Wirtschaftsgeographie

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Teil 1: Einführung


1Zu einer Geographie der Wirtschaft
1.1Warum eine Geographie der Wirtschaft?

Seit über 2000 Jahren ist (trotz Schwierigkeiten bei der Messung) eine wachsende weltweite Wirtschaft zu beobachten (→ Abb. 1.1). Die Geschichte dieser Entwicklung lehrt uns, dass sich ökonomisches Wachstum weder kontinuierlich noch an allen Orten gleichförmig vollzieht. Im Wachstumsbericht der Weltbank analysiert eine Forschergruppe, angeführt von dem Wirtschaftsnobelpreisträger Herbert Spence, die Ursachen starken Wachstums (World Bank 2008). Hierbei zeigte sich, dass die Länder Botswana, Brasilien, China, Hong Kong, Indonesien, Japan, Korea, Malaysia, Malta, Oman, Singapur, Taiwan und Thailand über einen Zeitraum von bis zu 25 Jahren durchgängig Wachstumsraten ihres Bruttoinlandsprodukts von jährlich über 7 % aufwiesen. Können wir durch eine Analyse dieser Beispielländer das Geheimnis allgemeinen wirtschaftlichen Wachstums ergründen? Die kritische Lektüre des Berichts legt eher nahe, dass die Hoffnung auf ein allgemeines Wachstumsrezept unerfüllt bleiben wird (Easterley 2008). Bei vielen Ländern hat der Boom inzwischen nachgelassen und die Rahmenbedingungen des Wachstums sind sehr spezifisch (Acemoglu et al. 2005). Die Wirtschaftsgeschichte ist voller Beispiele dafür, dass einige Regionen einen lang anhaltenden (wenngleich nicht endlosen) wirtschaftlichen Aufschwung erfahren, während andere stagnieren oder schrumpfen (Maddison 2007; Landes 2009). Keine Region der Erde hat über die gesamte jüngere Geschichte eine kontinuierliche wirtschaftliche Entwicklung genossen. So sehr uns die Theorien der Wirtschaftswissenschaften die Regelhaftigkeiten des Ökonomischen lehren, so zeitlich unbeständig und geographisch unterschiedlich entfaltet sich die wirtschaftliche Entwicklung in der Realität.


Abb. 1.1 Die Entwicklung des Weltprodukts absolut und pro Kopf in US-Dollar seit Christi ­Geburt (nach Maddison 2007; World Bank 2008)

Der spezifische geographische Kontext ist Quelle ökonomischer Bedingungen und Lebenssituationen, die zu regionalen Ungleichheiten führen und unterschiedliche Chancen gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklung zur Folge haben (Storper 2009). Ein Mensch, der in den USA geboren wird, wird heute statistisch gesehen im Durchschnitt ein hundertfach größeres Einkommen erzielen und 30 Jahre länger leben als ein Mensch in Sambia. Ein Berufstätiger wird in Bolivien nur ein Drittel des durchschnittlichen Einkommens erzielen, das ihn in den USA erwarten würde (World Bank 2009). Regionen unterscheiden sich unter anderem in ihrem Ressourcenreichtum, ihrer Produktivität und ihrem wirtschaftlichen Wohlstand. Standorte und Regionen stehen darüber hinaus in vielfältigen wirtschaftlichen Beziehungen. Natürliche Ressourcen, Arbeitskräfte und Arbeitsplätze, Wissen, Kapital und Konsumenten sind geographisch ungleich verteilt. Für den Wirtschaftsprozess, d. h. die Herstellung und Bereitstellung von Gütern zur Befriedigung menschlicher und gesellschaftlicher Bedürfnisse, müssen einerseits verschiedenste Ressourcen kombiniert werden. Andererseits bedarf es der Verteilung und Bereitstellung der Güter an die Endverbraucher, die diese wiederum an möglicherweise anderen Orten konsumieren als dort, wo sie sie beziehen. Da diese Faktoren und Güter weder gleichmäßig verteilt, noch gleichermaßen mobil sind, besteht eine Herausforderung darin, die Beschaffung, Kombination und Verteilung sowohl innerhalb als auch zwischen Standorten, Städten und Gemeinden, Regionen und Ländern zu organisieren.

Die Geographie interessiert sich für das Verhältnis zwischen Standort, Territorium und Gesellschaft. Wirtschaftsgeographen im Besonderen fragen nach der spezifischen räumlichen Organisation wirtschaftlichen Austauschs und sozialer Institutionen im Produktionsprozess und interessieren sich für die räumliche Differenzierung der Art und Weise, wie Wirtschaft in lokalisierten Lebensverhältnissen praktiziert wird (vgl. auch Glückler 2011 b). Im Fokus steht hierbei die Frage, wie sich Unterschiede in den wirtschaftlichen Strukturen und Prozessen zwischen Standorten und Territorien erklären lassen. In einer vormodernen Gesellschaft lässt sich eine Begründung relativ einfach durch die überwiegend lokale Lebens- und Wirtschaftsweise finden. Im Zug der Modernisierung ermöglichen neue Transport- und Kommunikationstechnologien eine zunehmende geographische Entankerung der Lebensverhältnisse (Giddens 1997; Werlen 1999). Menschen tauschen Waren, Informationen und Kapital zu geringeren Kosten über zunehmend große Entfernung aus. Auch die Mobilität der Menschen wird größer, sodass Erfahrungen und Begegnungen an vielen unterschiedlichen Orten leichter und häufiger zu realisieren sind. Diese Entkopplung sozialer Beziehungen von der gemeinsamen physischen Anwesenheit (Ko-Präsenz) verwandelt das Verhältnis von Standort, Territorium und Gesellschaft in einen zunehmend komplexen Zusammenhang. Manche erwarten mit der digitalen Revolution das Ende der „Tyrannei der Distanz“ und eine „flache Welt“, die keine oder kaum noch räumliche Unterschiede oder Begrenzungen wirtschaftlichen Handelns aufweist (Cairncross 1997; Friedman 2005). Jedoch stellen sich in der Praxis ständig neue Fragen in Bezug auf Lokalität und Mobilität, neue Formen lokaler Spezialisierung, regionale Disparitäten und globale Beziehungen (Giese et al. 2011). Eine räumliche Perspektive ist für die Analyse ökonomischer Beziehungen und ökonomischen Handelns weiterhin zentral, denn die Erde ist eben keine gleichförmige Scheibe. Viele Fragen, die unsere gegenwärtige Gesellschaft herausfordern, sind zutiefst geographische Problemstellungen.

Abhängigkeit des Menschen von natürlichen Rohstoffen. Natürliche Rohstoffe, wie z. B. Öl, Kupfer oder Gas, sind an bestimmte Standorte gebunden – sie sind lokalisiert und ihr Vorkommen ist geographisch und mengenmäßig begrenzt. Da wir diese materiellen Ressourcen ­benötigen, um aus ihnen Güter herzustellen, ergeben sich geographische Probleme der Verfügbarkeit, des Zugangs und der Mobilisierung dieser Rohstoffe. Mit der wirtschaftlichen Nutzung natürlicher Rohstoffe gehen jedoch viele gesellschaftliche und ökologische Herausforderungen einher, die im Zuge der Globalisierung und einer zunehmend globalen Zivil- und Risikogesellschaft (Beck 1997) immer mehr an Brisanz gewinnen (Soyez und Schulz 2002; Braun et al. 2003; Oßenbrügge 2007; Knox-Hayes 2016).

Natürliche regionale Unterschiede. Standorte weisen auf der Erdoberfläche infolge der unterschiedlichen topographischen, klimatischen, vegetativen und andere naturräumliche Bedingungen sehr unterschiedliche natürliche Kostenvorteile auf, sofern diese für ökonomisches Handeln relevant werden. Allein auf die Variation dieser natürlichen Bedingungen (und der entsprechenden Kostenstrukturen) ist ein Teil der ungleichen Wirtschafts- und Siedlungsverteilung zurückzuführen (Ellison und Glaeser 1999; Roos 2005). Auf globaler Ebene lassen sich erstaunlich prägende Unterschiede der wirtschaftlichen Entwicklung beobachten (Gallup et al. 1999): Erstens haben fast alle Länder in den mittleren Breiten eine höhere wirtschaftliche Produktivität und einen größeren wirtschaftlichen Wohlstand als die Länder der Tropen. Zweitens erzielen küstennahe Regionen weltweit höhere Einkommen als küstenferne Regionen oder Binnenstaaten. Auch auf regionaler und lokaler Ebene lassen sich räumlich differenzierte Nutzungen und Standortstrukturen erkennen, die aus Unterschieden natürlicher Zugangsbedingungen und anderer Kostenvorteile resultieren. In manchen Branchen bestimmen natürliche Kostenvorteile oder Beschränkungen die Standortverteilung von Unternehmen in erheblichem Maß. So ist z. B. die effiziente Stromgewinnung aus Windenergie und Wasserkraft trotz technologischer Fortschritte auf klimatische und topographische Gunstlagen angewiesen. Die räumliche Verteilung von Kraftwerken zur Stromgewinnung aus regenerativen Energien lässt sich in Deutschland geradezu idealtypisch auf natürliche Kostenvorteile zurückführen (Klein 2004; Handke und Glückler 2010). Wichtig bleibt jedoch festzustellen, dass die natürlichen Bedingungen wirtschaftliche Strukturen keineswegs determinieren. So gibt es beispielsweise trotz potenzieller Kostennachteile wichtige Standorte der chemischen Produktion auch weit von den Küsten entfernt (Beispiel: BASF in Ludwigshafen) oder wichtige Regionen des Gemüseanbaus trotz vergleichsweise ungünstiger klimatischer Bedingungen (Beispiel: Niederlande).

Regionale Disparitäten und regionale Entwicklung. Nicht alle regionalen Unterschiede repräsentieren zugleich bedeutsame regionale Disparitäten im Sinne einer Abweichung gesellschaftlich-ökonomisch relevanter Merkmale, wie z. B. Arbeitslosigkeit, Einkommen oder Bildungszugang, von einer als fair oder angemessen erachteten Referenzverteilung (Biehl und Ungar 1995). Der Zusatz der gesellschaftlichen Relevanz ist wichtig, um diejenigen regionalen Unterschiede zu betonen, die sich auf die als notwendig angesehene Lebensqualität und die Lebenschancen der Bevölkerung auswirken. Die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse bzw. die Stärkung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalts bildet auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG Art. 106, Abs. 3) eine wichtige Norm der Gesellschaftsordnung. In der Praxis ist es eine Herausforderung, regionale Disparitäten auszugleichen. Auch nach bald 30 Jahren der Wiedervereinigung sind die regionalen Unterschiede der wirtschaftlichen Leistungskraft und des Einkommens pro Einwohner zwischen Ost und West erheblich und reichten im Jahr 2014 von einem Minimum von 11 300 Euro pro Einwohner im Zwickauer Land bis zu einem Maximum von über 80 000 Euro pro Einwohner im Landkreis München. Der Landkreis München erwirtschaftete demnach pro Kopf das Siebenfache und die kreisfreie Stadt Ingolstadt gar das Achtfache der Region Südwestpfalz (Destatis 2017). Vor- und Nachteile der natürlichen Bedingungen sagen dabei nicht immer etwas über die wirtschaftlichen Entwicklungschancen einer Region aus. So leiden heute viele Länder, die reich an natürlichen Rohstoffvorkommen sind, an deutlich geringerem Wohlstand als manche ressourcenärmere Staaten – ein Zusammenhang, der manchmal als Ressourcenfluch bezeichnet wird (Sachs und Warner 1999), der jedoch im Einzelfall einer spezifischen Erklärung bedarf.

 

Räumliche Agglomeration und Metropolen. Über natürliche Standortvorteile hinaus existieren sogenannte dynamische geographische Vorteile. Sie sind unabhängig von physischen Gegebenheiten und resultieren aus der Dynamik und den Wechselwirkungen des Standortverhaltens von Unternehmen sowie aus den politisch-institutionellen Rahmenbedingungen, die aus den durch andere Unternehmen und Akteure verursachten Bedingungen an einem Standort als Vorteile (oder auch als Nachteile) erwachsen. Sogenannte Externalitäten begründen Ballungen von Industrien an bestimmten Orten und begünstigen die Spezialisierung der regionalen Wirtschaftsstruktur auf bestimmte Industrien. Die aus geographischer Dichte entstehenden Kontakt- oder Fühlungsvorteile spielen eine wichtige Rolle. Sie umfassen eine größere Häufigkeit und Vielfalt persönlicher Begegnungen, den erleichterten Wissensaustausch, Ersparnisse durch die gemeinsame Nutzung spezialisierter Infrastrukturen und vieles mehr. In zahlreichen Regionen der Erde haben sich mit großen Metropolen und Megastädten Zentren der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung gebildet. Und auch jenseits der städtischen Agglomerationsräume sind lokale Produktionssysteme und Technologiecluster entstanden, die von weltweiter Bedeutung für Innovationsprozesse und Technologieentwicklung in einer Industrie sind, wie z. B. der Technologiestandort Silicon Valley in Kalifornien, USA.

Von Lokalisation zu Allokation. Schließlich ergeben sich wichtige Fragen bezüglich der geographischen Beziehungen im Wirtschaftsprozess und bezüglich der Veränderungen der Mobilität von wirtschaftlichen Akteuren, von materiellen Ressourcen, von Kapital und von Gütern in einer zunehmend global integrierten Weltwirtschaft. Aus der Analyse der geographischen Standorte der Wirtschaft ergeben sich Herausforderungen an eine effektive oder angemessene Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen, Aktivitäten und Beziehungen. So suchen Wirtschaftsgeographen Antworten auf Fragen der Wahl und Erschließung von Standorten, der Organisation räumlicher Arbeitsteilung, der Mobilität von Menschen, Kapital und Gütern, der flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung mit Gütern des täglichen bis langfristigen Bedarfs, der Erklärung regionaler Unterschiede und Besonderheiten der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Wirtschaftsstrukturen sowie der Erklärung regionalwirtschaftlicher Entwicklung im Zeitablauf. Wirtschaftsgeographie ist eine empirische Wissenschaft, die Organisationsprobleme in räumlichen Kontexten unter spezifischen politisch-institutionellen Rahmenbedingungen beschreibt, analysiert und zur Entwicklung von Lösungen beiträgt. Da wirtschaftliche Beziehungen zumeist geographisch unterschiedlich und zeitlich unbeständig sind, versprechen allgemeine Erklärungs- und Gestaltungsmodelle wirtschaftlicher Entwicklung kaum ein tieferes Verständnis der Vielfältigkeit erfahrungsweltlicher Wirtschaftsgeographien. Daher ist es notwendig – so das Argument dieses Buchs – eine geographische Perspektive des Wirtschaftsgeschehens zu entwickeln, die neben abstrakten Regelhaftigkeiten wirtschaftlichen Austauschs die vielfältigen, kontextspezifischen Mechanismen und Entwicklungen in konkreten wirtschaftlichen Beziehungen zu verstehen sucht. Denn die Folgen einer allzu schematischen Anwendung allgemeiner Prinzipien auf spezifische Entwicklungsbedürfnisse, wie z. B. die rigorose Umsetzung des Washington Konsens der Weltbank gegenüber Entwicklungsländern, tragen nur selten Früchte (Stiglitz 2006), wie auch das folgende an reale Erfahrungen angelehnte hypothetische Beispiel illustriert.

1.2Illustration: Wie funktioniert regionale Wirtschaftsentwicklung?

Unternehmen sind an verschiedenen Standorten unterschiedlich erfolgreich. Wenn die Unternehmen einer Region RegioTopia ein hohes Wachstum erzielen, die Unternehmen in zwei anderen Regionen RegioCopia und RegioNova hingegen schrumpfen, entstehen räumliche Disparitäten. Um diese räumlichen Entwicklungsunterschiede auszugleichen, können staatliche und private Akteure eine Förderpolitik verfolgen, die Unternehmensansiedlungen und -neugründungen un­ter­stützt. Aber woran sollen die Regionen RegioCopia und RegioNova ihre Förderpolitik orientieren?

Vorher. RegioCopia mag zunächst eine Expertengruppe in die erfolgreiche Nachbarregion RegioTopia entsenden, um die Wirtschaftsstruktur zu untersuchen. Dort gibt es große Universitäten, ein modernes Verkehrsnetz, niedrige Steuern und moderate Lohnkosten, verfügbares Investitionskapital sowie einen hohen Anteil von Managern und hoch qualifiziertem Personal. Auch wird die Lebensqualität der Bewohner als sehr hoch eingeschätzt. Aufgrund dieser Analyse kommt die Expertengruppe zu dem Ergebnis, dass die Unternehmen in RegioCopia mit den gleichen Faktoren versorgt werden müssen wie in RegioTopia, um einen ähnlichen Anstieg der Betriebsgründungen und Innovationsaktivitäten der Unternehmen zu erreichen. Nur wenn die Rahmenbedingungen der erfolgreichen Region auch in RegioCopia hergestellt sind – so die Expertengruppe –, wird diese Erfolg haben. Aus diesem Grund beschließt RegioCopia die Einrichtung eines Gründerzentrums, um neuen Unternehmen genau diese Bedingungen zu bieten [. . .].

RegioNova hat ebenfalls schlechte Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum. Sie liegt abseits der großen Ballungsräume in der Peripherie, ist dünn besiedelt und nur wenige Industrien haben sich hier niedergelassen. Die heimische Universität hat sich in elektronischer und elektrotechnischer Forschung einen Namen gemacht, sodass der Region zumindest junge Studenten für die Zeit ihrer Ausbildung zuwandern. Darüber hinaus verfügt die Region über keine besonderen Ressourcen. Sie liegt in einer kargen Berglandschaft, die nicht einmal Touristen anzieht. Die lokale Regierung sieht sich machtlos und entwickelt keine konkreten Förderkonzepte. Unternehmen scheinen in RegioNova nicht die nötigen Faktoren zu finden, die sie für eine Standortansiedlung benötigen [. . .].

Nachher. [. . .] Inzwischen hat RegioCopia Millionen von Fördergeldern in die Errichtung eines Gründerzentrums investiert und zahllose Kooperationen mit Investoren begründet, die große Mengen an Risikokapital bereithalten. Das Gründerzentrum besitzt eine gute technische Infrastruktur und hält preiswerte Flächen für Existenzgründer vor. Darüber hinaus hat die Wirtschaftsförderungsgesellschaft eine massive Anwerbungspolitik gegenüber Unternehmen aus anderen Regionen betrieben. Doch die Politik zeigt keine Wirkung. Die meisten Unternehmen des Gründerzentrums haben schon früher in der Region existiert oder arbeiten in neuen Zweigen bereits bestehender Unternehmen. Außerdem sind noch zahlreiche Flächen des Zentrums ungenutzt. Auch die wenigen neu angesiedelten Unternehmen haben keine lokalen Verflechtungen mit Zulieferern, Dienstleistern oder dem Arbeitsmarkt aufgebaut. Obwohl RegioCopia mit Erfolgsfaktoren ausgestattet wurde, hat sich die Gründungsquote kaum verändert.

[. . .] In RegioNova haben sich einige Hochschulabsolventen mit einer wirtschaftlichen Idee selbstständig gemacht. In den Labors der Universität haben sie an Experimenten mit Elektronikkomponenten teilgenommen und entwickeln nun in Zusammenarbeit mit ihrem Institut EDV-Anwendungen. Ein Unternehmen in der Umgebung findet Interesse an der Idee und bietet seine Mitwirkung bei der Weiterentwicklung an. Nach wenigen Monaten gelangt das Produkt auf den Markt und findet reißenden Absatz. Das schnelle Wachstum des jungen Betriebs wird durch junge, flexible Mitarbeiter aus der Region getragen. Ihr Erfolg spricht sich herum und Studenten, die bei ihnen ausgeholfen haben, gründen partnerschaftlich eigene Existenzen. Die Pro­dukte der wachsenden Anzahl von start-­up-Unternehmen sind miteinander verbunden, sodass die Mitarbeiter der Unternehmen sich in ständigen Austausch- und Lernprozessen befinden. Es herrscht eine hohe Fluktuation der Arbeitsplätze mit kurzen Verweildauern der Mitarbeiter in den einzelnen Betrieben. Die Zahl der Arbeitsplätze steigt kontinuierlich an und es werden ständig neue, innovative Produkte im Bereich der Hard- und Software entwickelt. RegioNova wird zu einem Innovationszentrum und zieht Talente aus anderen Regionen an.

Erklärung. Aus der Entwicklung der Region RegioNova kann man keineswegs ableiten, dass eine gute Idee allein bereits ausreicht, um Unternehmen einer Region oder gar die ganze Region erfolgreich zu machen. Ferner lässt sich auch nicht schlussfolgern, dass eine regionalpolitische Förderung eigentlich überflüssig sei, weil sich der Erfolg ohnehin von selbst einstellen würde. Nein, aus der Entwicklung von RegioNova kann man vor allem lernen, dass sich der Erfolg nicht aus Strukturfaktoren und Rahmenbedingungen erklärt, sondern dass konkrete Ideen, Initiativen und gemeinsame Lern- und Arbeitsprozesse aufeinander aufbauen und so das Wachstum von Grund auf ermöglichen.

Aber warum war die Förderung in RegioCopia so erfolglos? Es wurden Faktoren aus einer erfolgreichen Region nachgeahmt und nachgebildet. Die Förderpolitik wurde in einer Analyse begründet, die vermutlich an den eigentlichen Ursachen vorbeizielte und daher keine großen Erfolgsaussichten hatte. Eine derartige Förderpolitik setzt mit ihrem theoretischen Verständnis bei allgemeinen Rahmenbedingungen an und ignoriert den spezifischen ökonomischen und sozialen Kontext sowie die Motive und das situierte Handeln der wirtschaftlichen Akteure. Selbst wenn Kapital und Infrastruktur gegeben sind, so hängt der wirtschaftliche Erfolg von Unternehmen und langfristig auch der von Regionen immer davon ab, was Akteure durch ihre Handlungen aus diesen Möglichkeiten machen. Es gibt keinen Automatismus der Wirtschaftsentwicklung und des wirtschaftlichen Erfolgs.