Schlag doch zu! Autobiografie

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Und das Geld eben, was die reichen Juden manchmal so unchristlich verdient hatten, hat die Partei ihnen abgenommen und noch mehr, was ihnen gehörte. Die Partei hat es dann den Parteibonzen gegeben, weil diese ganz besonders treu der Partei dienen. Man hatte den Juden außerdem auch ihre Häuser weggenommen und sie einfach fortgejagt. Das war auch nicht richtig. Aber Nazis sind auch eigentlich keine guten Christen. Aber dadurch wurden diese Leute so reich, ohne aber gebildet zu sein und deshalb sind sie als Neureiche eigentlich gar nicht gut angesehen in Familien wie unserer, die wenigstens eine gute Allgemeinbildung haben und von ehrbaren Altfamilien abstammen.

Ja, siehst du, Muckelchen, darum wollen wir auch nicht gerne mit den Leuten von gegenüber verkehren. Freilich ihre Kinder können natürlich nichts dazu, und wenn du gerne mit dem Jungen spielen möchtest, habe ich eigentlich nicht unbedingt etwas dagegen.“

Nun war alles geklärt, soweit Mutti das verstand und erklären konnte. Außer „Bübchen“ hatte ich noch eine Menge anderer Kosenamen, von denen einer eben Muckelchen war, konnte aber auch Muckerle sein oder Liebchen oder Männlein oder viele andere.

Seit dieser langen Unterredung begann ich, mich ein wenig mehr für meine Umgebung und die Menschen in meiner Nachbarschaft zu interessieren.

So wagte ich denn auch einige Schritte über die Straße in der Hoffnung, den Jungen von den Parteibonzen noch einmal zu sehen. Das war mir aber zunächst nicht gegönnt. Anzuschellen oder anzuklopfen riskierte ich nicht.

Meine Expedition zur anderen Straßenseite führte mich aber an ein anderes Grundstück, das mich außerordentlich faszinierte. Neben dem Haus der Nazibonzen mit dem riesigen Garten gab es ein sehr großes Grundstück, das nicht bewohnt war. Dort befand sich ein verwilderter mit einem Maschendrahtzaun eingezäunter Garten ohne Hauszugehörigkeit. Dicht am Zaun gab es Büsche aller Art, die von zahlreichen Ackertrichterwinden und anderen Unkräutern durchwachsen waren. Diese Büsche und der dahinter liegende Garten zogen meine ganze Aufmerksamkeit auf sich, weil ich einmal die weißen Glockenblüten der Ackerwinde so schön fand und zweitens in den Büschen sich allerlei Kleingetier aufhielt, das auch besonders mein Interesse erregte.

Links neben uns ragte ebenfalls majestätisch ein weißes Haus in den Himmel, das in der ersten Etage zur Straße hinaus einen riesigen Balkon besaß, von dem man in den geräumigen Vorgarten blicken konnte. Diesen Vorgarten zierte ein breiter Kiesweg, den mehrere kleinere Blumenbüsche umrahmten. In der Mitte des Vorgartens gab es ein Rondell mit bunten Blumen. Wenn ich träumend in meiner typischen Haltung vor unserem Vorgarten stand, hatte ich oft Gelegenheit, dort im Vorgarten oder auf dem Balkon eine ältere Dame zu sehen, die leuchtend kupferrotes Haar hatte und ständig eine Zigarette im Mund.

Eine rauchende Frau war für mich etwas besonders Exotisches, weil in unserer Familie keine einzige Frau rauchte, außer Tante Else natürlich, was ich aber damals nicht wusste. So beäugte ich die Nachbarin argwöhnisch, konnte aber außer der ungewöhnlichen Haarfarbe und der langen Zigarettenspitze, mit der sie den Dampf ihrer Zigarette einsog, nichts Ungewöhnliches entdecken.

Mir fiel noch auf, dass sie sehr oft den Rauch durch die Nase wieder ausstieß, dass sie nicht freundlich aussah und sich überhaupt nicht um den kleinen Jungen kümmerte, der so neugierig ihr Tun und Lassen beobachtete.

Mutti erklärte mir, dass auch sie keinen Kontakt zu Frau Otto hätte, wie die Nachbarin hieß. Das bedeutete aber nicht, dass die Dame nicht nett wäre. Was sie genau von Beruf wäre, wusste Mutti auch nicht, sie fand aber auch, dass es nicht gut wäre, wenn Frauen rauchten. Vati mochte das absolut nicht leiden. Mutti meinte, Herr Otto wäre vielleicht Offizier. Auch diese Frau Otto war außerordentlich reich, wie Mutti betonte.

Deshalb grübelte ich, ob wir nicht doch arm wären, obwohl wir ja eigentlich nicht arm sein durften, denn arme Leute waren ja fast immer ungebildet, was immer das auch genau bedeuten mochte. Warum nur war Frau Otto reich? Mutti wusste darauf keine Antwort.

Links neben dem Haus von Frau Otto schlossen sich ein weiterer Garten und ein großes Haus an.

Dieses sah mit seiner grünen Farbe ein wenig bedrohlich aus, weil es so kompakt und groß wirkte. Der Garten um dieses Haus streckte sich über den ganzen Rest der Bismarckstraße bis zur Ecke Karl-Finkelburg-Straße hin und war mit einigen hohen Nadelbäumen sehr dunkel begrünt. Auch der ursprünglich dunkelgrün gestrichene schmiedeeiserne, an manchen Stellen rostende Zaun mit den Pfeilspitzen am oberen Ende der einzelnen Zaunstangen wirkte nicht besonders vertrauenerweckend.

Im Haus wohnte eine ältere Dame mit ihrer Tochter, die auch schon älter war als Mutti. Überhaupt war der Anteil an weiblichen älteren Nachbarn bei weitem höher, als der an männlichen oder an jüngeren Leuten, auch Kinder waren selten.

Dem dunkelgrünen großen Garten gegenüber gab es ein neueres Haus, das nicht ganz so hoch gebaut war wie die anderen und weit zurücklag von der Straße, so dass der Vorgarten mehr Aufmerksamkeit erregte als das Haus selbst. Dort wohnte ein jüngeres Ehepaar, etwa im Alter wie Tante Erna, das aber sehr selten zu Hause war.

Tagsüber, wenn ich allein am Zaun vor unserem Vorgarten stand und wie immer genießerisch meinen Daumen lutschte, sah ich so gut wie nie irgendwelche Leute auf der Straße. Vielleicht hielten alle ihren Mittagsschlaf wie Mutti? Vielleicht waren sie auch nicht zu Hause?

Auch aus dem Nachbarhaus zur rechten Seite, das von mehreren Familien bewohnt wurde, kamen zu der Zeit keine Menschen heraus, es gingen auch keine hinein.

Der gegenüberliegende Garten, der mich so sehr faszinierte, obwohl er doch überhaupt nicht meinem Hang zur Ordnung und Pedanterie entsprach, erstreckte sich bis zur nächsten Straßenecke, deren einmündende Straße für mich immer namenlos blieb. Denn nur die Strecke nach links ab, die in das sogenannte Wiesenpädchen führte, war mir bekannt geworden. Das Wiesenpädchen war ein Feldweg, der ein Kornfeld begrenzte. Rechts des Weges erstreckte sich ein sehr langer Zaun, der einen Obstbaumgarten vor ungebetenen Besuchern schützte

Ein Haus auf dieser linken Ecke vor dem Feldweg erregte später noch sehr intensiv meine Aufmerksamkeit, weil dort vor der Tür immer ein kohlrabenschwarzer Scotchterrier saß, von Mutti immer Kohlenkasten genannt.

Eigentlich lebte ich also recht gemütlich und idyllisch in jenen Kriegstagen, wenn da nicht immer wieder das entsetzliche Sirenengeheul gewesen wäre, das uns, meistens in den Abendstunden, zwang, schnellstens alle Lichter zu löschen und in unseren Keller zu flüchten.

Schon dieses Heulen flößte mir eine wahnsinnige Angst ein, gar nicht zu sprechen von dem Lärm, der bis in den Keller zu hören war, wenn dann die Flieger auftauchten oder Bomben entsetzlich laut dröhnend in der Nähe herunterkamen.

An einem frühen Abend oder späten Nachmittag, als es schon recht dunkel geworden war, wollte Mutti noch einige Briefe, die sie gerade geschrieben hatte, zum Briefkasten bringen. Ich sollte natürlich mitkommen. Allein mit Ursel hätte ich auch Angst gehabt. Denn Ursel hatte ausnahmsweise keine Lust mit ihrem Brüderchen zu spielen, weil sie bei Oma war. In dem Augenblick, als wir auf die Straße traten, heulten die Sirenen auf, Alarm!

Mutti sagte nur: „Komm, Bübchen, wir laufen schnell bis zum Briefkasten! Das schaffen wir noch.“

So schnell mich meine kurzen Beinchen tragen konnten, eilten wir also zum Briefkasten, der genau an der Ecke Bismarckstraße Karl-Finkelburg-Straße am dunkelgrünen Zaun vor dem unheimlichen Haus und dem unheimlichen Garten angebracht war. Wir erreichten den Briefkasten, der ebenso dunkel war wie der Zaun.

In dem Augenblick ging es los. Zwar erschreckte mich wie immer der fürchterliche Lärm, aber zum ersten Mal sah ich, was dort am Himmel geschah. Und es fesselte meine Aufmerksamkeit derart, dass ich meinen Blick nicht davon lösen konnte, so sehr Mutti auch drängte. Der Anblick war solchermaßen faszinierend, dass ich auch den Lärm nicht mehr hörte, ich blickte nur staunend nach oben.

Der Himmel war bedeckt mit allen möglichen Leuchtfingern, mit Farben, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Mir erschienen diese explodierenden Raketen, Bomben und Geschosse, die an ein buntes Feuerwerk erinnerten, wie Sterne. Ich glaubte, der liebe Gott hätte die Sterne einfach einmal tiefer scheinen lassen, damit ich diese wahnsinnige Pracht auch einmal sehen durfte.

In Panik zog Mutti an meinem Arm: „Komm doch schnell, Männlein! Das ist sehr gefährlich! Wir könnten getroffen werden!“ Ich bremste und hielt sie zurück: „Nein, Mutti, guck doch nur, wie schön die Sterne leuchten! Lass mich doch noch ein wenig hier, damit ich weiter gucken kann!“ Keuchend und vor Angst zitternd schaffte es Mutti, mich mit den Füßen über den Boden schleifend, bis zu unserer Haustür zu bringen, und von dort sofort in den Keller, wo Oma, Tante Erna und Ursel schon besorgt auf uns warteten. Ursel weinte heftig, denn sie war fest davon überzeugt, dass uns in dem Bombeninferno etwas passiert sei.

Jahrelang hatte ich den Anblick eines unnatürlich hübschen Sternenhimmels im Kopf, ließ mich nie davon abbringen, dass dieser Himmel nur für mich so schön gewesen war. Da Mutti meine Gefühle in dieser Hinsicht nicht nachempfinden konnte, glaubte ich fest daran ,dass der liebe Gott oder das Christkind nur für mich diesen besonderen Anblick möglich gemacht hatte.

Was mochte ich damals schon vom Krieg und seinen Schrecken verstanden haben? Was konnte ein Krieg, auch wenn er noch so sehr auch in unserer Familie Hunger und Not verursachte nur einem kleinen Kind anhaben, wenn sich das Kind wohl behütet fühlte in den Armen seiner Mutter und der Obhut einer intakten Familie?

Mit drei Jahren wird wohl kein Mensch für sehr voll genommen. Ich jedenfalls hatte häufig das Gefühl, dass ich nicht besonders ernst genommen wurde. Dabei merkte ich mir alles, was ich hörte und was mir auf meine vielen Fragen hin erklärt wurde. Immer wieder hörte ich vom Krieg, aber so richtig erklären konnte mir niemand, was ich darunter zu verstehen hatte.

 

Einerseits war mir klar, dass die bösen Feinde den Krieg führten, andererseits war mir auch klar, dass wir Deutschen den Krieg führen mussten, weil wir uns wehren mussten. Was ich nur gar nicht verstand, war das Gerede von den Politikern, die diesen Krieg zu verantworten hätten, bei dem unschuldige Menschen ihr Leben lassen mussten.

So fragte ich immer wieder nach, wieso denn die Politiker nicht ganz alleine den Krieg führen konnten. Sie mussten doch die unschuldigen Menschen in Ruhe lassen. Mutti erklärte mir zwar, dass die Politiker sich überhaupt gar nicht stritten, dafür aber ihre Soldaten kämpfen ließen, und dadurch das ganze Volk mit kämpfen müsste, bis einer gewonnen hätte. Verstanden hatte ich das nie.

Oma erklärte mir, dass die Deutschen nicht genug zu essen hätten, wenn sie nicht den Krieg führen würden. Sie konnte mir aber nicht erklären, warum die Politiker nicht alleine kämpften und auch nicht, warum wir denn nun im Krieg auch nicht genug zu essen hatten. Sie meinte nur, wenn wir den Krieg gewonnen hätten, dann hätten wir uns immer satt essen können für alle Zeiten.

Aber sie erläuterte mir auch, dass wir eigentlich den Krieg schon jetzt verloren hätten und es nicht mehr lange dauern könnte, bis wir besiegt wären. Aber sie wollte mir lieber nicht erklären, was dann mit uns geschähe. Dann wäre es besser, wir würden nicht mehr leben. Das hatte ich dann aber überhaupt nicht verstanden.

Darum legte ich mir eine eigene Sinndeutung zurecht. Der Krieg war angefangen worden, weil einige Politiker das so wollten. Sie hatten die Macht, anderen Menschen zu befehlen, in den Krieg zu ziehen. Diese wurden dann Soldaten und mussten dafür kämpfen, was die Politiker haben wollten. Wenn der Krieg nicht angefangen hätte, ging es uns in Deutschland auch nicht viel besser, aber es würden keine Bomben fallen und es würde nicht gekämpft und keine Menschen getötet.

Also wäre es allemal besser, wir hätten keinen Krieg. Wenn dann wir in Deutschland besiegt wurden in kurzer Zeit, dann durften wir eigentlich nicht mehr leben. Das fand ich nicht allzu schlimm, weil Mutti erzählt hatte, wenn man in den Himmel käme, wäre alles viel besser als auf der Erde. Ganz klar wurde mir also, dass der Krieg eigentlich völlig überflüssig war und besser niemals angefangen worden wäre.

Warum nur musste ein kleiner Junge von drei Jahren sich solche Gedanken machen? Es wurde einfach zu häufig vom Krieg geredet. Was eigentlich Frieden war oder sein sollte, wusste ich sowieso nicht, weil ich vom Frieden nur etwas gehört hatte, wenn Mutti davon schwärmte, dass unser Friedenskaiser nach dem Krieg wieder zurückkommen würde. Mit dieser Philosophie konnte ich recht gut leben. Nur verstand ich auch nicht, warum in Omas Küche versteckt ein großes Radio stand, an dem die Erwachsenen oft mit den Ohren hingen, um von häufigem Pfeifen unterbrochen, Nachrichten zu hören.

Denn Nachrichten gab es auch aus dem Volksempfänger, der oben auf dem Küchenschrank stand. Ich merkte nur sehr genau, dass es ganz offensichtlich verboten war, die Nachrichten aus dem großen Radio mit dem vielen Pfeifen zu hören. Denn Ursel wurde eindringlich verwarnt, nur niemandem zu erzählen, dass man in der Küche heimlich den BBC hörte. Mir selbst traute niemand zu, dass ich das überhaupt mitbekam geschweige denn irgendjemandem erzählen würde. Tatsächlich bekam ich von den Nachrichten selbst wirklich nichts mit, aber immer häufiger merkte ich, dass nach dem Abhören dieser Nachrichten alle froh waren und darüber sprachen, dass es bald vorbei wäre.

Am Mittwoch, dem siebten Juni 1944, überstürzten sich die Meldungen. Der Volksempfänger hatte verkündet, der deutschen Heeresführung sei es geglückt, König Leopold III. von Belgien gefangen zu nehmen. Der BBC widersprach der Meldung nicht direkt, räumte aber ein, dass das ein weiteres Verbrechen sei, das Hitler auf sich geladen hätte.

Doch dann kamen Meldungen von der Westfront. Der Volksempfänger meldete kurz, dass das Täuschungsmanöver der Feinde Deutschlands in der Normandie seinen Anfang genommen hätte, aber deutsche Soldaten und ihr Führer ließen sich nicht täuschen. Es gäbe keinen Grund zur Besorgnis.

Ganz anders die Meldung der BBC, die Mutti und Oma abhörten, die Ohren dicht an das Gerät gepresst. 155 000 Soldaten waren in der Normandie gelandet. Man erwartete, dass sehr bald schon Paris von den deutschen Besatzern befreit sein könnte. Der Einmarsch nach Frankreich war erfolgreich gelungen.

Mutti, Oma und Tante Erna diskutierten darüber, ob die Meldungen aus England wohl der Wahrheit entsprachen. Die Folge dieser Diskussion war, man wollte den Meldungen des Volksempfängers überhaupt keinen Glauben mehr schenken, wie man auch schon lange die Zeitung der Lüge bezichtigte.

Ursel musste immer wieder folgendes Rätsel lösen, das sie an mich weiter gab: „Was liegt unter der Tür und lügt?“

Die Antwort lautete: „Die Zeitung!“

Täglich gab es immer zur gleichen Zeit eine verschworene Versammlung um das große Radio in Omas Küche. Streng musste Tante Erna immer wieder nachschauen, ob auch wirklich niemand draußen stand, der vielleicht etwas hätte hören können. Im Volksempfänger dröhnte zur gleichen Zeit laut die Marschmusik oder eine Meldung vom Fußball. Niemand hörte hin auf die Meldung:

„Der Dresdner SC hat erneut die Deutsche Fußballmeisterschaft gewonnen durch ein vier zu null gegen die Mannschaft des Luftwaffen –SV Hamburg“.

Aber entsetzt waren alle über die Meldung der BBC von der Ermordung von 153 Zivilisten in der Ortschaft Civitella durch die Waffen-SS.

Mutti mochte einfach nicht glauben, dass das von Deutschen verübt worden sein könnte. Sie hatte aber sehr wohl schon von der besonderen Härte und Grausamkeit der deutschen Waffen-SS gehört.

Manchmal war es auch ausgesprochen schwer festzustellen, wer denn wirklich die Wahrheit verkündete. Besonders schwer war es am 20. Juli 1944. Zuerst hatte der Volksempfänger verkündet, der Führer sei einem Attentat zum Opfer gefallen. Die Meldung wurde aber nicht sofort bestätigt.

Dann berichtete der BBC über das Attentat und gab erfreut die Befreiung Deutschlands vom unmenschlichen Diktator bekannt.

Alle in unserer Küche waren bestürzt und auch ein wenig erfreut, aber sehr beunruhigt. Wie sollte es weitergehen, wenn der Führer nicht mehr da war? Gab es Menschen, die sofort seine Aufgabe übernehmen könnten?

Aber ehe man sich darüber wirklich sorgen musste, hörte man die Stimme des Führers aus dem Volksempfänger. Er berichtete von dem Versuch, ihn umzubringen, aber er sprach von göttlicher Fügung zu seiner Rettung und damit der Rettung des deutschen Volkes.

Nur ganz allmählich begriffen die drei Frauen, dass nicht Falschmeldungen sie irre machen sollten, sondern, dass es wirklich ein missglücktes Attentat auf den Führer gegeben hatte.

Ich konnte die ganze Aufregung nicht verstehen, denn ich hatte wirklich nicht verstanden, was los war.

Am 25. August 1944 war Paris bestimmt befreit worden, und Oma warnte Mutti eindringlich, etwas zu tun, damit sie sich und die Kinder rettete. Aber sie wusste nicht zu sagen, wie.

Der Volksempfänger propagierte jedoch unbeirrt den Endsieg, der trotz aller Entbehrungen nicht mehr fern sei.

Wie zur Bestätigung hörten wir alle am 31. August 1944 Ausschnitte aus Carl Maria von Webers „Freischütz“ aus der Semper-Oper in Dresden. Niemand ahnte, dass das die letzte Aufführung in dem unzerstörten Gebäude dort gewesen war.

Der BBC meldete ausführlich die Verleihung des Hosenbandordens an die niederländische Königin Wilhelmina durch König Georg VI. von England für die Standhaftigkeit ihres Landes im Kriege.

Am 25. September 1944 ordnete Hitler an, als Kampforganisation den sogenannten Volkssturm zu bilden, immer den Endsieg vor Augen. Dieser Volkssturm sollte die verbliebene deutsche Wehrmacht mit alten Männern bis sechzig Jahren und Jungen ab sechzehn Jahren unterstützen in der Erreichung des hehren Zieles.

Am 16. Oktober flohen Millionen Deutsche aus Ostpreußen vor den Gräueltaten der Roten Armee. Der Krieg war endgültig auf deutschem Boden angelangt. Wehe den Besiegten!

Ein weiteres Steckenpferd meiner Mutti war das Spazieren gehen. So zog sie, wann immer ihre Zeit und das Wetter es zuließen, los mit Ursel und mir oder nur mit mir, um oft lange Spaziergänge zu machen. Meistens liefen wir die Karl-Finkelburg-Straße hinunter über den Römerplatz nach links hinunter bis zum Rhein. Dort ging es am Ufer entlang in Richtung Mehlem, denn dort wohnte eine befreundete Familie, mit der ein freundlicher Kaffeeklatsch Erholung brachte vom langen Laufen.

Manchmal fuhren wir auch mit der Fähre hinüber nach Königswinter, um dort ein Stück den Drachenfels hoch zu wandern. Aber das war nur sehr selten möglich.

Solange ich klein war, schafften wir es niemals, ganz hinauf zu kommen. Denn auf einem Esel hinauf zu reiten, was damals noch angeboten wurde, wäre immer viel zu teuer gewesen. Und ebenso konnten wir es uns nicht leisten, mit der Zahnradbahn hochzufahren, die noch unzerstört dort verkehrte.

An einem sonnigen Septembertag im Jahre 1944 spazierten Mutti und ich wieder einmal am Rhein entlang. Die Fähre war gesperrt. Deshalb konnten wir auch nicht hinüber nach Königswinter. Mutti erzählte mir gerade zum wiederholten Male die Geschichte vom Drachen und die Geschichte von Siegfried, der den Drachen besiegt hatte und in seinem Blute gebadet, wodurch er unverwundbar geworden war.

Ich mochte nicht schon wieder fragen, warum denn dann nicht alle Soldaten in solchem Blut badeten. Denn Mutti hatte mir schon oft erklärt, dass es sich nur um eine Legende handele, die nicht ganz so wirklich passiert war. Außerdem waren heute auch die Waffen viel stärker, und Drachenblut hätte dagegen wirklich nicht schützen können.

Plötzlich bemerkten wir rechts von uns am Rheinufer einen Menschenauflauf. Laute Stimmen waren zu hören. Mutti lief schnell etwas näher heran, so dass ich kaum mitkommen konnte.

Von einem erhöhten Punkt aus spähten wir über die Köpfe von Helfern und Neugierigen hinweg und entdeckten, dass man einen schweren Körper aus dem Wasser fischte und heraushieven wollte.

In dem Augenblick, als wir etwas erkennen konnten, rief Mutti entsetzt: „Schau weg, Bübchen, das ist nichts für dich! Komm, wir wollen schnell weiter gehen!“

Aber ich hatte schon genug gesehen. Der schwere Körper war der eines toten Menschen. Er trug eine grüne Uniform, die aber wegen der Nässe sehr dunkel aussah, fast schwarz. Aus seinem Bauch lief nicht nur das ganze Wasser herab, sondern es sah aus, als hingen lauter Würmer und Schlangen da heraus. Ich konnte den Blick nicht abwenden, so sehr Mutti auch drängte und mich zur Seite schieben wollte.

Dort wurde die Leiche eines Soldaten geborgen, der ganz offensichtlich eine Bauchverletzung hatte. Aus dem Bauchraum hingen die Gedärme heraus, vielleicht waren aber auch Fische und Würmer in den Leib eingedrungen. Es war ein unappetitlicher, grauenhafter Anblick, der mich zu Tränen rührte.

Mutti drängte nur fort und versuchte mich damit zu trösten, dass sie mir erklärte, dass der Tote nun nichts mehr spüre. Sie meinte auch, dass es vielleicht gar kein deutscher Soldat war.

Meinte sie eigentlich wirklich ernsthaft, dass diese Feststellung mir Trost bringen könnte?

Mir war es wirklich egal, wessen Uniform der tote Soldat anhatte. Ich fand es außerordentlich traurig und schmerzhaft, dass überhaupt ein Mensch in so unwürdiger Haltung sein Leben verloren hatte.

Hatte er wohl Schmerzen gehabt? War er schon tot, ehe er ins Wasser fiel? Oder war er mit den Schmerzen seiner schweren Verletzung vielleicht ins Wasser gefallen und dann erst ertrunken? Vielleicht war er auch noch von Tieren im Wasser angefressen worden? Hatte er auch das eventuell gespürt? Was mochte ein Mensch denken, wenn er starb?

Ich wollte Mutti diese Fragen stellen, aber Mutti winkte ab: „Bitte lass uns nicht davon reden! Das ist so entsetzlich, das wollen wir sofort wieder vergessen! Du darfst nicht mehr darüber nachdenken! Sieh mal, dort drüben den Drachenfels. Wie schön grün dort jetzt alles ist! Sollen wir mal schauen, ob wir Fische im Wasser sehen? Wir können auch ein paar Steine ins Wasser werfen.

Mutti brachte es nicht fertig, mich von dem abzulenken, was wir gerade gesehen hatten. Ich hörte nicht auf zu fragen. Mutti konnte mir auf meine Fragen keine Antwort geben.

 

So war ich denn einige Tage sehr bedrückt und hatte immer das schreckliche Bild vor Augen, das mich bis in die Nacht in meinen Träumen verfolgte. Viele Nächte lang träumte ich von riesigen Männern in grünen Uniformen, die triefend vor Nässe am Rhein standen, während aus ihren Köpfen, aus ihren Körpern Schlangen und aalähnliche Fische herauskrochen, die wiederum Löcher in die Männer fraßen. Die Schlangen krochen wieder in die Löcher hinein und kamen an anderen Stellen der Körper wieder heraus. Dabei wanden sie sich immer heftiger schlängelnd um die Körper und versuchten die Männer zu ersticken, bis ich nach Luft ringend selbst erwachte und von den Träumen erlöst wurde.

Da aber der Herbst schon sehr bald mit vielen kriegerischen und weniger kriegerischen Erlebnissen langsam in den Winter wechselte, bereiteten wir uns allmählich auf Weihnachten vor, so dass sich meine Alpträume recht bald verflüchtigten.

Nach mehrmaligem Auftreten des Jungen von gegenüber in seinem Vorgarten gelang es mir endlich, Kontakt zu ihm zu knüpfen. Er hieß Adolf mit Vornamen, was Mutti bei der Gesinnung der Leute überhaupt nicht sonderbar fand.

Adolf war richtig lieb und friedlich. Wir versuchten mit seinen Förmchen und seinen Schüppchen in der Ecke lose Erde aufzuhäufeln, um damit alles Mögliche zu formen.

Einmal hatten Adolfs Eltern Kohle bekommen, genau gesagt Eierbriketts. Es hatte geregnet, und so blieb der schwarze Staub im Matsch liegen. Aus Matsche und Ruß formten wir kleine eiförmige Gebilde, legten sie auf einen Haufen zusammen und spielten Kohlenverkäufer. Ausnahmsweise kamen auch ein paar Leute vorbei, denen wir unsere wertvolle Kohle lautstark anboten. Dafür ernteten wir ein freundliches Lächeln, das uns aber auch genug war.

Am nächsten Tag hatten wir erst einmal absolutes Spielverbot miteinander, denn es war doch schwierig gewesen für unsere Mütter bzw. für das Kindermädchen in Adolfs Haus, uns wieder so sauber zu bekommen, dass wir nicht mehr aussahen wie die Kinder von Schornsteinfegern.

Ausgerechnet am folgenden Tag kam Vati zu Besuch. Wieso er in dieser Zeit Urlaub erhalten hatte, wurde nicht erklärt. Ich hatte sein Kommen sehr wohl bemerkt von meinem Aussichtspunkt in Adolfs Vorgarten, aber ich hatte mich nicht gerührt, weil ich hoffte, Vati würde mich nicht sehen und wieder verschwinden, ehe ich hinein musste. Allein hockt ich hinter dem Mäuerchen, denn Adolf durfte doch nicht wieder mit mir spielen, wie ich eigentlich gehofft hatte.

Da kam Vati auch wieder heraus und rief mich. Seine Stimme war sehr laut. Er rollte das R in Harald. Ich bekam fürchterliche Angst vor dieser lauten Stimme und duckte mich noch mehr hinter die Mauer. Ich fürchtete mich grundsätzlich vor allem, was sehr laut war und vor allen Dingen auch tief. Natürlich hatte Vati mich schon längst erspäht. Er rief noch einmal, dieses Mal schon etwas lauter als vorher und kam mir auf dem Vorgartenweg unseres Hauses entgegen.

Mir klopfte das Herz bis zum Halse vor Angst. Seine Stimme war so laut und gar nicht so weich wie Muttis. Hoffentlich ging er wieder fort und ließ mich in Ruhe!

Aber Vati dachte gar nicht daran fortzugehen. Im Gegenteil, er kam aus dem Garten heraus, näherte sich meinem Versteck und rief mit lauter drohender Stimme, wenn ich jetzt nicht endlich käme, würde es etwas setzen. Von Mutti nicht gerade mit Schlägen und Drohungen verwöhnt, hatte ich nur eine ungefähre Vorstellung davon, was mich erwarten könnte, rührte mich aber immer noch nicht vom Fleck, in der Hoffnung, Vati würde sein Unterfangen doch noch einstellen.

Meine Hoffnung erfüllte sich nicht. Er stand unmittelbar neben meinem Versteck, blickte auf mich hinunter und sagte etwas leiser: „Nun komm endlich! Was fällt dir nur ein? Das war sehr böse von dir! Dafür hast du eine Strafe verdient!“

Zögernd kroch ich hinter der Mauer her, wurde von Vati ergriffen und erhielt einen schmerzhaften Klaps auf den Allerwertesten. Das war wirklich zu viel des Guten. Schluchzend und schniefend versuchte ich mich aus den Armen meines Vaters zu lösen, der aber eisern festhielt und mir dadurch noch mehr wehtat.

Kopfschüttelnd und ärgerlich setzte er mich vor Mutti ab im Wohnzimmer mit den Worten: „Da hast du dein Muttersöhnchen!“

Mutti fragte bekümmert: „Warum bist du denn nicht gekommen, als Vati dich gerufen hat? Du bist doch sonst immer brav und artig!“

Ich schluchzte nur und verkroch mich in meine Spielecke. Viel später erst, als Vati nicht mehr da war, beichtete ich, dass ich eine wahnsinnige Angst ausgestanden hätte, weil Vati so eine laute Stimme hatte.

Vati blieb nicht lange, was mir nur sehr angenehm war. ----

Das Weihnachtsfest bedeutete unserer Familie und vor allem mir in meiner frühen Kindheit immer etwas ganz Besonderes. Nicht etwa, dass ich an diesen Festtagen in besonders üppiger Weise beschenkt wurde. Das geschah auf gar keinen Fall, weil einmal dazu nie genügend Geld vorhanden war und zweitens aber in unserer Familie immer der Grundsatz galt, ein Kind niemals zu sehr zu verwöhnen. vor allem aber in diesen schlechten Zeiten, die eigentlich nie enden wollten,

Aber Weihnachten hatte so etwas Geheimnisvolles an sich und gleichzeitig so etwas Anheimelndes, dass mich eine ganz besondere Stimmung ergriff schon Wochen vor dem Fest.

Mutti machte ein ausgesprochen rätselhaftes Gesicht und sprach immer wieder davon, dass bald das Christkind käme.

Dabei zeigte sie mir Bilder im Struwwelpeter oder anderen bebilderten Büchern, in denen Engel oder das Christkind zu sehen waren, so dass ich eine sehr genaue Vorstellung davon bekam, wie das Christkind in Wirklichkeit aussah. Dabei fehlte es nicht an der immer wieder vorgetragenen, mir nicht verständlichen Information, dass ein Kind niemals das Christkind leibhaftig zu Gesicht bekommen würde, nur Erwachsene könnten es hin und wieder sehen.

Auch bei Kerzenlicht abends zusammen zu sitzen und „Leise rieselt der Schnee“ zu singen, gehörte zum Brauchtum in unserer Familie. Bei schönem Wetter abends vor dem Fenster das Abendrot zu bewundern und dabei zu hören, dass das rote Leuchten daher käme, weil dort das Christkind backen würde, verstärkte mein Gefühl, dass Weihnachten eben etwas ganz besonders Schönes wäre.

Am besten aber gefiel mir in der Vorweihnachtszeit das Backen von Plätzchen, an dem wir Kinder uns beteiligen durften. Mutti bereitete einen Teig vor, den sie Spekulatiusteig nannte, da er einige Gewürze enthielt, die in einem echten Spekulatiusteig nicht fehlen durften.

Dieser Teig war ein Mürbeteig, der mit der Hand gemischt und geknetet wurde. Nach einer halbstündigen Ruhezeit wurde er dann auf der Tischplatte möglichst dünn ausgerollt mit einer Holzwalze, die ausschließlich für diesen Zweck in einem Küchenschrankfach verwahrt wurde. Als Ausstechförmchen standen ein Stern, ein Herz und ein Karo zur Verfügung. Das Spannende für mich daran war, dass auch ich mithelfen durfte beim Ausstechen.

Am allerbesten an dieser Aktion gefiel uns, dass beim Ausstechen immer kleine Reste übrig blieben, die wir uns in den Mund schieben durften. Das war die reinste Freude, denn wir waren in jener Zeit mit Süßigkeiten nicht gerade verwöhnt, und mussten schon sehr froh sein, dass es Mutti überhaupt gelungen war, Zucker für ihre Plätzchen zu ergattern.

Zum Schluss blieb immer ein kleiner Teigberg übrig, der nicht mehr ausgerollt wurde, weil es vor allen Dingen Mutti dann zu lange dauerte und sie keine Lust mehr hatte. Sie formte daraus ein Gebilde, das mit einem Nikolaus sehr wohl eine gewisse Ähnlichkeit aufwies.

Nach dem Backen roch es ganz herrlich in der ganzen Wohnung, wahrscheinlich im ganzen Haus.

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