspekte der Kommunikation mit den vier Ohren gemeint sind), die einen Bezug zur gewählten Frage haben (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen; C3 Situierte Abstraktion; C5 Erfahrung und Instruktion). Details können bei Bedarf beim folgenden Schritt nachgereicht werden.

Zu Schritt 5: Beschreibung

Hintergrund: C5 Erfahrung und Instruktion; C7 Schnelles Denken, langsames Denken

Funktion: Bei der Beschreibung geht es darum, die einzelnen Elemente der Geschichte mit der Begrifflichkeit des Rasters zu benennen. Je nach Raster ist dies schnell getan oder erfordert eine sorgfältige, feine Aufgliederung. Durch diese Beschreibung wird einerseits die Analyse im folgenden Schritt vorbereitet, andererseits üben die Lernenden, über eine Situation aus dem beruflichen Alltag mithilfe der Fachsprache zu kommunizieren und sie aus einer fachlichen Perspektive zu strukturieren.

Nutzt man beispielsweise das Vier-Ohren-Modell als Raster zur Beschreibung einer Geschichte zum Thema «Reklamationen entgegennehmen», geht es darum, die einzelnen Etappen des Gesprächs mit dem Kunden den vier Kategorien «Sach-Ohr», «Beziehungs-Ohr», «Selbstoffenbarungs-Ohr» und «Appell-Ohr» zuzuordnen.

Präzisierungen zum Raster: Typischerweise wird im Verlaufe des Versuchs, die Geschichte mithilfe der Begrifflichkeit des Rasters zu ordnen, schnell klar, wo die erste einführende Darstellung des Rasters genügte und wo spezielle Aspekte detaillierter behandelt werden müssen. Damit der Arbeitsfluss erhalten bleibt, sollten immer nur gerade so viele Details behandelt werden, wie für die Analyse der Geschichte notwendig sind. Eine systematischere umfassende Darstellung des Rasters kann nachträglich schriftlich abgegeben oder es kann auf entsprechende Quellen verwiesen werden (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen; C3 Situierte Abstraktion).

Zu Schritt 6: Analyse

Hintergrund: C5 Erfahrung und Instruktion; C7 Schnelles Denken, langsames Denken

Funktion: Ziel dieses Schritts ist es, das Geschehen in der Geschichte aus dem Blickwinkel des Rasters zu bewerten. Zu diesem Zweck werden für einen Moment alle Zweifel an der Nützlichkeit und Begründbarkeit des Rasters und seiner normativen Aussagen zur Seite geschoben, und die Analyse erfolgt, als ob das Raster eine unumstössliche Wahrheit formulieren würde. Setzt man beispielsweise das Vier-Ohren-Modell ein, unterdrückt man für die Analyse jeden Zweifel daran, ob es sinnvoll ist, die vier «Ohren» zu unterscheiden und auf Widersprüche zwischen ihnen zu achten.

Resultate: Beim Vergleich zwischen normativer Aussage des Rasters und realem Geschehen in der Geschichte kann man zu vier verschiedenen Aussagen kommen:

Positives Beispiel im Sinne des Rasters: In der Geschichte wurde genauso gehandelt, wie es das Raster vorsieht (z.B.: Ein Widerspruch zwischen zwei verschiedenen «Ohren» wurde erkannt, und es wurde darauf reagiert).

Negatives Beispiel aus der Sicht des Rasters: Aus der Sicht des Rasters wurden in der geschilderten Situation Fehler begangen (z.B.: Ein Widerspruch zwischen zwei verschiedenen «Ohren» wurde nicht bemerkt).

Erweiterung/Variante zum Raster: Das Vorgehen in der Geschichte weist Aspekte auf, die so zwar im Raster nicht explizit erwähnt sind, die aber eine Präzisierung oder einen guten Zusatz im Sinne des Rasters darstellen (z.B.: In der Geschichte wurde auf eine besonders gelungene Art auf einen Widerspruch zwischen verschiedenen «Ohren» reagiert).

Begründbare Abweichung vom Raster: Das Vorgehen in der Geschichte weicht zwar von dem ab, was laut Raster optimal wäre. Die speziellen Umstände in der geschilderten Situation machen diese Abweichung aber notwendig und sinnvoll. (z.B.: Aus einem guten Grund, der sich aus der konkreten Situation heraus ergibt, wurde ausnahmsweise nicht auf einen Widerspruch zwischen verschiedenen «Ohren» reagiert).

Raster nicht anwendbar: Das Raster ist auf die geschilderte Situation nicht anwendbar, und entsprechend ist keine Aussage möglich (z.B.: Die Problematik der Geschichte liegt weniger im sozial-kommunikativen Bereich, sondern eher im fachlichen, wozu das Vier-Ohren-Modell keine Aussagen macht).

Auch das letzte Resultat ist eine wertvolle Einsicht, denn zum Beherrschen eines Konzeptes gehört auch das Wissen über seinen (begrenzten) Anwendungsbereich.

Kritische Distanz: Je nach Raster kann es sinnvoll sein, nach erfolgter Analyse wieder eine gewisse kritische Distanz zum Raster einzunehmen. Dies kann bedeuten, dass man gemeinsam aus der Analyse heraus beurteilt, als wie nützlich es sich erwiesen hat, wie wertvoll die gewonnen Einsichten sind. Dann ist aber auch ein als nützlich wahrgenommenes Raster nur wirklich nützlich, wenn es verlässlich ist, das heisst, wenn die normativen Komponenten mehr oder weniger unbestritten sind. Ist beispielsweise die Forderung, auf Widersprüche zwischen verschiedenen «Ohren» zu reagieren, eine allgemein akzeptierte Norm oder nur die Idee eines einzelnen Autors? Hier ist die Lehrperson gefragt, um den notwendigen Hintergrund zu liefern.

Zu Schritt 7: Varianten

Funktion: Durch die Schritte 3 bis 6 wird die erzählte Geschichte aus einem klar definierten, durch das Raster gegebenen und damit eingeschränkten Blickwinkel beleuchtet. Typischerweise gibt es aber noch verschiedene andere Aspekte der Geschichte, die die Lernenden beschäftigen. Schritt 7 bietet die Gelegenheit, in offener Form darauf einzugehen. Aufgrund der vorangegangenen Diskussionen ist es für die Lehrperson meist möglich abzuschätzen, was die Lernenden beschäftigt, und sie kann somit geeignete Aktivitäten vorschlagen.

Weitere Bearbeitung der Geschichte: Man kann sich der erzählten Geschichte nochmals unter einem neuen Gesichtspunkt zuwenden. Mögliche Themen sind:

• Vorschläge, wie man in der Geschichte hätte anders vorgehen können,

• Vergleich mit den Erfahrungen der anderen Lernenden,

• alternative Raster, mit denen man die Geschichte auch noch analysieren kann,

• kritische Anmerkungen zum verwendeten Raster,

• Erweiterungsvorschläge zum Raster,

• Präzisierungen zum genutzten Raster.

Im Gegensatz zum vorangegangenen Analyseschritt, in dem es strukturiert darum geht, Erfahrung und Raster beziehungsweise Theorie zueinander in Verbindung zu bringen, kann die Diskussion hier in lockerer Form geführt werden.

Hat man eine Geschichte zu «Reklamationen entgegennehmen» mithilfe des Vier-Ohren-Modells analysiert, könnte man nun beispielsweise noch besprechen, ob das, was im Gespräch gesagt wurde, auch fachlich korrekt war.

Üben: Alternativ kann man diesen Schritt aber auch dazu nutzen, den Gebrauch des gewählten Rasters zu üben, wie etwa weitere Erfahrungen mithilfe des Rasters zu ordnen oder übungshalber nach den Vorgaben des Rasters zu handeln.

Im Zusammenhang mit «Reklamationen entgegennehmen» könnten beispielsweise die Lernenden in kleinen Gruppen eigene Erfahrungen mithilfe des Vier-Ohren-Modells analysieren. Alternativ könnte man im Rollenspiel üben, Reklamationen korrekt entgegenzunehmen.

Zu Schritt 8: Konsequenzen

Individuelle Form: In den meisten Fällen werden sich für die einzelnen Lernenden ganz unterschiedliche Konsequenzen ergeben (Hintergrund: C8 Gewisse Ungewissheit). Die einen sind vielleicht zum Schluss gekommen, dass das verwendete Raster sehr nützlich ist, sie es aber noch nicht gut genug kennen und mehr erfahren wollen. Andere ziehen aus dem Besprochenen konkrete Schlussfolgerungen für ihren beruflichen Alltag und werden diese erproben wollen. Wichtig ist deshalb, dass die Lernenden je individuell für sich ihre Schlüsse ziehen. Fällt ihnen das schwer, bietet es sich an, im Tandem zu arbeiten, da es manchen Lernenden leichter fällt, diese Überlegungen im Gespräch als für sich allein anzustellen.