Schlag doch zu! Autobiografie

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Geschichtliches und Wichtiges

Das Hören von amtlichen Nachrichten gehörte zu den täglichen Pflichten guter deutscher Staatsbürger. Ganz bestimmt aber musste Vati, als eingezogener Soldat, immer auf dem neuesten Stand sein. Ob natürlich alles, was in der Welt passierte, so genau in den deutschen Nachrichten zu hören war, war nicht nur damals fraglich. Denn das ist eine altbekannte Weisheit: „Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst.“

Aber nicht nur der Krieg machte es erforderlich, nicht immer die Wahrheit bekannt werden zu lassen, auch die Diktatur als solche verträgt sich nicht mit der absoluten politischen Wahrheit.

Am Sonntag, dem 2. Februar 1941 konnte man zum Beispiel lesen oder hören, dass die schwedische Handelsflotte nach amtlichen Mitteilungen aus Stockholm seit Beginn des Krieges 111 Schiffe verloren hatte, 587 Seeleute waren getötet worden.

In Zürich standen die beiden Gründer einer Kreditgenossenschaft vor Gericht, weil sie Gelder in Millionenhöhe veruntreut haben sollen. In der Zeitung der Militärs in Deutschland konnte man folgenden Artikel lesen:

Erfolge im Atlantikkrieg

Aufgrund der großen britischen Überlegenheit zur See führt die deutsche Marine einen Krieg, der sich vornehmlich gegen die überseeischen Handelsverbindungen Londons richtet. Marine-Oberbefehlshaber Erich Raeder will möglichst viele gegnerische Handelsschiffe, die Nachschub für die britische Rüstungsindustrie an Bord haben, versenken. Sein Ziel ist es dabei, ‚eine Knappheit vor allem an Kriegsmaterial’ zu erreichen. Direkte Auseinandersetzungen mit gegnerischen Kriegsschiffen seien jedoch zu vermeiden.“

Von den Briten unbemerkt, durchbrachen am 4. Februar die deutschen Schlachtschiffe „Scharnhorst“ und „Gneisenau“ die stark überwachte Dänemarkstraße und stießen in den Atlantik vor. Sie sollten Transport- und Versorgungsschiffe mit Frachtgut für Großbritannien angreifen.

Nicht für alle bestimmt war folgende Nachricht: vom 5. Februar 1941:

„Britische Flugzeuge starten erneut gegen deutsche Städte. Bei einem Angriff auf Düsseldorf sterben 35 Menschen im Bombenhagel.“

Dagegen war wichtig für alle am 6. Februar, dass das Reichspropagandaministerium die Antiquaschrift als Normalschrift eingeführt hatte. Alle Druckerzeugnisse waren von diesem Tag an auf die lateinische Druckschrift umzustellen.

Am 7. Februar wurde der bisherige Gau Koblenz-Trier in Gau Moselland umbenannt. In diesen Gau wurde Luxemburg eingegliedert, das seit Mai 1940 deutsch besetzt war.

Am 8. Februar nahmen Griechenland und Großbritannien Verhandlungen auf über die Entsendung britischer Truppen in den gegen Italien kämpfenden Ägäisstaat.

Am 9. Februar begann eine Großaktion deutscher See- und Luftstreitkräfte gegen britische Schiffe. Bis zum 12. Februar wurden 16 Schiffe versenkt.

Und an diesem Tag fand meine Taufe statt !

Am Freitag, dem 14. Februar kam ich nach Hause. Alles war nett geschmückt, Ursel hatte ein Bild gemalt und „Herzlich Willkommen“ darauf geschrieben. Mutti war total erschöpft, legte aber glücklich den kleinen dicken Kerl in das Kinderbettchen, das zunächst im Schlafzimmer aufgebaut worden war.

Schnell war auch Tante Traute eingeladen, um nach dem neuen Erdenbürger zu sehen und gute Ratschläge zu erteilen, denn immerhin hatte sie jetzt zwei Monate Erfahrungsvorsprung, während Mutti doch sechs Jahre nach der Geburt ihres ersten Kindes nicht mehr so ganz genau wusste, was alles zu tun sei mit dem Säugling. Der Bengel machte aber auch irgendwie Sorgen. Er war einfach nachts zu oft wach, dafür schlief er dann morgens in der Frühe, wenn er trinken sollte.

„Was ist denn richtig,“ lautete die bange Frage, „soll ich denn nachts aufstehen und den Jungen füttern? Soll ich ihn schreien lassen? Ich kann das aber nicht länger ertragen. Dann muss er in das Kinderzimmer!“

Selbstverständlich wusste Tante Traute auf alles eine Antwort: „Natürlich darfst du auf gar keinen Fall nachts dem Schreien nachgeben, man darf ein Kind nicht verwöhnen, der soll sich von Anfang an an die Zeiten gewöhnen, die ihm vorgegeben werden. Schieb ihn ruhig ins Kinderzimmer! Dann hörst du ihn nicht und kannst ruhig durchschlafen. Morgens wird er dich schon wecken und dann auch richtig trinken. Er ist sowieso etwas zu dick und zu träge.“

Also durfte ich nachts laut schreien, störte niemanden. Meine Mutter erzählte immer, dass ich morgens ganz ruhig in meinem Bettchen lag, ohne einen Pieps von mir zu geben und still mit meinen Händchen spielte. Was natürlich von Tante Traute als eigentümlich bezeichnet wurde und vielleicht auch behandlungsbedürftig. Auf jeden Fall müsste man den Kinderarzt fragen, auch wegen des viel zu dicken Kopfes des Knaben. Schließlich habe man immer schon geargwöhnt, dass mit dem Kind nicht alles ganz richtig sei.

„Nachts allein im Kinderbett ist es sehr, ja ausgesprochen einsam. Wer nur kümmert sich um mich? Warum kommt niemand, wenn ich schreie? Hört mich denn niemand? Das Schreien ist völlig wirkungslos! Ich glaube, ich lasse es lieber. Wenn ich so allein bin, kann ich ja friedlich vor mich hinbrummeln, das macht müde. Irgendwann schlafe ich ein. Brauche ich denn wirklich den Trost anderer? Frühmorgens kann ich meine Finger sehen. Sie bewegen sich, ich bin zwar allein, aber ich bin gar nicht einsam, ich habe ja mich zur Unterhaltung! Rufen und Schreien ist absolut sinnlos, beruhigt auch nicht die Nerven, im Gegenteil, das schwächt nur und macht traurig oder gar aggressiv. Also, konzentriere ich mich lieber auf mich selbst!“Der Kinderarzt stellte keine Fehler oder bedenkenswerten Unterschiede fest, die mich von anderen Säuglingen gleichen Alters gravierend abgehoben hätten. Sicherlich, ich war ein ausgesprochen ruhiges und auch bequemes Baby, ließ alles mit mir geschehen, ohne zu protestieren, bewegte mich auch ausgesprochen schwerfällig, aber ein Grund zu irgendwelcher Besorgnis bestand eigentlich nicht. Gut, die Blutuntersuchung hatte ergeben, dass mir gewisse Aufbaustoffe und Vitamine fehlten, aber da war in dieser schwierigen Kriegszeit auch nicht so ganz einfach dranzukommen. Man sollte etwas tun, um einer Rachitis vorzubeugen. „Ach Gott, ach Gott, der Junge könnte eine Rachitis bekommen! Wie schrecklich, wie entsetzlich, man musste alles tun. Was sagen die Behörden dazu. Wo gab es entsprechende Medikamente, wo gab es zum Beispiel Lebertran zum Aufbau der Knochen?“ Tante Traute hatte ja immer gesagt, dass etwas nicht in Ordnung wäre mit dem Jungen. Schließlich hatte sich ihre Tochter, Klein-Traute, ganz anders entwickelt. Zunächst griff Mutter nach altbewährten Hausrezepten und eigenen wichtigen Erfahrungen. Man musste ja nicht alles mit der Freundin Traute besprechen. Gott sei Dank gab es noch Haferflocken, die hatten bei Ursel auch Wunder gewirkt. Schmelzflocken konnte man leicht in ein Fläschchen füllen und zufüttern. Das half bestimmt. An Lebertran war nicht so ganz einfach heranzukommen. Aber die Behörden rieten zu Luftveränderungen und Reisen. Das kam Mutti natürlich sehr entgegen, da sie leidenschaftlich gern verreiste, was schließlich auch ihrem bürgerlichen Stand angemessen war. Der Junge wurde immer dicker. War das nun eine Folge der zugefütterten Haferflocken oder waren es erste Anzeichen einer beginnenden Rachitis? Die erste Reise im Leben des jungen Erdenbürgers führte in das Hessenland. Dort war man privat untergebracht. Hümme hieß das Ziel, Abstecher gab es nach Fürstenwald, von dort ins Wilhelmstal. Immer waren viele Menschen dabei, manchmal auch Vati, immer auch Ursel, die ständig mit ihrem Brüderchen spielte, dem kleinen dicken Harald. Von Ende Juli bis September dauerte der Ausflug in das erholsame Hessenland, also so lange, wie die großen Sommerferien, die wegen der Schulpflicht meiner Schwester für diese Erholung genutzt werden mussten. Möglich waren solche Ferien dank der staatlichen gelenkten Fürsorgemaßnahmen vor allem für Mütter und ihre Kinder, die für einen längeren Urlaub für Mutter und Kind vom „Führer“ organisiert wurden. Solche langen Erholungsaufenthalte waren finanziell erschwinglich und vom Staat entsprechend durch Verordnungen und Erlasse organisiert. Der Kontakt zu Gastfamilien war einprogrammiert und leicht herzustellen. Besonders in den Abendstunden, wenn die Gastgeber, die vorwiegend in der Landwirtschaft tätig waren, endlich Feierabend hatten, saß man oft gemütlich zusammen, um ein wenig zu plauschen und den Feierabend zu genießen. Natürlich unterhielten sie sich in jener Zeit sehr häufig über den Krieg, aber er war keineswegs das einzige Thema. „Na, Frau Fiori, Wie gefällt es Ihnen denn hier bei uns auf dem Lande? Ist doch bestimmt etwas geruhsamer als in der hektischen Großstadt. Woher kommen Sie noch mal?“ „Aus Essen, Frau Austermahl, aber wir wohnen dort eigentlich wirklich idyllisch in einem Vorort namens Margarethenhöhe. Der ganze Ort ist von einem Wald umgeben, der als Tal um den Ort herum zu Spaziergängen einlädt. Dort gibt es kleine Bäche, zwei kleine Teiche und Waldwege, die malerisch gestaltet sind. Das sollte man gar nicht glauben, dass es so etwas gibt in der Großstadt Essen. Aber es ist wirklich nicht so, dass dort nur Industrie zu finden ist oder nur Zechen.“ „Ach, dann hätten Sie eigentlich gar nicht hierher kommen müssen, zur Erholung?“ „Doch, doch, das ist schon richtig. Die Luft ist natürlich lange nicht so gut und rein wie hier. Immer hat man schwarzen Staub oder Ruß an den Fenstern. Außerdem ist es ja vor allen Dingen für den Jungen besser, wenn er hier in der Landluft aufwachsen kann. Wir haben uns schon Sorgen gemacht wegen seiner Entwicklung.“ „Ja, auch die Verpflegung ist hier noch viel besser. Ich habe gehört, dass es in den Städten immer weniger zu essen gibt, dass nicht mehr genügend Obst oder auch Fleisch zu bekommen ist, Frau Matz,. Was sagen Sie dazu?“ „Da haben Sie völlig recht, Frau Austermahl, das ist auch jetzt in Essen so, wir wohnen ja gar nicht weit auseinander, die Frau Fiori und ich, Sie haben natürlich recht, wenn Sie von der Höhe sprechen, Frau Fiori. Es lebt sich wirklich wunderbar dort, Frau Austermahl, trotz der Krupp-Werke und trotz der Zechen. Aber die sind nun mal wirklich nötig, auch wenn sie viel Dreck machen. Ja, Sie haben recht, zuletzt war es gar nicht einfach, etwas Vernünftiges auf den Tisch zu bringen. Gott sei Dank gab es wenigstens noch Milch für die Kleinen. Mein Wolfgang ist ja fast genau so alt wie der Harald.“ „Ein kleines Geheimrezept habe ich noch von meiner Tochter her angewendet“, schmunzelte meine Mutter, „ich füttere immer Haferflocken zu , und die gibt’s Gott sei Dank auch noch reichlich zu kaufen.“ „Bekommen Bergleute nicht Zusatzrationen auf den Zechen? Ihr Mann ist doch bestimmt auch im Bergbau beschäftigt, Frau Fiori?“ fragte Frau Austermahl. „Nein, um Gottes Willen, “ lachte meine Mutter, „es sind doch nicht alle Menschen in Essen bei Krupp oder im Bergbau tätig. Es gibt noch viele andere Berufe und Tätigkeiten. Aber indirekt haben Sie natürlich nicht ganz Unrecht. Auch mein Mann ist irgendwie mit dem Bergbau verbunden. Er ist Beamter beim Kohlensyndikat, das ist die oberste Bergbauaufsichtsbehörde für Deutschland. Jetzt zurzeit ist er allerdings Soldat, in Holland stationiert. Vorher hat er in der Heimat gedient bei der Polizei, wo er nach seiner Grundausbildung eingesetzt worden war. Aber lange wird der Krieg ja nicht mehr dauern, wie man immer wieder im Radio hört und in den Zeitungen liest. Wenn wir doch nur unseren Friedenskaiser wieder hätten. Kaiser Wilhelm II. hätte den Krieg bestimmt verhindern können. Aber der Führer hat ja versprochen, dass er den Kaiser wieder zurückholt, wenn die Feinde endlich besiegt sind. Dass aber auch so viele Länder Deutschland den Krieg erklären mussten!?! Was haben wir denen nur getan?“ „Da habe ich aber schon ganz andere Dinge gehört,“ warf Frau Matz ein, irgendjemand hat mir erzählt, wir hätten angegriffen.“ „Das kann ich mir gar nicht vorstellen,“ kam es unisono zurück von Frau Austermahl und meiner Mutter. „Hauptsache, wir haben nicht die roten Sozis an der Regierung!“ bemerkte meine Mutter, „ dann hätten wir allerdings nichts zu lachen. Wie die gehaust haben und ständig grölend durch die Straßen gezogen sind! Aber ich glaube, wir sollten jetzt nicht über Politik reden, es ist so schön hier, heute Abend. Sollen wir nicht ein schönes Liedchen singen!“ „Wie wär’s mit Lili Marleen?“ schlug Frau Matz vor, „das hört man doch jetzt ständig im Radio und in den Tanzlokalen.“ Mutti sang gerne und viel, sie hatte auch eine recht angenehme weiche Altstimme, aber beim Singen hatte sie einen ganz gravierenden Mangel: sie konnte niemals den richtigen Ton treffen. Ihr Gesang hörte sich einfach kläglich an. Trotzdem sang sie mit Begleitung immer gerne und zierte sich niemals. Hin und wieder fiel ein Wort der Entschuldigung, dass sie einfach den Ton nicht treffen, schon gar nicht halten könne. Im Übrigen hatte Mutti von Politik und ihrem Wirken keine Ahnung, war dazu noch äußerst gutgläubig und urteilte grundsätzlich mehr nach dem Schein, nach dem Namen der politischen Organisation oder auch nur dem Hörensagen nach. Das war in jener Zeit aber nicht allein ein Phänomen, das meine Mutter betraf. Frauen wurden in den Mädchenschulen damals grundsätzlich nicht sehr ausführlich über Geschichte oder Politik unterrichtet. Es sei denn sehr eindeutig in Richtung Nationalsozialismus und in Sachen Antisemitismus. Es wurde noch sehr viel gesungen, nicht nur an jenem Abend. Die fröhlichen Feriengäste und ihre Gastgeber in dieser „Sommerfrische“, wie Ferienorte allgemein genannt wurden, sangen alte Volkslieder und Schlager oder auch gängige Marschlieder wie „ein Heller und ein Batzen“, „Sing Nachtigall sing“, „Hoch droben auf dem Berge“, „So schön wie heut’, so müsst es bleiben“. Lale Andersen war eine überall beliebte Gesangsinterpretin. An anderen Abenden wurde natürlich immer wieder über die Lage Deutschlands gesprochen, wenn alle am Gespräch Beteiligten auch allgemein nicht sehr viel wussten und ebenso gleich wenig Ahnung hatten, von dem, was wirklich in der Welt geschah. Der eine oder die andere hatte schon mal das Datum behalten, wann eine Meldung als sehr wichtig gebracht worden war. Einig war man sich grundsätzlich aber in der Beurteilung, dass der Führer wohl wirklich wüsste, was jetzt am nötigsten zu tun sei und dass der böse Krieg, der uns armen Deutschen von den bösen Feinden aufgezwungen worden war, doch sicher bald ein Ende hätte, wie man ständig hörte bei den vielen Erfolgsmeldungen, die trotz immer häufigerer Luftangriffe auf deutsche Städte hoffen ließen, dass die deutsche Wehrmacht an allen Fronten insgesamt wohl als Sieger hervorging trotz hoher Verluste, die ab und zu zugegeben wurden. So wusste jemand zu berichten, dass die Regierung am 22.2.1941 die Bevölkerung aufgefordert haben sollte, mehr Kinder in die Welt zu setzen, Himmler der Reichsführer SS sollte das gesagt haben. Wusste auch jemand, dass am Samstag, dem 15. März 1941 die deutsche Luftwaffe mit 203 Flugzeugen die schottische Stadt Glasgow und mit 117 Maschinen die britische Stahlstadt Sheffield angegriffen hatte. Interessierte es jemanden, wie viele Tote es in England dadurch gegeben hatte? Wer fragte nach, wie die englische Bevölkerung nun in Angst und Schrecken lebte? Berichtete irgendjemand in Deutschland wahrheitsgemäß darüber, wie viele Zivilisten in England betroffen waren? Wie viele Frauen und Kinder waren getötet worden? Angegriffen und stark zerstört wurden die englischen Städte Bristol und Liverpool. Natürlich wurden wie in jedem Krieg absolut nur militärische Ziele beschossen. Denn das wusste doch damals jedes Kind, dass dort Waffen und Waffentechnik produziert wurde. Aber selbstverständlich wussten alle in Deutschland, dass die Schwimmerin Anni Kapell auf der 200 Meter Bruststrecke einen Weltrekord geschwommen hatte im Düsseldorfer Stadtbad. Schließlich konnte die deutsche Propaganda mit solchen Erfolgen die deutsche Bevölkerung von der Richtigkeit ihrer politischen Ziele und von ihrer wunderbaren Regierungstätigkeit überzeugen. 60.000 Deutsche aus den baltischen Staaten waren zurück ins Deutsche Reich übersiedelt worden. Ein besonderer Höhepunkt, eigentlich zwei Höhepunkte für die deutsche Jugend waren die Schulentlassfeiern am Samstag, dem 29. März, noch mehr die Feiern am folgenden Sonntag anlässlich der Verpflichtung zur Hitlerjugend. „Ihr werdet nicht mehr frei sein bis an euer Ende“, schallte des Führers Stimme selbst aus den Lautsprechern. Hatte das eigentlich damals kein Mensch richtig verstanden?Man sprach über den Film „Ohm Krüger“. Hatte jemand erkannt, dass es sich um einen reinen Propagandafilm handelte? Sicher sagte das schon mal jemand. Aber wollte man denn überhaupt so intensiv über Politik sprechen? „Haben Sie schon mal etwas von Bert Brechts neustem Theaterstück gehört, von „Mutter Courage und ihre Kinder“ Frau Fiori?“ „Ja, natürlich habe ich davon gehört, man spricht ja in unseren Kreisen viel über Theater, aber ich interessiere mich hauptsächlich für Opern, noch mehr für Operetten, herrlich die „Christel von der Post“ im Vogelhändler, finden Sie nicht auch. Oder Land des Lächelns „Immer nur lächeln, immer vergnügt, immer zufrieden, niemals betrübt. Doch wie’s hier drinnen aussieht, geht niemand was an“, summte meine Mutter mehr, als sie auf die Frage antwortete. Das war ihre unnachahmliche Art, Fragen auszuweichen, auf die sie keine Antworten wusste, oder die möglicherweise eine Bildungslücke hätte entlarven können. „Eigentlich meinte ich mehr, dass dieses Stück hierzulande verboten wurde. Gibt es das „Land des Lächelns“ eigentlich noch? Die Chinesen sind schließlich auch Ausländer. Führen wir nicht auch Krieg gegen sie?“ „Sind Sie nicht katholisch, Frau Fiori? Wie finden Sie eigentlich die Maßnahme, dass in Bayern alle Kruzifixe aus den Schulgebäuden und Klassenzimmern entfernt werden sollten?“ „Ach, wissen Sie, ob das etwas mit Politik zu tun hat, weiß ich gar nicht. Ich denke aber, dass jeder das mit seinem Glauben mit sich selbst abmachen muss, man sollte so etwas nicht so demonstrativ nach außen tragen. Eine Schule ist doch eigentlich mehr eine staatliche Einrichtung als eine kirchliche, da sollte doch der Staat bestimmen dürfen, was da drin geschieht und was nicht, auch wenn natürlich die Kirche ein gewisses moralisches Mitspracherecht bei der Erziehung unserer Kinder haben sollte.“ Auch das war so ganz typisch für Muttis „Diplomatie“, die besagte, dass sie sich nicht unbedingt festlegen lassen wollte, wenn es um Fragen der Religion oder der Politik ging. „Ja, vielleicht haben Sie Recht, Frau Fiori.“ „Aber wo wir gerade beim Stichwort Schule sind. Man hat ja Ende April die Hauptschule eingeführt, das soll eine Schule sein, die begabte Schüler besser ihren Neigungen entsprechend fördern soll. Geben Sie Ihre Kinder auch in eine solche Schule, Frau Fiori?“ „Das kann ich jetzt noch nicht sagen, aber ich denke bei uns ist es üblich, dass die Kinder ein Gymnasium besuchen. Für Ursel würde aber auch eine Frauenfachschule genügen. Denn sie wird doch hoffentlich standesgemäß heiraten, dann braucht sie keine höhere Schulbildung. Und bei dem Kleinen kann ich noch gar nichts sagen, er ist ja nicht mal ein Jahr alt. Wenn er es schafft, soll er ruhig studieren, aber es wäre mir auch recht, wenn er ein ehrbares Handwerk erlernt.“ „Ob Sie hinsichtlich der Frauen Recht haben, weiß ich ja nicht. Erst Ende April gab es doch eine dringende Aufforderung an Frauen, mehr zu arbeiten und mehr und mehr die Arbeiten der Männer zu übernehmen.“ „Natürlich bleibt das nicht aus in Kriegszeiten, aber so lange wird der Krieg ja nicht mehr dauern, und wenn dann endlich unser Kaiser wieder die Geschicke des Reiches lenkt, wird alles wieder so sein wie früher!“ davon war Mutti überzeugt. Sie glaubte fest daran, dass ihr geliebtes Kaiserreich nach Beendigung des Krieges wieder erstehen würde, wie es angeblich der Führer versprochen hatte. Ansonsten hielt sie es mehr mit der Bismarck-Regel, dass sich das Volk aus der Politik raushalten sollte, da es sowieso nichts davon verstünde. Andererseits war auch ihr nicht unbekannt, dass die Demokratie eine Staatsform war, die den einzelnen Bürgern mehr Rechte und Mitsprache einräumte. Doch selbst nutzen wollte sie solche Rechte nicht, solange sie dazu nicht ausdrücklich aufgefordert wurde. Wenn man bedenkt, dass nach dem Krieg die meisten Menschen behaupteten, mit Politik und der herrschenden NSDAP nichts zu tun gehabt zu haben, kommt jedem eine Haltung, wie meine Mutter sie zeigte, allgemein unglaubwürdig vor. Aber auch später nach 1948 bewies meine Mutter in ihrem Wahlverhalten, dass sie tatsächlich nichts mit Politik und schon gar nicht mit der Partei, aber auch mit demokratischen Gepflogenheiten anfangen konnte. Sicher waren nicht alle Menschen politisch so unbeteiligt wie Mutti, aber vielfach war es üblich, dass Frauen nicht sehr stark in der Politiklandschaft vertreten waren. Viele zogen daraufhin den Schluss, dass es möglicherweise niemals zu einer Machtergreifung durch den Führer gekommen wäre, wenn nur genügend Frauen politisch aufgeklärt und engagiert gewesen wären. Doch so richtig hatte das in der Männerwelt so niemand geglaubt. Denn ähnlich, wie Bismarck davon überzeugt war, dass Politik nichts für das gemeine Volk war, so war ich davon überzeugt, dass Frauen zu Besserem berufen waren als ausgerechnet zur Gestaltung der Politik! Im Jahre 1941 allerdings war ich wohl kaum in der Lage, über etwas Bestimmtes nachzudenken, obwohl ich nicht abstreiten möchte, dass ich sehr wahrscheinlich auch sehr intensiv gedacht habe, getreu der Erkenntnis „Cogito, ergo sum.“ „Ich denke, also bin ich.“ Tatsächlich wurde mir aber von einer bestimmten Seite abgesprochen, dass ich möglicherweise denken konnte. Denn zum Denken hatte ich einen viel zu dicken Kopf, meinte jedenfalls Tante Traute. Sie hatte überhaupt immer mehr und mehr starke Bedenken, ob ich überhaupt normal sei und mich normal entwickelte. Schließlich war ihre Tochter nicht nur zarter, sondern auch in aller Hinsicht weiter und gesünder entwickelt. „Ein Kind, das schon ein halbes Jahr alt ist, muss bereits alleine sitzen können! Dein Sohn, liebe Gretel, aber sitzt überhaupt noch nicht, liegt immer dick und unbeweglich da wie eine Plunder“, meinte sie immer häufiger. „Du solltest mal untersuchen lassen, ob er nicht einen Wasserkopf hat.“ „Also Traute, das hat er bestimmt nicht. Der Arzt hat zwar gesagt, dass der Kopf wirklich sehr groß ist für sein Alter, aber das wächst sich mit der Zeit aus. Auch sonst ist alles in Ordnung, meinte der Kinderarzt. Der Junge ist einfach zu faul. Er wird schon noch beweglicher, wenn er älter wird. Nicht jedes Kind entwickelt sich gleich!“ wusste Mutti zu antworten. Doch Tante Traute blieb skeptisch. So ganz geheuer und ganz normal erschien ihr der kleine unbewegliche Fettsack nicht. Gut, dass wir häufiger verreisten, sonst hätte Mutti bestimmt noch daran gezweifelt, ob ihr Sohnemännchen, ihr Bübchen, tatsächlich normal war oder nicht. Sollte man in diesem zarten Alter etwa schon Rückschlüsse ziehen auf eine spätere berufliche Entwicklung des Knaben? Die nächste Reise führte bereits im Februar 1942 nach Legau im Allgäu. Aber diesmal fuhr Tante Traute mit, mit ihrem Töchterchen Traute. Doch zuvor gab es noch unangenehme Erlebnisse zu Hause und überhaupt in Deutschland. Denn entgegen allen Beteuerungen des Propagandaministers kam es immer wieder zu Luftangriffen auf deutsche Städte. Auch drangen Meldungen von den Fronten durch, so dass die Besorgnis um sich griff, dass vielleicht doch der Krieg nicht unbedingt so siegreich für Deutschland verlief, wie man das immer offiziell hörte und in den Zeitungen lesen konnte. Dabei spielte eine geringere Rolle, dass antibritische Regierungstruppen im Irak den Ölkrieg begonnen hatten am 30. April 1941. Man hörte wohl auch, dass Haile Selassie, der Kaiser von Abessinien, bzw. Äthiopien, wieder in Addis Abeba einzog, nachdem sein Land zurückerobert worden war durch die Briten. Uninteressant war für die meisten Deutschen auch, dass Stalin den Vorsitz der Regierung im fernen Moskau übernahm, schließlich wurde zwar gegen die Russen gehetzt, man führte jedoch keinen Krieg gegen Russland. Also störte auch später niemanden in Deutschland, dass sich auch Stalin zu einem Diktator entwickelte. Nicht überraschend für Eingeweihte war auch die Tatsache, dass Deutschland urplötzlich im Juni 1942 den ehemaligen Verbündeten Russland überfiel. Aber alles das interessierte weder mich in damaliger Zeit besonders, noch Mutti, die selten genug Zeitung las oder Nachrichten hörte, obwohl die ganze Zeit schon sehr beunruhigend war. Es war zu beklagen, dass viele Lebensmittel nicht mehr in dem Umfang zu haben waren wie man das sonst gewohnt war. Vor allem fehlte der geliebte Bohnenkaffee, den man sich sowieso nur noch recht selten gegönnt hatte. Auch hörte man immer häufiger Sirenen heulen. Angst kam auf. Trotzdem mochte Mutti mit den beiden Kindern nicht jedes Mal bei Fliegeralarm in den nahe gelegenen Bunker laufen. Oft blieb sie im Keller, manchmal sogar im Hausflur oder in der Wohnung, ängstlich darauf hoffend, dass keine Bombe in der Nähe herunterkam. Tante Traute war da schon ganz anders, sie drängte immer wieder darauf, doch schnellstens in den Bunker zu verschwinden. Aber sie hatte es auch etwas leichter mit nur einem Kind. Wie war das noch mit dem Sieger? War Deutschland etwa nicht mehr auf der Siegerstraße? Schließlich konnte es doch dem siegreichen Land voller Herrenmenschen nicht geschehen, dass auf die eigene Bevölkerung Bomben geworfen wurden. Inzwischen waren wir alle wieder wohlbehalten in Essen und freuten uns trotz aller Bedrohungen und trotz der immer größer werdenden Lebensmittelknappheit auf das erste Weihnachtsfest, das Bübchen, also ich, erleben durfte. Opa war genau aus diesem Grunde von Godesberg aus gekommen, um dieses Weihnachtsfest mit seinem ersten männlichen Enkel, dem Thronfolger, dem Weiterbringer seines Namens zu feiern. Endlich kein Pisspinchen hatte er immer gesagt, nachdem ich geboren worden war, denn bisher hatten seine Söhne es „nur“ zu Töchtern gebracht, zu Hiltrud in Köln, der Erstgeborenen von Tante Else und Onkel Erich, ja und mein Vater mit Margarete, genannt Gretel, eben „nur“ zu meiner Schwester Ursula. Vor lauter Stolz und Vorfreude kam Opa auch alleine nach Essen. Oma wollte lieber in Bad Godesberg mit ihrer Tochter Erna Weihnachten feiern. Auch hatte sie Angst zu reisen in diesen unruhigen Zeiten. Schließlich waren doch schon einige Bomben über Deutschland gefallen. Gab es nicht auch einen Aufruf des Führers, das Fest ruhig im Familienkreise zu begehen? Ja, und Mütter sollten belohnt werden, die noch schwanger wurden, denn schließlich brauchte Deutschland den Nachwuchs dringend.. Wer weiß schon genau, warum Oma nicht mit gekommen war. Gründe hatte sie genügend genannt. Der Heilige Abend war dann aber gar nicht so schön, wie unsere Familie sich diesen Festtag gedacht und gewünscht hatte. Ich war im Schlafzimmer in meinem Kinderbettchen eingeschlafen. Mutti und Vati schmückten den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer: Ursel spielte oben in der Mansarde mit Opa, denn sie durfte doch das Christkind nicht sehen, das gerade in diesem Augenblick die Geschenke brachte. Wenn ein Kind das Christkind sah, wurde dieses sofort wieder unsichtbar, und noch viel schlimmer, es nahm auch alle Geschenke wieder mit, die es eigentlich den Kindern und der Familie bringen wollte. Deshalb also spielte Ursel mit Opa oben in der Mansarde und jauchzte vor Vergnügen, denn Opa war sehr lustig. Sie jauchzte auch noch, als Opa dann auf dem Sessel saß und plötzlich laut atmete und dann ganz eigentümlich begann zu stöhnen. Was mochte das wieder für ein lustiges Spiel sein, was Opa sich da ausgedacht hatte. Ja, und dann war Opa ganz still. Ursel lachte laut, das fand sie lustig. Wie lange Opa nur dieses Spiel durchhielt. Bald musste er aber wieder aufwachen von seinem Schlafspiel. Denn bald würden Mama und Papa raufkommen und sie beide ins Weihnachtszimmer holen. Das dauerte aber lange. Gott sei Dank kam Mutti herauf. „Schau mal, Mutti, was Opa mit mir spielt!“ Opa lag auf dem Sessel. Mutti rief: „Vater, Vater!“ Opa rührte sich nicht. Opa war gerade gestorben. Die Familie feierte ein trauriges Weihnachtsfest. Dabei war alles so schön vorgeplant gewesen. Vor allen Dingen die Freude Opas, mit seinem ersten männlichen Enkel dessen erstes Weihnachtsfest zu feiern. Statt dessen Aufregung, Arztbesuch, Telegramm nach Godesberg, Anreise von Oma und Tante Erna. Die Beerdigung fand auf dem großen Südwestfriedhof in Essen statt. An eine Überführung nach Bad Godesberg war nicht zu denken, wurde auch nicht dran gedacht. Schließlich war die Stadt Essen auch nicht allzu weit entfernt vom Geburtsort von Oma Fiori. Kalt war es auf dem Friedhof. Nur wenige Leute waren mitgegangen, Opa war nicht so sehr bekannt in Essen, und die Familie Fiori auch nicht allzu sehr. Einige Freunde der Familie waren da. Die Verwandten von Mutti konnten alle nicht erscheinen. Aber Onkel Erich und Tante Else mit Hiltrud aus Köln waren selbstverständlich angereist. Opas Tod war auch für sie besonders schmerzlich, denn auch Onkel Erich hatte sehr an seinem Vater gehangen. Dass ich ebenfalls fürchterlich weinte und brüllte, war eigentlich selbstverständlich, obwohl ich weniger aus Trauer um den Verlust dieses lieben Menschen in Tränen ausbrach. Um das genau zu begreifen, war ich noch viel zu klein, immerhin noch kein Jahr alt. Aber die allgemeine Aufregung, die Trauer der Erwachsenen und der anderen Kinder blieb auch nicht ohne Wirkung auf mich. Sowohl Ursel als auch unsere Cousine Hiltrud weinten sehr. Wenn auch Opa über die „Pisspinchen“ nur gelächelt hatte, so war er doch auch ihnen ein sehr lieber Großvater gewesen, und anders als ich, verstanden diese beiden großen Mädchen, sie waren immerhin schon acht und sieben Jahre alt, sehr genau, dass nun ihr lieber Opa für immer von ihnen gegangen war. Aufregung herrschte aber auch wegen der unklaren Verhältnisse wegen des Krieges. Immerhin waren Bomben auf deutsche Städte gefallen, und es traten tatsächlich erste Zweifel am Endsieg auf. Aber man wagte nicht, darüber zu reden. Onkel Erich war einfach zu sehr überzeugt, er wie auch Tante Else waren auch Mitglieder in der Partei. Vati glaubte natürlich auch noch als Soldat an die gute Sache, die er zu vertreten hatte. Eigentlich war Onkel Erich mehr ein Parteianhänger des Zentrums, aber auch diese Partei hatte sozusagen klar Stellung bezogen für den Krieg, in den Deutschland hineingezogen worden war, so völlig ohne eigenes Verschulden. Oder wusste doch jemand mehr, als er zugeben wollte. Natürlich sprachen viele in der Nachbarschaft und im Familienkreis auch darüber, aber niemand mochte so recht sagen, dass Deutschland eigentlich den Krieg angefangen hatte. Man hatte aber auch völlig andere Sorgen, schließlich wurde allmählich die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und vor allen Dingen mit ausländischen Früchten knapp. Auch war es gar nicht so einfach gewesen, zur Beerdigung nach Essen anzureisen. Nicht alle Züge verkehrten mehr regelmäßig. Gut, Onkel Erich hatte Gott sei Dank ein eigenes Auto und war mit der Familie damit hergekommen. Er musste aber auch bald wieder fort, schließlich war er aktiver Offizier bei der Wehrmacht. Eine innige Bruderliebe herrschte nicht gerade zwischen meinem Vater und Onkel Erich. Besonders zu diesem Zeitpunkt wurde wieder deutlich, dass mein Vater nicht viel von seinem älteren Bruder hielt, den er insgeheim als Schmarotzer bezeichnete. Schließlich trug der die Schuld daran, dass mein Vater nicht studiert hatte. Denn mein Vater hatte, so erzählte er immer wieder gerne, zugunsten seines Bruders darauf verzichtet, ein richtiges Abitur zu machen und zu studieren, weil nach Auskunft meiner Großeltern nur für das Studium eines Sohnes das Geld gereicht hätte. Und ausgerechnet dieser Bruder, der doch als studierter Diplomingenieur und aktiver Offizier genug Geld hatte, sich ein Auto zu leisten, was mein Vater nicht einmal erträumen konnte, eben weil er doch zurückgesteckt hatte, ausgerechnet dieser Bruder hatte es nicht einmal für nötig gehalten, seine eigene Mutter aus Bad Godesberg mit dem Wagen abzuholen. Das war in den Augen meines Vaters schon deshalb unverzeihlich, weil einmal die Distanz zwischen Köln und Bad Godesberg nicht allzu groß war, und schließlich auch die Ehefrau mit der Bahn hätte fahren können statt der Mutter. Mein Vater jedenfalls hätte so gehandelt, immerhin war er zur Ehrfurcht gegenüber den Eltern erzogen worden und zu Anstand und Ehre. Aber so ist das eben mit verwöhnten Geschwistern, reicht man ihnen erst einmal den kleinen Finger, nehmen sie gleich die ganze Hand. Freilich auch die Schwägerin war nicht ganz nach Vatis Geschmack. Sie war für eine Frau der damaligen Zeit viel zu selbstbewusst, hatte sogar die Stirn, sich eine eigene Existenz aufzubauen, war Raucherin, das an und für sich schon sehr verwerflich zu nennen war, und sie hielt das Geld zusammen und machte ihrem Mann, man glaube es kaum, sogar Vorschriften, wofür das liebe Geld ausgegeben werden durfte. Da war mein Vater doch ein ganz anderer Kerl. Er bestimmte, was in der Familie zu geschehen hatte. Dass Mutti rauchte, wäre wohl undenkbar gewesen. Und über geldliche Dinge war sie auf keinen Fall aufzuklären, soweit käme das noch. Was verstand eine Frau schon von Geld. Sie musste auch nicht wissen, wie viel Geld Vati verdiente und zur Verfügung stand. Schließlich hatte Vati die Arbeit und die Verantwortung für die Familie und obendrein noch ein recht teures Laster, das er sich auch von niemandem nehmen lassen würde. Ganz so teuer war es allerdings auch wieder nicht in seinen Augen, beruhigte Vati sich selbst, wenn er an die vielen Ausgaben dachte für Bier und Schnaps. Aber dass der Sohn seiner eigenen Mutter zumutete mit der Bahn anzureisen, obwohl ein Auto zur Verfügung stand, das war unverzeihlich! So war es auch nicht allzu verwunderlich, dass die Unterhaltung sich etwas fremdelnd dahin schleppte. Zwischen den Frauen kam es wohl zu lebhaftem Austausch von Erinnerungen, vor allem über Erlebnisse mit Opa, aber auch über die Geburten, über Probleme mit der Kindererziehung, über einige Kriegsereignisse, auch über den Mangel an bestimmten Lebensmitteln, die man nun vermisste. Nur die Brüder hatten sich verhältnismäßig wenig zu sagen. Beide saßen dort, mehr oder weniger stumm vor sich hin rauchend, und hingen ihren Gedanken nach. Als Tante Else sich dann eine Zigarette anzündete, ließ Vati seine sonst an den Tag gelegte Galanterie allem Weiblichen gegenüber völlig fallen. Nicht nur, dass er seiner Schwägerin keine Zigarette angeboten hatte, er bot ihr nicht einmal Feuer an, sondern schaute nur äußerst missbilligend in ihre Richtung und raunte unhörbar für alle anderen seiner Frau zu: „Dass sie jetzt auch noch rauchen muss, grenzt wirklich fast an Unverschämtheit. Hat sie denn nichts davon gehört, dass Frauen in Deutschland auf jeglichen Tabakgenuss verzichten sollen zugunsten der kämpfenden Soldaten? Da müssen ehrenhafte junge Männer ihre Knochen hinhalten, damit solche Frauen wie sie ein geordnetes Leben in Frieden führen können, aber sie ist nicht in der Lage zugunsten dieser wichtigen und unbedingt notwendigen Armee auf ihr Laster zu verzichten, Gretel!“ „Was hast du gerade gesagt, Walter?“ wandte sich Tante Else an ihn. Hatte sie doch etwas gehört? „Ach, nichts von Bedeutung, galt nur Gretel“, erwiderte Vati, denn dazu war er nicht mutig genug, sich ausgerechnet heute mit seiner Schwägerin anzulegen. Überhaupt fand er natürlich den Anlass absolut nicht passend kurz nach der Beerdigung mit irgendjemandem über das Rauchen zu streiten, über das Benehmen von Frauen im Allgemeinen oder über die Untugend, dass Frauen rauchten. Natürlich wusste er auch, dass Einwände seinerseits bestimmt sehr unglaubwürdig klangen, da seine Fingerspitzen schon ganz gelb bis braun waren von seiner eigenen ständigen Qualmerei. Andererseits war er aber auch davon überzeugt, dass Tante Else den Aufruf im Radio gehört oder in der Zeitung gelesen haben musste, dass Frauen in Deutschland ihren eigenen Zigarettenkonsum zurückstellen sollten wegen des hohen Bedarfs an Tabakwaren an allen Fronten. Sie musste es wissen! Vielleicht wollte sie ja auch nur provozieren mit ihrer Raucherei. Also fand er doch noch eine seiner Meinung nach passende Bemerkung in die Richtung auf Tante Else gemünzt: „Tabak ist jetzt schon sehr knapp geworden. Wollen hoffen, dass wir noch weiter Zigaretten bekommen!“ „Ach da habe ich keine Sorgen“, gab Tante Else zurück, „für Soldaten wird wohl hinreichend gesorgt, so dass Erich mir sicher immer noch die eine oder andere Schachtel mitbringen kann. Andererseits habe ich durch meine geschäftlichen Beziehungen auch noch andere sichere Quellen.“ Damit war dieses Gespräch vorläufig erschöpft. Mein Geburtsjahr neigte sich dem Ende zu. Ähnlich traurig wie das Weihnachtsfest wurde auch Silvester in unserer Familie gefeiert. An eine fröhliche Silvesterknallerei war auf keinen Fall zu denken, da auch das Knallen nicht gerne gesehen wurde. Schließlich hatte es auch so genug in der Welt geknallt. Gut, etwas Sekt war vorhanden, aber auch andere Spirituosen hatte Vati bis Mitternacht konsumiert, Mutti das eine oder andere Likörchen genippt und Ursel durfte auch bis 24.00 Uhr aufbleiben und den Eltern ein frohes neues Jahr wünschen. Ich selbst hatte den Jahreswechsel ordnungsgemäß verschlafen. Ein Jahresrückblick auf mein Geburtsjahr hätte vielleicht folgende Highlights ergeben: Roosevelt, der einzige mögliche Präsident, der in Amerika für ein militärisches Eingreifen gegen Deutschland und Italien eintrat, wurde zum dritten Male wieder gewählt. Wichtig für Deutschland, allerdings mehr unbemerkt von der Bevölkerung war das Ende des Parallelkrieges. Das bedeutete, dass nun nicht mehr Italien allein im südlichen Europa Krieg führte und Deutschland allein im nördlichen, sondern dass ab 19. Januar 1941 deutsche Truppen auch im Mittelmeerraum kämpften. Siege in Belgrad und Athen, - Hitler hatte ohne jegliche Vorwarnung sowohl Jugoslawien als auch Griechenland angegriffen und die Hauptstädte besetzt-, wurden entsprechend propagandistisch aufgewertet, obwohl die meisten Deutschen gar nicht wussten, warum auch diese Länder zu den bösen Feinden gehörten. Erwin Rommels Erfolge in der Wüste wurden gefeiert. Im Mai hatte man noch einmal sportliche Erfolge zu verkünden: Der deutsche Rudolf Harbig stellt einen deutschen Rekord im 1000m-Lauf auf. Weniger lautstark wurde gemeldet, dass britische Truppen im Krieg gegen den Irak die Hauptstadt Bagdad erobert hatten. Während am 22. Juni Schalke 04 gegen Rapid Wien das Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft verlor, griff am gleichen Tage die deutsche Armee entgegen allen geschlossenen Verträgen unverhofft die Sowjetunion an. Für die Deutschen war dieser Überfall wahrscheinlich weniger überraschend als für die Russen, denn schon lange war in der deutschen Presse vom Untermenschen und vom möglichen Feind die Rede, wenn über die Sowjetunion berichtet wurde. In der Schweiz starb am 6. Juni der Automobilkonstrukteur Louis Chevrolet. Deutsche Einzelhändler durften ihre Schaufenster nicht mit Waren dekorieren, die nicht mehr erhältlich waren. Und das waren inzwischen schon sehr viele. Rumänien und Italien erklärten den UdSSR den Krieg, gefolgt von den Ländern Ungarn und Slowakei. Willy Fritsch, Theo Lingen und Hedwig Bleibtreu wurden als Hauptdarsteller in dem Musikfilm „Dreimal Hochzeit“ gefeiert. Finnland erklärte der Sowjetunion den Krieg, weil es angeblich angegriffen worden war. Konrad Zuse hatte den ersten funktionsfähigen Computer fertiggestellt. Adolf Hitler hatte verkündet, dass die russischen Städte Moskau und Leningrad dem Erdboden gleichgemacht werden müssten, damit man die dortige Bevölkerung nicht ernähren müsse, und 328 000 sowjetische Soldaten gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Nicht bekannt gemacht wurde die Ermordung des Paters Kolbe im KZ, wie überhaupt die Konzentrationslager nicht unbedingt zu den Dingen gehörten, die in der Bevölkerung entsprechend publiziert wurden. Gastwirte durften laut einer Verfügung bei der Übertragung von Wehrmachtsberichten keine Gäste bedienen, weil das das Zuhören erschwert oder gestört hätte. Ab August führte Stalin die Rote Armee, und London sicherte sich durch einen Sieg im Iran die dortigen Ölfelder. In Japan wurde die Generalmobilmachung verkündet. Christliche Kirchen wandten sich in Deutschland trotz Bedrohung gegen die NS-Euthanasie, die vorsah, Menschen zu töten, die von den Nationalsozialisten als „lebensunwert“ betrachtet wurden. Alle niederländischen Kinos mussten auf Anweisung der deutschen Besatzungsmacht ein halbes Jahr lang den Film „Der ewige Jude“ zeigen, obwohl oder vielleicht weil dort sehr stark gegen die Deportation von Juden demonstriert worden war. Am 29. April gab es in Berlin eine Uraufführung mit dem Film „Ich klage an“ von Regisseur Liebeneiner, in dem aktive Sterbehilfe propagiert wurde. Unpassende Begleiterscheinungen solcher „kulturellen“ Ereignisse waren heftige Bombenangriffes der britischen Luftwaffe auf deutsche Städte wie Hamburg, Berlin und Frankfurt am Main. Ab 1. September mussten alle Juden den Judenstern offen und öffentlich tragen. Wenig später kam es zum Massenmord mit Zyklon B im Konzentrationslager Auschwitz, wovon aber auch die meisten Deutschen nichts erfuhren, obwohl ständig Gerüchte durchdrangen. Eine Änderung des Strafrechts war beschlossen oder verordnet worden, die eine schärfere Anwendung der Todesstrafe unter anderen für Gewohnheits- und Sittlichkeitsverbrecher vorsah. In Amerika wurde der Film „Suspicion (Verdacht) mit dem Hauptdarsteller Cary Grant uraufgeführt, ein Film des damals schon bekannten Regisseurs Hitchcock. Die Rote Armee hatte die „Stalinorgel“ bekommen, ein Geschosswerfer, der von der deutschen Wehrmacht sehr gefürchtet wurde. Der amerikanische Schauspieler Humphrey Bogart wurde berühmt. Der Vormarsch der deutschen Armee geriet vor Moskau wegen des beginnenden Winters ins Stocken. Der erste deutsche Farbfilm „Frauen sind doch bessere Diplomaten“ mit Marika Rökk wurde in Berlin uraufgeführt. Am 1. November verwüstete eine Sturmflut bei den Kanarischen Inseln die Insel Gomera. Die deutsche Bevölkerung wurde am 22. November aufgefordert, zwischen sechs und zehn Uhr keine elektrischen Geräte zu verwenden, um Strom zu sparen. Eine Meldung vom 25. November besagte, dass in Deutschland 1.179.000 Kriegsgefangene lebten, von denen viele als Zwangsarbeiter verpflichtet wurden. Ein Fußballländerspiel in Breslau, das die deutsche Nationalmannschaft mit 4 : 0 gegen eine Auswahl der Slowakei gewann, sollte Normalität vortäuschen und lenkte ab von wirklich dramatischen Ereignissen des gleichen Tages: In Afrika musste Feldmarschall Rommel mit seinen Truppen den englischen Offensiven weichen. Ohne jegliche Vorwarnung überfielen japanische Flieger und Kriegsschiffe den amerikanischen Stützpunkt Pearl Harbor, was zu gegenseitigen Kriegserklärungen am nächsten Tage führte. Vor dem deutschen Reichstag verlas der Reichskanzler Adolf Hitler die deutsche Kriegserklärung an die USA. Aber auch kulturell blieb das Deutsche Reich im Dezember nicht untätig: Adolf Hitler ordnete an, dass das Drama „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller wegen seines revolutionären Charakters nicht mehr im Schulunterricht behandelt werden durfte. Am 16. Dezember wurde der Film „Quax, der Bruchpilot“ mit Heinz Rühmann uraufgeführt, am 30. Dezember der Liebesfilm „Illusion“ mit Johannes Heesters und Brigitte Horney in den Hauptrollen. Eindringlich warnten namhafte Schriftsteller aus dem Ausland, so Thomas Mann, der im US-Exil lebte, vor dem Krieg und seinen Folgen. Von all diesen dramatischen Entwicklungen merkte und spürte ein kleiner Junge, gerade zu Beginn dieses Jahres geboren, natürlich nichts. Für mich galten als die wichtigsten Ereignisse des Jahres eindeutig die Umstellung von der Kindernahrung Alete auf normale Kost. Ebenso wichtig waren die zärtlichen Zuwendungen meiner Mutter und die vehemente Abwehr meinerseits gegenüber meiner „großen“ Schwester, die mich mit ihren eigenen Beweisen ihrer Liebe schier erdrückte. Mittelpunkt meines Lebens war einzig und allein Mutti, die ich, wahrscheinlich wie jedes Kind dieses Alters, als das Vollkommenste und Schönste empfand, was ein Kind überhaupt erleben konnte. Was empfinden Kinder?