Situationsdidaktik konkret (E-Book)

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A5.2 Ein Rezept in fünf Schritten

Das Rezept ist nicht wirklich erprobt. Rückmeldungen über Verständlichkeit und Nützlichkeit sind daher sehr erwünscht!

In Zentrum stehen:

• Eine bestimmte Situation (wie «Elektroautos warten» oder «Pflegeroboter nutzen»), deren Bewältigung die Lernenden möglichst bald beherrschen sollten.

• Weder die Lehrperson noch die Lernenden kennen ein geeignetes Vorgehen, um diese Situationen professionell anzugehen.

Schritt 1: Sicherstellen, dass alle von derselben Handlungssituation ausgehen

Wie in allen anderen Rezepten stellt die Lehrperson zuerst sicher, dass alle Anwesenden von derselben Situation ausgehen.

Schritt 2: Ideen für mögliche Lösungen entwickeln

Die Anwesenden entwickeln gruppenweise oder für sich allein Lösungsideen, die dann im Plenum diskutiert werden. Daraus ergeben sich meist Fragen, die geklärt werden müssen, um zu einer brauchbaren Lösung zu gelangen.

Schritt 3: Recherche

Alle gehen gruppenweise oder einzeln auf die Suche nach Antworten auf die Fragen aus Schritt 2.

Schritt 4: Neues Vorgehen konzipieren

Aufgrund der Resultate der Recherche und der Erfahrungen aller Beteiligten mit ähnlichen Situationen wird ein neues, praxistaugliches Vorgehen entwickelt und an erfundenen Beispielen getestet.

Schritt 5: Anwendungsfragen und Anwendungsprobleme klären

Das neue Vorgehen wird, wo immer möglich, in der Praxis eingesetzt. Die Erfahrungen werden diskutiert und auftretende Probleme nach Möglichkeit gelöst.

DAS GEMEINSAME LERNPROJEKT IM ÜBERBLICK

1. Kontext sicherstellen

2. Lösungsideen entwickeln

3. Recherche

4. Neues Vorgehen konzipieren

5. Klärung von Anwendungsproblemen

A5.3 Anregungen zu den einzelnen Schritten

Zu Schritt 1: Sicherstellen, dass alle von derselben Handlungssituation ausgehen

Diese Grundvoraussetzung muss hier genauso geschaffen werden wie im Schritt 2 von A1 Handeln vorbereiten. Wie viel Aufwand das bedeutet, hängt von der Situation ab und von dem, was im Unterricht vorangegangen ist. Im CAD-Beispiel ist die Situation im Wesentlichen eingeführt. Es ist aber sicher hilfreich, wenn die Lehrperson kurz zusammenfassend festhält: Es geht darum, beim Planen eines Gebäudes mit CAD systematisch zu überprüfen, ob Normen wie minimale Deckenhöhe etc. eingehalten werden.

Wird hingegen eine neuartige Situation von den Lernenden spontan eingebracht, wie beispielsweise der Einsatz von Pflegerobotern, dürfte mehr Aufwand notwendig sein, um zu klären, von welcher Situation die Rede sein soll. Können die Lernenden nicht viel Konkretes erzählen (z.B. «Bei uns steht seit einigen Tagen ein Pflegeroboter herum und niemand weiss so recht, was damit anfangen.»), muss die Lehrperson helfen, die Situation genauer zu definieren, damit überhaupt ein bearbeitbares Projekt entsteht. Im Beispiel könnte der vorläufige Arbeitstitel lauten: «Pflegeroboter der aktuell gegebenen Technologie im Pflegeprozess sinnvoll und produktiv einsetzen».

Zu Schritt 2: Ideen für mögliche Lösungen entwickeln

Die Situation gelangt ja in den Fokus der Aufmerksamkeit, da sie ein Problem darstellt, eine zu lösende Aufgabe. Im Sinne der Schritte 3 und 4 von Handeln vorbereiten geht es als Nächstes darum, zu versuchen, einzeln oder gruppenweise mithilfe des vorhandenen Vorwissens Lösungsansätze zu finden. In den beiden Beispielen würde es darum gehen, möglichst viele Ideen zu entwickeln, wie man einen CAD-basierten 3-D-Plan systematisch analysieren kann beziehungsweise wie man Pflegeroboter einsetzen könnte. In dieser Phase haben Lehrperson und Lernende dieselbe Rolle. Die Lehrperson kann und soll alleine für sich oder zusammen mit einer Gruppe Ideen entwickeln.

Diese Ideen werden gesammelt und nach ihrer vermuteten Nützlichkeit geordnet. Idealerweise entsteht daraus eine Liste von offenen Fragen, von deren Klärung man sich eine Lösung des Problems verspricht. Im CAD-Beispiel mit seiner relativ konkreten Fragestellung könnte man beschliessen, die beiden vielversprechendsten Vorgehensideen weiterzuverfolgen und beispielsweise abzuklären, wie weit diese durch existierende CAD-Programme bereits unterstützt werden.

Im Roboterbeispiel, dem eine viel offenere Frage zugrunde liegt, könnte man für die weitere Bearbeitung die Ideen in zwei Gruppen einteilen: 1) begrüssenswerte Einsatzarten, die man intensiv verfolgen möchte, und 2) Einsatzarten, von denen man nur abklären möchte, ob es dazu schon Überlegungen oder Erfahrungen gibt.

Zu Schritt 3: Recherche

Im Gegensatz zum Schritt 5 bei Handeln vorbereiten steht hier kein Modell zu Verfügung, das vorgeführt werden kann. Lehrperson und Lernende müssen daher nach Lösungsideen auf die Suche gehen. Dazu sollten alle verfügbaren Quellen berücksichtigt werden: Internet, Lehrbücher, Arbeitskolleginnen und -kollegen (sowohl der Lehrperson wie der Lernenden), Fachpersonen etc.

Denkbar ist, dass sich wirklich alle – also Lehrperson und Lernende – an der Recherche beteiligen und beispielsweise während des Unterrichts im Internet auf die Suche gehen. Es ist aber auch möglich, dass die Lehrperson diese Aufgabe übernimmt. Bis sie mit Ergebnissen aufwarten kann, wird diese Arbeit an der Situation unterbrochen und eine oder mehrere Wochen später mit neuem Hintergrundwissen wieder aufgenommen.

Wie erfolgreich eine solche Suche sein kann, hängt von der problematischen Situation ab. Beim CAD-Beispiel ist es denkbar, dass jemand in einem Diskussionsforum im Internet auf eine Lösung stösst, die einigermassen erprobt scheint und im Forum auch schon diskutiert wurde. Hier könnte also die Suche unter Umständen recht schnell ein brauchbares Resultat erbringen.

Beim Roboterbeispiel dürfte es zu dem Zeitpunkt, zu dem ich dieses Buch schreibe, etwas schwieriger sein, schnell konkret zu werden. Vielleicht wird man in Prospekten von Roboterherstellern auf Einsatzvorschläge und die damit verbundenen Werbeaussagen stossen, die entsprechend vorsichtig zu bewerten sind. Darüber hinaus findet man vielleicht einzelne Forschungsartikel, die den Einsatz von Pflegerobotern thematisieren. Die Verantwortlichen, die den Roboter angeschafft haben, sollten etwas zu ihren Zielen sagen können, und vielleicht findet sich an einer benachbarten Fachhochschule eine Fachperson, die sich schon intensiver mit dem Thema beschäftigt hat.

Zu Schritt 4: Neues Vorgehen entwickeln

Ausser man stösst bei der Recherche unerwartet auf ein bewährtes Vorgehen, ist es mit dem Zusammentragen von Informationen nicht getan. Um sie nutzen zu können, muss auf ihrer Basis eine im praktischen Alltag einsetzbare Vorgehensweise entwickelt werden. Wurde im CAD-Beispiel im Internet ein Vorgehensvorschlag gefunden, würde es nun darum gehen, diesen konkret bei einer Darstellung zu erproben, welche die in der Klasse eingesetzten Programme generieren. Wie bei Schritt 4 bei A4 Die Lehrperson als Lernmodell kommt hier das Erfahrungswissen der Lehrperson zum Tragen. Sie kann erinnerte Gebrauchssituationen aus ihrem Erfahrungsschatz als eine Art Simulationsumgebung zur Verfügung stellen, um die Brauchbarkeit des sich entwickelnden Verfahrens kritisch zu prüfen. Bei dem CAD-Beispiel erinnert sich die Lehrperson vielleicht an Fälle, bei denen ein Problem bei der Planung übersehen oder erst im allerletzten Moment erkannt wurde. Gemeinsam kann man überprüfen, ob das Verfahren hier besser abgeschnitten hätte oder ob es allenfalls noch angepasst werden muss.

Bei dem Roboterbeispiel wird man an dieser Stelle die bisher offene Fragestellung einschränken müssen und gezielt eine Einsatzart angehen, die aufgrund der bisherigen Recherche besonders vielversprechend erscheint (unter Berücksichtigung des aktuellen Standes der Technologie, der vorhandenen Roboter in den Betrieben, des vorhandenen Wissens etc.). Dann geht es darum, ein geeignetes Einsatzmodell zu entwickeln. Auch hier können sowohl die Lehrperson als auch die Lernenden aus dem Gedächtnis Situationen einbringen, um die Idee zu testen.

Analog zu den selbst erfundenen Aufgaben im Schritt 6 von Handeln vorbereiten können konstruierte Beispiele genutzt werden, um das sich entwickelnde Vorgehen zu testen. Im Gegensatz zu Handeln vorbereiten, wo von der Lehrperson ein bewährtes Vorgehen eingeführt wird und es im Wesentlichen darum geht, dass die Lernenden es sich zu eigen machen, sollten hier auftretende Schwierigkeiten auch genutzt werden, um das Vorgehen im Detail zu verbessern.

Zu Schritt 5: Anwendungsfragen und Anwendungsprobleme klären

Und auch hier ist es selbstverständlich nicht damit getan, dass man das Gefühl hat, das Problem grundsätzlich im Griff zu haben. In diesem Fall ist dieser Punkt sogar besonders wichtig, da es ja nicht nur darum geht, Anwendungsfragen und Anwendungsprobleme eines an sich bewährten Vorgehens zu klären. Wurde kein bereits bestehendes Verfahren gefunden und musste ein neues entwickelt werden, ist noch nicht sichergestellt, dass dieses Verfahren so überhaupt anwendbar ist. Im günstigsten Fall entwickelt sich dieser Schritt zu einem eigentlichen Projekt in Zusammenarbeit mit einem oder mehreren Betrieben, bei dem sich unter anderem die Schritte 3 bis 5 zyklisch mehrmals wiederholen.

Im CAD-Beispiel könnte an dieser Stelle ein strukturiertes und von allen als brauchbar eingeschätztes Vorgehen zum Auffinden von Problemstellen vorliegen. Dann würde es nun darum gehen, dass Lernende und Lehrperson es für einige Zeit bei ihrer alltäglichen Arbeit einsetzen und anschliessend ihre Erfahrungen diskutieren. Sicher ist es sinnvoll, wenn sie sich darüber hinaus am Arbeitsplatz mit Kolleginnen und Kollegen austauschen.

 

Im Falle des Roboterbeispiels kann an dieser Stelle eigentlich nur ein Projekt mit einem oder mehreren Lehrbetrieben weiterhelfen. Es würde also darum gehen, die in der Schule gemachten Überlegungen vorzustellen und abzuklären, ob und unter welchen Umständen Interesse an einem derartigen Projekt besteht.

A5.4 Unrealistisch?

Man kann sich die Frage stellen, inwiefern das diesem Rezept zugrunde liegende Szenario für den schulischen Unterricht in der Berufsbildung heute und/oder in Zukunft überhaupt realistisch ist.

Das CAD-Beispiel hat sich genau so zugetragen – bis zu dem Punkt, wo die Lernende der Lehrperson demonstriert, wie sie mittels des CAD-Programms die Höhe der Decke misst. Das skizzierte weitere Vorgehen (die Frage der Lehrperson und die gemeinsame Entwicklung eines Vorgehens) bleibt im Rahmen dessen, was auf der Stufe berufliche Grundbildung möglich ist. Und da ein echtes, akutes Problem gelöst wird, ist die dafür benötigte Zeit sicher gut investiert (ähnlich: B2 Randumfang einstellen).

Etwas anders liegt das Roboterbeispiel. Hier entwickelt sich im Extremfall ein umfangreicheres Projekt unter Einbezug mehrerer Betriebe und verschiedener Fachpersonen etwa aus einer Fachhochschule oder einer Universität. Auch für die berufliche Grundbildung ist dies denkbar. Beispielsweise führten bereits 2016 die Gewerblich-industrielle Berufsfachschule Liestal mit Lernenden in Automobilmechatronik ein Projekt zum Thema «Elektroautos» durch, obwohl dieses Thema laut Bildungsplan damals noch nicht zur Diskussion stand (EBL 2016). Realistischer sind solche ausgewachsenen Projekte, bei denen sowohl Teilnehmende wie auch Dozentinnen und Dozenten Neuland betreten, wohl eher auf der Ebene höhere Berufsbildung.

Wird ein Thema nicht im Bildungsplan berücksichtigt und folglich auch in der Schlussprüfung (QV) nicht geprüft, fragt sich, wie Lehrpersonen legitimieren können, trotzdem darauf im Unterricht einzugehen (C8 Gewisse Ungewissheit). Diese Frage stellt sich allerdings in der Berufsbildung immer wieder. Bereits 1995 waren Lehrpersonen für die Ausbildung medizinisch-technische Radiologieassistentin/Radiologieassistent mit dem Problem konfrontiert, dass im damals gültigen Ausbildungsreglement (Schweizerisches Rotes Kreuz SRK 1985) computerbasierte Verfahren wie Computertomografie etc. mit keinem Wort erwähnt wurden, ihre Lernenden diese aber an ihrem Arbeitsplatz ständig antrafen. 1998 reagierte man darauf, indem man ein neues, technologieneutrales Reglement erstellte. Dort hiess es neu unter anderem: «Analysiert Ursachen, welche die Qualität der Apparate, Verfahren und Bilder verändern, und trifft die entsprechenden Massnahmen» (SRK 1998, S.19). Dies gab den Lehrpersonen die Möglichkeit, flexibel auf technologische Neuentwicklungen und neue Situationen zu reagieren, und dürfte ein gültiges Bildungsziel bleiben, solange Röntgenfachpersonen mithilfe von Apparaten und Verfahren Bilder herstellen. Will die Berufsbildung angesichts einer sich beschleunigenden Technologieentwicklung flexibel bleiben, sind nicht nur die Lehrpersonen gefordert, flexibel auf Neues und Unerwartetes zu reagieren, sondern auch Reglemente, Verordnungen und Bildungspläne müssen so angepasst werden, dass sie solche Flexibilität zulassen beziehungsweise sogar fordern.

A5.5 Erklären statt handeln

A5 Das gemeinsame Lernprojekt und A3 Phänomene einordnen stellen Variationen von A1 Handeln vorbereiten dar. Man kann sie problemlos kombinieren und anstelle einer neuen Vorgehensweise gemeinsam ein neues Erklärungsmuster entwickeln (Ansätze zu einem Beispiel: B8 Wareneingang). Alle hier zu den einzelnen Punkten gemachten Überlegungen behalten auch in diesem Fall ihre Gültigkeit.

A5.6 Erwähnte Literatur

Weber, A. (2004). Problem-Based Learning. Ein Handbuch für die Ausbildung auf der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe. Bern: hep verlag.

EBL (2016). EBL & GiBL machen gemeinsame Sache. Pressemitteilung Genossenschaft Elektra Baselland. https://www.ebl.ch/de/unternehmen/newsroom/pressemitteilungen/EBL-und-GiBL-machen-gemeinsame-Sache.html (15.03.2019).

SRK (1985). Bestimmungen und Richtlinien für die vom Schweizerischen Roten Kreuz anerkannten Ausbildungsstätten mit einem Ausbildungsprogramm für medizinisch-technische Radiologieassistentinnen und -assistenten. https://www.redcross.ch/de/file/15772/download (15.03.2019).

SRK (1998). Bestimmungen des Schweizerischen Roten Kreuzes für die Ausbildung von Fachleuten in medizinisch-technischer Radiologie. https://www.redcross.ch/de/file/15773/download (15.03.2019).

A6 VARIATIONEN ZU ERFAHRUNGEN REFLEKTIEREN

Viele Kapitel dieses Buches sind so geschrieben, dass Sie sie unabhängig voneinander lesen können. Dieses Kapitel hingegen ist vermutlich nur verständlich, wenn Sie vorher A2 Erfahrungen reflektieren gelesen haben.

A2 Erfahrungen reflektieren geht davon aus, dass ein geeignetes Raster zum Analysieren der Geschichte vorhanden ist, mit dem die Lehrperson vertraut ist. Im Beispiel zu Erfahrungen reflektiere handelte es sich um das Vier-Ohren-Modell von Schulz von Thun. Es spielt keine Rolle, wer dieses Raster in Schritt 4 einbringt. Wenn es die Lernenden selbst sind, die sich daran erinnern und das Raster im neuen Zusammenhang erproben wollen, dann umso besser. Allerdings kann die Lehrperson die Darstellung des Rasters in Schritt 4, die Beschreibung der Geschichte mithilfe des Rasters in Schritt 5 und die Analyse in Schritt 6 nur wie vorgesehen leiten, wenn sie mit dem Vier-Ohren-Modell ausreichend vertraut ist. Ist dies nicht der Fall, ergeben sich neue Herausforderungen. Dabei lassen sich verschiedene Varianten unterscheiden:

A6.1 Ein der Lehrperson unbekanntes Raster

Eine erste Variante ergibt sich, wenn die Lernenden in Schritt 4 ein Raster einbringen, das der Lehrperson nicht bekannt ist. Nehmen wir an, eine Lernende hat eine Geschichte über ein schwieriges Gespräch mit einem Kunden erzählt (Schritt 2) (B4 Reklamationsgespräch), und man hat sich darauf geeinigt, diese ausgehend von der Frage «Wie kann es zu so einem Gespräch kommen?» zu analysieren (Schritt 3). Als Einleitung zu Schritt 4 fragt die Lehrperson die Lernenden nach einem nützlichen Raster. Mehrere Lernende schlagen das Vier-Ohren-Modell vor, das sie gerade kürzlich bei einer anderen Lehrperson behandelt haben (Schulz von Thun 1981).

Ist die Lehrperson mit diesem Modell nicht vertraut, kann sie selbstverständlich ein anderes geeignetes Raster vorschlagen und auch durchsetzen. In diesem Fall wäre es aber schade, diese Gelegenheit nicht zu nutzen, um so den Lernenden zu helfen, das in der Schule Gelernte mit ihren Erfahrungen aus dem Betrieb zu verbinden.

Lässt sich die Lehrperson auf das ihr unbekannte Raster ein, ergibt sich eine Verschiebung ihrer Rolle. Sie wird zur (Mit-)Lernenden und kann den Lernenden als Modell effizientes Lernen vorleben (A4 Die Lehrperson als Lernmodell). Das verändert beziehungsweise ergänzt ihre Aufgaben in den einzelnen Schritten etwas.

Schritt 4: Wahl des Rasters

Sinnvollerweise fragt die Lehrperson die Lernenden zuerst nach den Gründen, warum das von ihnen vorgeschlagene Raster im Zusammenhang mit der Geschichte und der Frage nützlich ist. Im Beispiel könnte darauf die Antwort der Lernenden sein: Laut Lehrperson in der Schule eignet sich das Modell von Schulz von Thun dazu, unglücklich verlaufene Gespräche zu verstehen. Überzeugt die Begründung, dann steht dem Einsatz des Rasters nichts mehr im Wege. Fällt die Begründung nicht überzeugend aus, kann man zusammen entscheiden, ob man es trotzdem mit diesem Raster versuchen will, um so Erfahrungen zu seinen Einsatzmöglichkeiten zu sammeln.

Darstellung des Rasters

Da die Lehrperson das Raster nicht kennt, ist es an den Lernenden, es vorzustellen. Der Lehrperson kommt hier die Rolle eines beziehungsweise einer aktiven Lernenden zu. Sie kann Fragen stellen, wenn ihr etwas unklar erscheint, und kann helfen, als Protokoll eine übersichtliche Darstellung des Rasters zu erstellen, sollten die Lernenden so etwas nicht schon mitbringen. Im Beispiel mit dem Vier-Ohren-Modell haben die Lernenden möglicherweise ihre Unterlagen aus dem Unterricht mit der anderen Lehrperson Fachunterricht mit einer grafischen Darstellung dabei. Vielleicht erzählen sie aber nur aus dem Gedächtnis und sind froh, wenn ihnen die Lehrperson hilft, die einzelnen Stücke zu einem Ganzen zusammenzusetzen.

Schritt 5: Einfügen der Geschichte in das Raster

Typischerweise führt Schritt 5 dazu, dass bei der Zuordnung der Geschichtselemente zu Aspekten des Rasters relevante Details des Rasters weiter geklärt werden. Hier sind es die Lernenden, die als Quelle solcher Klärungen dienen. Die Rolle der Lehrperson besteht darin, durch Fragen darauf zu bestehen, dass keine Zuordnung ohne ausreichendes Verständnis des entsprechenden Aspekts des Rasters vorgenommen wird. Im Beispiel dürfte das dazu führen, dass im Verlauf der Arbeit deutlicher wird, wofür jedes der vier Ohren steht.

Verfügen die Lernenden zu wenig Wissen über das Raster, kann die Lehrperson eine Liste offener Fragen führen und anschliessend beim Schritt 8 Konsequenzen die Klärung dieser Fragen als Auftrag zu formulieren. Im Beispiel könnte eine Konsequenz daraus sein, dass die Lernenden die Lehrperson befragen, mit der sie das Vier-Ohren-Modell behandelt haben. Eine andere Konsequenz könnte sein, dass sich alle Beteiligten (inklusive der Lehrperson) vertieft in das Vier-Ohren-Modell einlesen.

Schritt 6: Analyse

Analog zu Schritt 5 übernehmen die Lernenden die Aufgabe, den normativen Anspruch des Rasters zu verdeutlichen. Die Lehrperson hilft dabei als aktive Lernende. Konnten die Lernenden beispielsweise gut vermitteln, wofür die einzelnen Ohren stehen, sind nun aber nicht in der Lage darzustellen, was denn aus der Sicht des Vier-Ohren-Modells ein gutes Gespräch wäre, notiert das die Lehrperson als offene Frage für die Konsequenzen in Schritt 8.

Allgemeines zum Ablauf

Bringen die Lernenden genügend Wissen zum Raster mit, kann Erfahrungen reflektieren mit einem der Lehrperson unbekannten Raster erfolgreich ablaufen. Unter Umständen führt dieses Szenario sogar dazu, dass die Lernenden sich intensiver mit dem Raster auseinandersetzen, da sie erleben, wo auch ihre Lehrperson als Modelllernende Fragen hat und wie sie vorgeht, um diese Fragen zu klären (Hintergrund: C8 Gewisse Ungewissheit).

Stellt sich heraus, dass zu wenig Wissen vorhanden ist, kann man den Prozess unterbrechen. Es wird vereinbart, wer welche Zusatzinformationen beschafft, und man kommt zu einem späteren Zeitpunkt darauf zurück. Bei gut dokumentierten Rastern wie beim Vier-Ohren-Modell kann die Informationsbeschaffung auch in einer kurzen Internetrecherche bestehen, die gemeinsam ausgewertet wird.

Wie immer besteht auch hier eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass man im Verlauf der Analyse in Schritt 6 zum Schluss kommt, dass das Raster nicht wirklich hilfreich ist, um die Problematik der Geschichte zu analysieren. Dann besteht der Lerngewinn vor allem darin, dass man etwas über die Grenzen des möglichen Einsatzgebietes des Rasters erfahren hat.

BEISPIEL: UMGANG MIT EINEM UNBEKANNTEN RASTER

In einer Weiterbildung für Berufsbildnerinnen und Berufsbildner im Gesundheitsbereich habe ich als Dozent selbst erlebt, wie es ist, wenn Teilnehmende ein Raster einbringen, das ich nicht kenne. Das Thema der Veranstaltung lautete «Lernförderung in Mathematik und Sprache». Die betreffende Geschichte trug den Titel «Eine Lernende ‹muss› in den Stützkurs». Auszugsweise ging es dabei um Folgendes:

 

Eine Lernende fällt in einem Sprachstützkurs dadurch auf, dass sie überhaupt nicht motiviert ist, sich zu verbessern. Ihre Leistungen sind sehr schwach. Wird sie beispielsweise aufgefordert, etwas schriftlich zu begründen, umfasst ihre «Begründung» kaum einen ganzen Satz. Die Leitende des Stützkurses hat unter anderem den Eindruck, dass es der Lernenden völlig egal ist, ob sie die gemeinsam gesetzten Ziele erreicht. Auch Lob, wenn es einmal geklappt hat, scheint die Lernende völlig kaltzulassen. Zudem ist die Mutter der Lernenden offenbar eher gegen den Besuch des Stützkurses.

Als Frage wurde gewählt: «Welche Rahmenbedingungen seitens der Lernenden müssen gegeben sein, damit ein Stützkurs sinnvoll ist?» Selbst fiel mir dazu kein passendes Raster ein. Als ich die Gruppe danach fragte, schlug ein Teilnehmer das Konzept Minimalintervention vor.

Ich kannte dieses Konzept nicht und fragte ihn daher zuerst einmal, warum er das Konzept für nützlich halte. Die Begründung lautete: Bei der Minimalintervention wird schrittweise vorgegangen, und bei jedem Schritt wird reflektiert, ob die Voraussetzungen für den Fortführung der Intervention erfüllt sind.

Wir beschlossen darauf, es einmal mit diesem Konzept zu versuchen. Der Teilnehmer stellte uns die fünf Phasen Problembewusstsein, Motivation, Probieren, Umsetzung vorausdenken und Dabeibleiben vor. Interessant waren dabei die Abbruchkriterien vor allem für die ersten beiden Phasen: 1) Die Klientin beziehungsweise der Klient zeigt kein Problembewusstsein, 2) sie oder er kann keine Handlungsabsicht formulieren oder akzeptieren oder ist nicht motiviert, etwas zu tun. Dem Seminar schien das Raster übersichtlich und einfach verständlich, und wir konnten zu Schritt 5 Einfügen und Schritt 6 Analyse übergehen.

Weitere Beispiele zu Erfahrungen reflektieren aus derselben Weiterbildung finden sich unter http://hrkll.ch/WordPress/lehrerbildung/schienen/lernfoerderung/.

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