Wirtschaftsgeographie

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2.3.2Neue relationale Positionen

Seit den 1990er-Jahren sind zahlreiche neue Positionen in der Wirtschaftsgeographie formuliert worden, die relationalen Perspektiven als Gegenpositionen zu konventionellen raumwirtschaftlichen Erklärungsansätzen und Theorien entwickeln und auf ein grundlegendes Verständnis der interdependenten ökonomischen und sozialen Prozesse innerhalb und zwischen räumlichen Kontexten abzielen (Berndt und Glückler 2006; Bathelt und Glückler 2011, Kap. 1 und 12). Drei derartige Positionen werden nachfolgend mit der Milieuschule, dem Ansatz globaler Produktionszusammenhänge und dem Ansatz einer Praxisgeographie kurz diskutiert.

(1) Regionale Innovation in spezifischen Milieus. Die Milieuschule um die Groupe de Recherche Européen sur les Milieux Innovateurs (GREMI) entwickelte in den 1990er-Jahren eine sozialwissenschaftliche Perspektive, um zu erklären, wieso bestimmte Regionen überdurchschnittlich viele Innovationen hervorbringen (Crevoisier 2004). Ihre Erklärung konzentriert sich vor allem auf die Netzwerke kleiner und mittlerer Unternehmen, die unter spezifischen institutionellen Bedingungen in Form eines spezifischen Milieus über Arbeitsmärkte, Materialverflechtungen und Technologie- und Wissensflüsse miteinander verknüpft sind. Räumliche Nähe und das Teilen von Handlungspraktiken basieren auf gleichen Normen, Routinen und einer gemeinsamen Technikkultur und fördern das Entstehen sozialer Beziehungen zwischen Personen und Unternehmen (Camagni 1991 b; Maillat 1998). In einer der konventionellen kostenbasierten Erklärung entgegengerichteten ­Argumentation führen erhöhte Lern- und Anpassungsfähigkeit und Offenheit für neue Entwicklungen zu einer hohen regionalen Innovationskraft. Obwohl spätere Arbeiten auch milieuexterne Beziehungen zu anderen Regionen untersuchen (Ratti et al. 1997), betont die Milieuschule in erster Linie milieuinterne Prozesse (→ Kap. 10.2).

(2) Globale Wertschöpfungsketten und Produktionsnetzwerke. Im Unterschied zur Milieuschule thematisieren Ansätze über globale Warenketten und Produktionsnetzwerke die überregionalen, zum Teil weltweiten Verflechtungen innerhalb von Wertschöpfungsketten, die dazu führen, dass Entscheidungen über Standorte, Technologien und Innovationsprozesse nicht individuell, sondern im Kontext größerer Beziehungsnetzwerke von Unternehmen gefällt werden. Die Technologie-, Markt- und Produktionsbedingungen sind raum- und häufig nationenübergreifend verflochten. In der Praxis lassen sich unterschiedliche Steuerungsformen unterscheiden, die mehr oder weniger marktorientiert, hierarchisch organisiert oder relational auf interdependente Weise integriert sind (Humphrey und Schmitz 2002; Gereffi et al. 2005). Ansätze globaler Produktionsnetzwerke betonen dabei als Einflussfaktoren die Rolle von Machtbeziehungen, die Bedingungen der Wertschöpfung und die Einbettung in sozio-kulturelle Strukturen in verschiedenen Teilen der Welt. Aus einer Akteursnetzwerkperspektive spielen die zentralen Akteure (dominante Unternehmen und Staaten) eine entscheidende Rolle für die Organisation der Netzwerke (Dicken et al. 2001; Henderson et al. 2002; Yeung und Coe 2015). Traditionelle Erklärungsansätze sind demgegenüber kaum in der Lage, derartig komplexe Netzwerkstrukturen und globale Zusammenhänge adäquat zu erklären. Dabei werden globale gegenüber lokalen Einflüssen besonders hervorgehoben (→ Kap. 11.3).

(3) Praxisgeographie. Die Praxisperspektive entwickelt einen relationalen Ansatz, um die binären Kategorien lokaler versus globaler Handlungsbedingungen zu überwinden. Dies geschieht, indem die Handlungspraktiken von Unternehmen und nicht vordefinierte Raumkategorien in den Fokus der Untersuchung gestellt werden (Faulconbridge 2006; 2008; Ibert 2007; Jones 2008). Aufgrund mikro-ökonomischer Untersuchungen gelangt die Praxisgeographie zu der Erkenntnis, dass Internationalisierungsprozesse von Unternehmen in Netzwerke von Beziehungen eingebettet sind, die sich nicht einer spezifischen Raumebene zuordnen lassen und die nicht einer funktionalen Logik folgen. Demzufolge ist beispielsweise Wissen durch Personen, Maschinen und andere Artefakte zwar lokal verankert, aber es lässt sich nicht als fester Wissensbestand einer Person, eines Unternehmens oder eines Territoriums begreifen. Wissen zirkuliert in Kommunikationsprozessen und wird dabei fortlaufend angepasst (Ibert 2007). Es wird durch soziale Praktiken der Interaktion ständig verändert und ist deshalb nur zwischen räumlichen, sozialen und kulturellen Ebenen als relationales Konstrukt zu verstehen. Ähnlich der Proximity School (→ Kap. 4.2) könnte man sagen, dass hierbei unterschiedliche Nähekonzepte ineinandergreifen (Rallet und Torre 1999; 2017; Boschma 2005; Torre und Rallet 2005).

Neben diesen Positionen gibt es noch weitere Ansätze, wie etwa den der kulturellen Geographien der Ökonomie (Berndt und Boeckler 2007; 2009), die eine Verknüpfung zu einer relationalen Perspektive herstellen. Obwohl die dargestellten Positionen kein vollständig konsistentes Theoriegebäude bilden, handelt es sich dabei um Sichtweisen, die durch wichtige Gemeinsamkeiten geprägt sind (Boggs und Rantisi 2003; Amin 2004; Yeung 2005; Bathelt 2006; Bathelt und Glückler 2011):

 Fokussierung auf wirtschaftliches Handeln und ökonomische Praktiken statt der Analyse von Räumen.

 Argumentation, die auf der Mikroebene ansetzt und die ökonomisches Handeln als soziales Handeln begreift.

 Konzentration auf die Analyse der institutionellen Bedingungen von ökonomischen Beziehungen und Strukturen.

 Ziel, über räumliche Beschreibungen hinaus ein tieferes Verständnis ökonomisch-sozialer Prozesse zu erreichen.

 Analyse der Auswirkungen von Globalisierungsprozessen und global-lokalen Spannungsfeldern und Interdependenzen.

 Entwicklung einer Perspektive pro-aktiver Regionalpolitik.

Diese Grundpositionen werden nachfolgend zu einer relationalen Perspektive wirtschaftsgeographischen Arbeitens verknüpft.

2.3.3Forschungsprogrammatische Elemente der relationalen Wirtschafts­geographie

Wir begreifen Wirtschaftsgeographie als ein Forschungsfeld, das nicht durch den Forschungsgegenstand, sondern durch die Forschungsperspektive spezifisch ist. Nicht die räumliche Wirtschaft (oder Raumwirtschaft), sondern die in räumlicher Perspektive beobachtbare Struktur und Dynamik ökonomischer Beziehungen bilden den Gegenstand der relationalen Konzeption. Wirtschaftsgeographische Forschung zielt auf die Beobachtung und Erklärung zeitlich und räumlich situierten ökonomischen Handelns, um kontextabhängig institutionalisierte und somit in räumlicher Perspektive lokalisierbare, ungleich verteilte ökonomische Beziehungen zu erfassen. Die zweite Transition besteht in einer Neukonzeption der Wirtschaftsgeographie in allen Dimensionen einer forschungsprogrammatischen Grundkonzeption. Nachfolgend werden zunächst die Diskontinuitäten im Vergleich zum raumwirtschaftlichen und die Brücke zu einem sozialtheoretisch informierten Programm dargestellt, bevor wir im nächsten Abschnitt die Grunddimensionen der relationalen Wirtschaftsgeographie umreißen. Die Diskontinuitäten zum raumwirtschaftlichen Ansatz lassen sich auf fünf Ebenen formulieren (→ Tab. 2.1):


Tab. 2.1 Forschungsdesign von Raumwirtschaftslehre und relationaler Wirtschaftsgeographie
Programmatische ­DimensionenRaumwirtschaftslehreRelationale Wirtschaftsgeographie
RaumkonzeptRaum als Objekt und Kausalfaktorräumliche Perspektive
Forschungsgegenstandraummanifestierte Handlungsfolgen (Struktur)ökonomische Beziehungen im Kontext (Praxis, Prozess)
Handlungskonzeptatomistisch: methodologischer ­Individualismusrelational: Netzwerktheorie, embeddedness-Perspektive
Wissenschaftstheoretische GrundperspektiveNeopositivismus, kritischer ­Rationalismuskritischer Realismus, evolutionäre ­Perspektive
ForschungszielRaumgesetze ökonomischen ­VerhaltensPrinzipien sozioökonomischen Austauschs in räumlicher Perspektive

(1) Raumkonzept. Die zweite Transition findet ihren Ausgangspunkt in der sozialtheoretischen Kritik des gegenständlichen Raumkonzepts und der Umkehr des Verursachungsverhältnisses von Raum und Gesellschaft (Werlen 1995 c; 1997; 2000, Kap. 12). Nicht der Raum bedingt das Handeln, sondern durch soziales Handeln verändern sich dessen materielle und institutionelle Rahmenbedingungen. Nicht die Region bestimmt die Entwicklung der Unternehmen, sondern die Unternehmen gestalten die Entwicklung der Regionen (Storper und Walker 1989). Das Verständnis von Raum wird in dieser Sichtweise als sozial unterdeterminiert erachtet und kann daher weder als Explanans noch als Forschungsobjekt in Erscheinung treten. Dem Raum als Gegenstand und Ursache stellen wir ein Verständnis von Raum als Perspektive (→ Box 2-3) entgegen (Glückler 1999, Kap. 7). Da Raum (wie auch Zeit) kein wirkungsfähiger Gegenstand ist, tritt er auch im Rahmen von Theorien nicht in Erscheinung (Sayer 1985; Saunders 1989; Hard 1993). Konsequenterweise können Raum oder Territorium im Unterschied zu Storper (1997 a; 1997 b, Kap. 2) nur schwerlich die Grunddimension einer relationalen Wirtschaftsgeographie bilden. Sehr wohl aber erlaubt eine räumliche Perspektive den Zugang zu empirischen Problemen. Der beobachtete Gegenstand – ökonomisches Handeln und ökonomische Beziehungen – bleibt unabhängig von der Wahl der Perspektive bestehen. Es ergeben sich jedoch im Hinblick auf den Gegenstand unterschiedliche Probleme in Abhängigkeit von der Perspektive. Wirtschaftsgeographie betreibt in diesem Sinn eine problemorientierte Forschung aus räumlicher Perspektive. Nicht Raumtheorien, sondern Sachtheorien werden hinsichtlich ihrer lokalisierten Wirkungen, die sich von Ort zu Ort unterscheiden und somit interregionale Interaktionen hervorrufen, erforscht. Die räumliche Perspektive bezieht sich auf die Fragen, die Geographen an die Erfahrungswelt richten und nicht auf die Antworten. Raum oder Distanz werden in dieser Konzeption nicht mehr als Erklärungsvariable verwendet. Vielmehr werden Problemstellungen erst in räumlicher Perspektive sichtbar (Bathelt und Glückler 2003 a): regionale Disparitäten, lokale Konzentrationen gleicher (Cluster) oder unterschiedlicher wirtschaftlicher Aktivitäten (Metropolen), divergierende regionale Entwicklungen, interregionale Verflechtungen und Austauschprozesse (Globalisierung) etc. All diese Phänomene werden durch die Sicht auf ihre geographische Verortung beobachtbar. Sie lassen sich aber nicht aus räumlichen Kategorien heraus erklären. Die räumliche Perspektive berücksichtigt, dass ökonomisches Handeln stets verortet ist. Dadurch kommt es automatisch zu Interaktionen zwischen unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Prozessen, die an denselben Orten stattfinden. Das hängt damit zusammen, dass dieselben Akteure zeitgleich in verschiedenen Prozessen mitwirken und dass es nicht möglich ist, einen einzelnen Prozess isoliert zu betrachten und andere zu vernachlässigen (→ Box 2-3).

 

Box 2-3: Räumliche Perspektive

In wissenschaftlichen Studien kann die Veränderung der Arbeitsteilung eines Unternehmens im Zuge einer Strukturkrise je nach fachlicher Perspektive unterschiedliche Fragestellungen aufwerfen: Während eine sozialwissenschaftliche Studie beispielsweise die Konsequenzen für die Verteilung von Zuständigkeiten und Kompetenzen in der Arbeitsorganisation oder den Grad der Hierarchisierung thematisieren würde, wäre eine ökonomische Studie eher auf die Folgen für die strategische Ausrichtung, das Produktionsprogramm oder neue Wettbewerbschancen fokussiert. Demgegenüber würde eine wirtschaftsgeographische Untersuchung die lokalisierten Folgen für den Arbeitsmarkt, die Zulieferbeziehungen oder die Arbeitsorganisation zwischen einzelnen Standorten in den Mittelpunkt stellen. Jedes Beispiel dieser Art ist letztlich aber eine Vereinfachung. Offensichtlich kann jede Perspektive nur einen spezifischen und partiellen Aspekt eines Forschungsgegenstands thematisieren. Und jedes Phänomen, das aus einer konkreten Perspektive heraus gewonnen wird, kann selbst wieder Ausgangspunkt einer neuen Fragestellung unter einer anderen fachlichen Perspektive werden. So könnte eine andere Fachperspektive die lokalisierten Folgen für den Arbeitsmarkt oder Zulieferbeziehungen selbst wieder als Ausgangspunkt zur Formulierung einer sozial- oder wirtschaftswissenschaftlichen Problemstellung verwenden. Nicht also der Raum wird zum Forschungsobjekt, sondern die Problematisierung eines ökonomischen Phänomens aus einer räumlichen Perspektive ist charakteristisch für wirtschaftsgeographisches Forschen.

(2) Forschungsgegenstand. Während sowohl in dem länder- und landschaftskundlichen als auch in dem raumwirtschaftlichen Ansatz der Wirtschaftsgeographie räumliche Konzepte den Gegenstand des wissenschaftlichen Programms bestimmen, bildet ökonomisches Handeln als situierter Prozess in Strukturen von Beziehungen (d. h. als soziales Handeln) den Gegenstand der Betrachtung der relationalen Wirtschaftsgeographie. Es werden nicht mehr primär räumliche Strukturen, wie z. B. Wirtschaftsräume oder Funktionalregionen, als aufzuklärende Phänomene fokussiert, sondern stattdessen z.B. Prozesse des Lernens, der Innovation und der arbeitsteiligen Organisation dieser Prozesse in räumlicher Perspektive. Ökonomische Beziehungen rücken somit zurück in den Mittelpunkt der Wirtschaftsgeographie und bilden das Zentrum eines sozial- und wirtschaftstheoretischen Programms.

(3) Handlungskonzept. Das Konzept des ökonomisch Handelnden entspricht nicht mehr dem der neoklassischen Theorie. Statt eines abstrakten methodologischen Individualismus, in dem der Einzelne als atomisierter Akteur (Granovetter 1985) scheinbar unbeeinflusst von seiner Umwelt und aus abstrakten Handlungsmotiven heraus nach den Prinzipien des homo oeconomicus agiert, thematisieren wir eine relationale Konzeption des Handelns. Ökonomisches Handeln ist nicht abstraktes Handeln, sondern vollzieht sich als soziales Handeln in konkreten Strukturen zeitlich fortdauernder Beziehungen (Granovetter 1985). Das Handeln eines Akteurs wird folglich nicht mehr isoliert von anderen Akteuren betrachtet, sondern ist aus dem konkreten Kontext seiner Beziehungen zu verstehen und dadurch bedingt. Ökonomisches Handeln ist somit ein Ausschnitt des Sozialen und nicht vom Sozialen trennbar. Es ist einerseits relational und andererseits kontextuell. Die Relationalität des Handelns lenkt die Aufmerksamkeit auf soziale Beziehungen, den Prozess des Handelns und die Bildung von Institutionen. Die Kontextualität des Handelns leitet sich aus seiner Relationalität ab und gewinnt Bedeutung in Form spezifischer sozioinstitutioneller Handlungsbedingungen, die konkretes ökonomisches Handeln an gegebenem Ort und zu gegebener Zeit situieren (Philo 1989; Martin 1994; Giddens 1995; Sunley 1996).

(4) Wissenschaftstheoretische Grundperspektive. Wenn Handeln als kontextspezifisch anerkannt wird, kann es nicht universell auf der Grundlage gesetzesartiger Erklärungen beschrieben werden. Handeln in offenen Systemen ist nicht vorhersagbar, sodass das Ziel deterministischer Theoriebildung aufgegeben werden muss. Während die Raumwirtschaftslehre im Einfluss gesetzesartiger Erklärungen durch das Überprüfen von Hypothesen die Rolle des Universellen hervorhebt, wertet der kritische Realismus (Bhaskar 1975; Sayer 1991; 1992, Kap. 1 und 4; Archer et al. 1998; 2000, Teil 1) die Bedeutung des Kontexts durch das Prinzip der Kontingenz auf. Der kritische Realismus begreift sich als erkenntnistheoretische Alternative zu dem Gegensatz zwischen logischem Empirismus einerseits, der in der Annahme einer objektiven Realität universelle Erklärungen anstrebt, und Relativismus andererseits, der unter Ablehnung einer objektiven Realität das Verstehen subjektiver Einzelgeschehnisse verfolgt (Lovering 1989; Thrift 1990). Dabei sind eher verschiedene Varianten als eine einheitliche realistische Position identifizierbar (Häkli 1994). Zwar halten kritische Realisten an der Annahme einer unabhängig vom Individuum existierenden Wirklichkeit sowie an dem Ziel der Erklärung von allgemeinen Mechanismen fest. Aber sie verbinden den Nachweis dieser Wirklichkeit nicht mehr mit der Universalität der Phänomene.

Das konventionelle Kausalitätsverständnis der Raumwirtschaftslehre gründet auf dem Regularitätsprinzip, das auf Hume (1758) zurückgeht. Demnach gilt als Ursache dasjenige Ereignis, dessen Eintreten immer bzw. ausnahmslos mit dem Eintreten eines anderen Ereignisses zusammenhängt. Die Regelmäßigkeit wird zum assoziativen Prinzip des kausalen Wirkungszusammenhangs. Diese Erklärung ist eine Universalerklärung, da an jedem Ort zu jeder Zeit eine Ursache ihre Wirkung erzeugt.

Demgegenüber begründet der kritische Realismus durch das Prinzip der Kontingenz eine kontextuelle Kausalerklärung. Hierbei treten zwei Arten von Relationen in das Zentrum der wissenschaftlichen Erklärung (Sayer 1985): Notwendige Beziehungen treten auf, wenn zwei Ereignisse unabhängig von spezifischen Bedingungen stets verknüpft sind. Allerdings sind allgemeine, kontextinvariante Beziehungen von Ereignissen, also allgemeingültige Gesetze, im Bereich gesellschaftlicher Phänomene kaum zu identifizieren. Demgegenüber liegen kontingente Beziehungen vor, wenn sie zwei Ereignisse nur unter spezifischen Bedingungen verknüpfen. Das Prinzip der Kontingenz bedeutet, dass das Eintreten eines Ereignisses nicht immer das Eintreten eines anderen Ereignisses impliziert, sodass identische Ausgangsbedingungen nicht zwangsläufig zu demselben Ergebnis führen und Entwicklungen nicht unbedingt bekannten Mustern folgen müssen. Damit besteht die erkenntnistheoretische Möglichkeit, Handlungsziele und Handlungsfolgen als kontextuell zu erklären und zugleich zukünftige Ereignisse als offen zu betrachten. Dies bedeutet aber nicht, dass sich die in einer Fallstudie gewonnene kontextuelle Erkenntnis in ihrem konkreten Zusammenhang erschöpft. Vielmehr ist es möglich, auf dem Weg der Dekontextualisierung verallgemeinerbare Bedingungen und Prinzipien eines Kontexts zu identifizieren und diese gegebenenfalls auf andere Kontexte anzuwenden. Die wissenschaftlich interessante Erkenntnis besteht dabei in der Aufdeckung transkontextueller, mehr oder minder notwendiger Relationen.

(5) Forschungsziel. In der Konzeption des Raums als räumliche Perspektive und des Handelns als relationales Agieren in konkreten, kontextspezifischen Strukturen sozialer Beziehungen sowie der erkenntnistheoretischen Aufwertung von Kontext durch das Prinzip der Kontingenz findet eine relationale Wirtschaftsgeographie ihr programmatisches, methodologisches Design. Letztlich geht es dabei nicht um die Formulierung von Raumgesetzen, sondern um die sachtheoretische Aufklärung sozioökonomischen Handelns, der sozialen Beziehungen und der Handlungsfolgen in räumlicher Perspektive.

2.3.4Grundkonzepte einer relationalen Wirtschaftsgeographie

Nur wenige der Fragen, die in der Wirtschaftsgeographie formuliert werden, unterschreiten das Aggregationsniveau des Unternehmens oder Betriebs. Daher liegt der Fokus der Analyse selten auf der mikrosozialen Handlungsebene, d. h. der einzelnen Person. Nichtsdestotrotz gründen erklärungsfähige Untersuchungen des organisatorischen Wandels innerhalb und zwischen Unternehmen in einem grundlegenden Verständnis von ökonomischem Handeln, dem wir in der Darlegung unserer Argumente Rechnung zu tragen versuchen. Der Perspektivenwechsel von der Raumwirtschaftslehre zu einer relationalen Wirtschaftsgeographie findet seinen Ausgangspunkt in dem bereits dargelegten relationalen Verständnis des Handelns.

Das relationale Grundverständnis bringt drei grundlegende Konsequenzen mit sich (→ Abb. 2.7):


Abb. 2.7 Relationale Perspektive und Analyse­dimensionen (Ionen) der ­Wirtschaftsgeographie

(1) Kontextualität. In struktureller Perspektive wird Handeln aufgrund des Einflusses raumzeitlich gegebener Strukturen von Beziehungen zu kontextspezifischem Handeln, das diesen Strukturen angepasst ist. Dieses situierte Handeln ist daher nicht mehr durch universelle Kategorien oder Gesetze zu erklären.

(2) Pfadabhängigkeit. Die Kontextspezifität ökonomischen Handelns überträgt sich in historischer Perspektive in eine Dynamik pfadabhängiger Entwicklung, da jeweils spezifische Handlungszusammenhänge auch spezifische Entwicklungen nach sich ziehen. Situierte Entscheidungen und Interaktionen in der Vergangenheit bedingen spezifische Handlungskontexte in der Gegenwart und richten somit Handlungsziele und -möglichkeiten entlang eines historischen Entwicklungspfads aus.

(3) Kontingenz. Aufgrund seiner Kontextabhängigkeit unterliegt ökonomisches Handeln nicht allgemeinen Gesetzen. Daher kann die spezifische Geschichte eines Entwicklungspfads nicht determinierend für die Zukunft sein. Vielmehr ermöglichen konkrete Handlungskontexte stets Abweichungen von bestehenden und den Wandel hin zu neuen Entwicklungspfaden (Bathelt und Glückler 2000).

Dabei rücken Unternehmensziele und Beziehungen zwischen Unternehmen in den Mittelpunkt der Betrachtung und die Forschung bedient sich ökonomischer und sozialer Theorien, um den Gegenstandsbereich ökonomischen Handelns und ökonomischer Beziehungen aus räumlicher Perspektive zu untersuchen. Eine kontextuelle, pfadabhängige und kontingente Grundperspektive steht im Gegensatz zu theoretischen Programmen, deren Konzepte auf universellen Gesetzen, linearen Entwicklungen und geschlossenen Systemen basieren (Bathelt und Glückler 2017).

Ausgehend von dieser Neupositionierung schlagen wir einen alternativen Bezugsrahmen für die Wirtschaftsgeographie vor, der konzeptionell auf einer Grundperspektive relationalen Handelns gründet und unter Berücksichtigung der Konsequenzen von Kontextualität, Pfadabhängigkeit und Kontingenz entwickelt wird. Vier zentrale Analysedimensionen, nämlich Interaktion und Institution (Teil III dieses Buchs), Organisation (Teil IV), Evolution (Teil V) und Innovation (Teil VI) strukturieren hierbei die Konzeption. Der entscheidende Zugang der Rahmenkonzeption besteht darin, dass die hinter den vier Dimensionen stehenden wirtschaftlichen und sozialen Prozesse aus einer spezifisch räumlichen Perspektive analysiert und bewertet werden. Dies ermöglicht es, in einem disziplinübergreifenden Forschungsansatz ökonomische und sozialwissenschaftliche Ansätze zu integrieren und eigenständige Fragestellungen aus räumlicher Perspektive zu verfolgen.

 

Im Folgenden werden für die einzelnen Analysedimensionen (Ionen) wichtige Ansatzpunkte wirtschaftsgeographischen Arbeitens aufgezeigt und die wechselseitigen Bezüge der verschiedenen Dimensionen durch die Anwendung der räumlichen Perspektive verdeutlicht (→ Abb. 2.7). Das abgebildete Schema dient als Heuristik zur Systematisierung der relationalen Perspektive im Hinblick auf wichtige Theoriegegenstände der Wirtschaftsgeographie.

(1) Interaktion und Institution. Interaktionen und Lernprozesse bilden den Kern der reflexiven Ökonomie, in der Handeln systematisch überprüft wird, um daraus Möglichkeiten zur Verbesserung zukünftigen Handelns abzuleiten. Lundvall und Johnson (1994) sprechen in diesem Zusammenhang von einer learning economy, die als organisierte Form des Markts durch umfassende Netzwerkbeziehungen geprägt ist. Mit der Erkenntnis, dass Produktions- und Innovationsprozesse arbeitsteilig organisiert sind und dass arbeitsteilige Organisationsformen mit wachsender technologischer Komplexität und zunehmender Differenzierung der Gesellschaft an Bedeutung gewinnen, ist der Prozess des learning by interacting (Lundvall 1988; Gertler 1992; 1993) zunehmend in den Mittelpunkt des wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Interesses gerückt. Learning by interacting bezeichnet einen Lernprozess, bei dem systematische Kommunikations- und Anpassungsprozesse zwischen den in einer Wertschöpfungskette verbundenen Unternehmen zu einer schrittweisen Verbesserung von Produkt- und Prozesstechnologien ­sowie von Organisationsformen führen. Die Analyse von Lernprozessen und reflexiven Verhaltensweisen ist dabei an eine evolutionäre Perspektive gekoppelt. Voraussetzung für In­ter­aktionsprozesse ist die Existenz und Akzeptanz von Institutionen. Institutionelle und soziale Arrangements in Bezug auf die verwendeten Technologien und Ressourcen bzw. Produktions­faktoren ermöglichen es den beteiligten Unternehmen und Akteuren, in bestimmten Projekten zusammenzuarbeiten. Ein entsprechender institutioneller Kontext basiert auf präskriptiven Regeln und Regulation, Organisationen wie z.B. Unternehmen oder Behörden zu deren Formulierung und Durchsetzung sowie damit einhergehenden stabilen Interaktionsmustern, die auf legitimen Handlungserwartungen beruhen (Bathelt und Glückler 2014; Glückler und Bathelt 2017). Entsprechende institutionelle Kontexte sind aufgrund ihrer Einbettung in Beziehungen, die auf ko-präsenter Kommunikation basieren, räumlich lokalisiert und können unter Umständen nur schwer in andere Kontexte übertragen werden (Storper 1997 b). Infolge der Möglichkeiten zu regelmäßigen Kontakten in räumlicher Nähe lassen sich Informations- und Wissenstransfers innerhalb spezialisierter Agglomerationen besonders effizient durchführen. Wichtige Interaktionsprozesse sind deshalb trotz neuer globaler Organisationsformen der Produktion nach wie vor auch in nationale und regionale Entwicklungszusammenhänge eingebettet.

(2) Organisation. Die Organisationsdimension lenkt das Forschungsinteresse auf Gestaltungsformen betrieblicher Arbeitsteilung in und zwischen Unternehmen sowie auf Organisationen im institutionellen Kontext, wie etwa Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände oder staatliche Regierungsstellen und Behörden. Ein grundsätzliches Problem der Organisation industrieller Arbeits- und Produktionsprozesse besteht darin, Arbeitskräfte, Rohstoffe, Zwischenprodukte, Maschinen und Anlagen auf betriebsinterner und -externer Ebene so zusammenzuführen, dass unter einer räumlichen Perspektive eine möglichst effiziente Teilung und Integration der Arbeit erfolgt (Sayer und Walker 1992, Kap. 3). Dabei muss eine hinreichende Koordination und Kontrolle des Produktionsablaufs sichergestellt sein, um qualitativ hochwertige Produkte zuverlässig nach Kundenbedürfnissen anfertigen zu können. So stellt sich die Frage, welche Vor- und Zwischenprodukte von einem Unternehmen selbst hergestellt und welche von Fremdfertigern zugekauft werden sollen, welche Prozesstechnologien einzusetzen sind und wie die verschiedenen Arbeits- und Produktionsschritte verknüpft werden sollen. Ferner ist zu entscheiden, wo welche Zulieferer in Anspruch genommen werden, wie diese in den Produktionsprozess integriert werden und an welchen Standorten regional, national und international welche Produktionsabschnitte angesiedelt werden sollen (Bathelt 2000). Diese und ähnliche Fragen lassen sich unter Einbeziehung der ökonomischen Transaktionskostentheorie (Coase 1937; Williamson 1975; 1985) und des embeddedness-Ansatzes untersuchen, der in der new economic sociology entwickelt wurde (Granovetter 1990; Smelser und Swedberg 1994).

Die Organisationsstruktur beeinflusst auch die Standortstruktur eines Unternehmens und die räumliche Organisation der Produktion. Die Art der Arbeitsteilung hängt insbesondere vom Stand der eingesetzten Produkt- und Prozesstechnologien, der Stabilität und Vorhersehbarkeit der Konsummuster und der Entwicklung der Märkte ab. Hierbei spielen die Standortverteilung von Zulieferern und Abnehmern sowie das Handeln und die räumliche Organisation der Konkurrenten eine wichtige Rolle. Das Organisationsproblem ist so komplex, dass es nicht möglich ist, räumliche Strukturen allein durch Standortfaktoren zu erklären. Räumliche und kulturelle bzw. institutionelle Nähe können in bestimmten Kontexten zu einer Stabilisierung von Netzwerkbeziehungen zwischen spezialisierten kleinen und mittleren Herstellern führen, weil dadurch Kosten der Informationssuche reduziert, Unsicherheiten abgebaut und Kommunikationsvorteile genutzt werden können.

Letztlich kann die Organisationsstruktur von Unternehmen und Wertschöpfungsketten nur aus einer evolutionären Perspektive verstanden werden (Nelson und Winter 1982; Swedberg und Granovetter 1992). Ob ein Unternehmen eine eigene integrierte Produktionsstruktur aufbaut oder Produktionsabschnitte an andere Unternehmen auslagert und welche Märkte und Standorte dabei erschlossen werden, hängt von bisher gesammelten Erfahrungen und vergangenen Organisationsentscheidungen ab. Folge der dabei vollzogenen Lernprozesse ist eine erhöhte organisatorische Reflexivität. Zugleich sind Organisationsstrukturen eingebettet in soziale, kulturelle und institutionelle Strukturen und Beziehungen, die untrennbar mit den ökonomischen Entscheidungsprozessen verknüpft sind (z. B. Baum und Oliver 1992). Die räumliche Organisation der Produktion ist deshalb auch das Ergebnis komplexer Aushandlungsprozesse zwischen den Unternehmen und verschiedenen staatlichen Stellen und findet im Kontext spezifischer Machtkonstellationen statt.

(3) Evolution. Die Evolutionsdimension eröffnet eine Perspektive, die eng mit den anderen Dimensionen der Wirtschaftsgeographie verknüpft ist und die den Einfluss historischer Prozesse und Strukturen auf aktuelle Entscheidungen miteinbezieht. Die Konzeption eines evolutionären Zusammenhangs geht davon aus, dass soziale und ökonomische Prozesse pfadabhängig verlaufen und deshalb erfahrungsgebunden, kumulativ und durch Reflexivität geprägt sind. Diesem Ansatz folgend lässt sich seit den 1980er-Jahren eine erstaunliche Konvergenz evolutionärer Perspektiven in der Ökonomie, den Sozialwissenschaften und der Wirtschaftsgeographie feststellen. In evolutionsökonomischen Konzeptionen (Nelson und Winter 1982; Dosi 1988) wird beispielsweise angenommen, dass die technisch-ökonomische Entwicklung einem abgesteckten Entwicklungspfad folgt und hierbei von Routinen und Heuristiken geleitet wird. Bestehende Technologien beeinflussen die Möglichkeiten für Innovationsprozesse, sodass Vergangenheitsentscheidungen unabhängig davon, wie gut oder wie schlecht sie waren, auf die Gegenwart nachwirken. Aus der Beurteilung des bisherigen Entwicklungsverlaufs werden dabei Mutations- und Selektionsprozesse ausgelöst, die technologische Innovationen zur Folge haben mit dem Ziel, die ökonomische Effizienz zu verbessern.