Schlag doch zu! Autobiografie

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Es giebt gar keine wirksamere innere

Mission als den Ehestand für zwei

Rechtschaffene Menschen.

 Paul Heyse.






Oder





„Zu weit getrieben

verfehlt die Strenge ihres weisen

Zwecks,

und allzu straff gespannt, zerspringt

der Bogen.



Schiller






Schön ist auch:




Es ist kein Gräslein je so klein,

Das nicht zu etwas nutz thät sein.



Derartige Sprüche zu lesen, mag wirklich sehr vergnüglich sein, aber es soll hier nicht der gesamte Inhalt dieses „ehrwürdigen“ Albums wiedergegeben werden, obwohl gerade die Auswahl der Sprüche einen tiefen Einblick geben könnte in die Moral, Bildung und Ehrenhaftigkeit meiner Vorfahren.

Bereits auf der nächsten Seite ist der Text des Liedes „Üb immer Treu und Redlichkeit“ abgedruckt. Immerhin sind die nächsten 58 Seiten nur mit solchen Texten säuberlich beklebt, bis wieder eine Werbeanzeige erscheint, dieses Mal in großen Buchstaben bietet Joh. Dollheiser als Apparaten Fabrikant „Verbesserte Archimedische Schrauben-Ventilatoren & Rauchleiter“ an. Eine Auswahl von nur drei Sprüchen auf dieser Seite zeigt die ehrenwerte Gesinnung:




„Recht ist hüben zwar wie drüben,

Aber danach sollst du trachten;

Eigne Rechte mild zu üben,

Fremde Rechte streng zu achten!“

 Emanuel Geibel






„Ein Leben viel in Gesellschaft ist

eine stete Flucht vor der Leere

in sich selbst.“

 Rahel von Varnhagen





„Erwünschte Arbeit ist der Leiden Arzt“

 Shakespeare






Auf der Seite davor ist allerdings ein Zeitungsartikel eingeklebt, der ein wenig Aufschluss gibt über die Tätigkeit:



„Die Patent-Regenerativ-Gas-Wenham-Lampe scheint eine grosse Zukunft zu haben und berufen zu sein, dem elektrischen Licht erfolgreiche Concurrenz zu machen. Man sieht sie schon überall in Anwendung, da ihre Vortheile ganz bedeutend sind. Ausserordentliche Gas-Ersparniss, in Folge dessen geringere Hitze, Reinheit, Intensität, Gleichmässigkeit und Beständigkeit des Lichtes machen diese Lampen für Hotels und Restaurants nicht nur, sondern auch für grössere Geschäfte, in denen kein elektrisches Licht angelegt, fast unentbehrlich. Der Vertreter für diese Lampen ist Joh. Dollheiser in Köln, Peterstrasse 21, der mit dem Diplom zur goldenen Medaille ausgezeichnet wurde.“




Ein einziges Zeitungsblatt weist auf die ungefähre Zeit hin, in der diese Anzeigen und Sprüche offenbar im Kölner Merkur abgedruckt wurden, diese Zeitung stammt vom 20. Juli 1894.




Wann immer ich als kleiner Bub einen Gegenstand in seine Einzelteile zerlegte oder einen alten Wecker auseinander nahm, erwähnte meine Mutter ihren Großvater, von dem ich ihren Worten zu Folge den Erfindergeist geerbt haben musste. In gleichem Zusammenhang erwähnte Mutter dann ebenfalls, dass sie ihre „rheinische Frohnatur“ dem Erbgut jener Kölner Vorfahren zu verdanken hätte, wovon ich dann allerdings noch nicht so sehr viel geerbt haben konnte.

Vor so viel bewundernswerter Erbmasse verblasste sehr wahrscheinlich das Erbgut ihres eigenen Vaters, meines Großvaters, der im gleichen Jahr, dem Geburtsjahr meiner Mutter, am 14. September 1901, im Alter von 34 Jahren gestorben war. Von diesen Großeltern meiner Mutter wurde weniger erzählt, ohne dass dieses Schweigen begründet wurde. Heinrich Leggewie war der Sohn eines Heinrich Leggewie aus Essen und dessen Ehefrau Maria Elisabeth, geborene Kleinebrahm, ebenfalls aus Essen. Beide Urgroßeltern waren Nachkommen einer größeren Bauernschaft bzw. eines größeren Hofes.

Ob nun die bäuerliche Herkunft Ursache dafür war, dass von diesen Großeltern weniger erzählt wurde oder einfache Unkenntnis, mag ich nicht entscheiden. Jedenfalls wurde von der Familie des Vaters meiner Mutter weniger gesprochen, wohl von ihrem Vater selbst. Denn dieser hatte den hochehrenwerten Beruf eines Markscheiders.

Genau konnte mir meine Mutter nie beantworten, was denn ein Markscheider sei oder zu tun hatte. Sie wusste nur, dass er in irgendeinem Zusammenhang stand mit dem Bergbau. Dabei sprach meine Mutter immer mit solch einer Ehrfurcht von diesem Beruf, dass sich bei mir der Eindruck verfestigte, ein Markscheider müsse ein Mann sein, der weit über der Direktion eines Bergwerkes in einer Landesvermessungsanstalt tätig sei und weisungsbefugt.

Da es aber um Gene geht, die den Lehrer prägen könnten, sei erwähnt, dass ich der Aussage meiner Mutter nach, ganz offensichtlich eine hohe mathematische Begabung geerbt haben müsse von eben diesem „Markscheidergroßvater“, der leider viel zu jung gestorben war.

Solche Aussagen bekam ich allerdings nur dann zu hören, wenn ich ausnahmsweise einmal schwierigere Rechenoperationen schneller und leichter lösen konnte als andere Familienmitglieder.

Vor allem aber Mutti stand mit Zahlen auf dem Kriegsfuß, ganz speziell aber mit geometrischen Begriffen, die angeblich in dem Lyzeum, das sie besucht hatte, überhaupt nicht in Mathematikstunden unterrichtet wurden. Wie ich erst spät feststellte, gab es für meine Mutter zum Beispiel keinen gravierenden Unterschied zwischen Millimetern und Zentimetern, wie überhaupt jegliche Messerei und Rechnerei ihr wenig Vergnügen bereiteten. Deshalb nahm mir in der Familie auch niemand übel, wenn ich im Fach Mathematik eher ausreichende, manchmal sogar mangelhafte Leistungen zeigte, trotz der ererbten mathematischen Begabung.

Ein Zeugnis, ausgestellt vom katholischen Oberlyzeum zu Dortmund, vom 3. April 1919 mag verdeutlichen, dass bestimmte Fächer tatsächlich nicht unterrichtet wurden, andere wieder, die in heutigen Schulen weniger stark im Vordergrund stehen, dort offensichtlich eine starke Position einnahmen. Das Zeugnis trägt im Kopf die Bezeichnung „Frauenschulklasse II, was bedeutet, dass meine Mutter damals die Sekunda, zehnte oder elfte Klasse, besuchte, ob Ober- oder Untersekunda wird nicht erwähnt, ebenso nicht, wie weit ein mögliches Abitur noch entfernt ist. Mutti erzählte nur immer, dass ihr Pflegevater es nicht unbedingt für erforderlich hielt, dass ein Mädel ihrer Herkunft tatsächlich das Abitur brauchte. Nach heutigen Maßstäben hätte auch der ausgewiesene Fächerkanon dazu nicht gereicht.







Katholisches Oberlyzeum zu Dortmund.





________________






Frauenschulklasse...II...






Zeugnis




Der Schülerin: Margarete Leggewie




Für die Zeit von Ostern 1918 bis Ostern 1919



I. Führung:

gut bis sehr gut




II. Aufmerksamkeit:

gut






III. Kenntnisse und Leistungen:





Pädagogik: gut



Haushaltungskunde: genügend



Kindergartenunterweisung: genügend



Gesundheitslehre und Kinderpflege: gut



Bürgerkunde und Volkswirtschaftslehre: 1)gut 2)genügend



Hauswirtschaftliches Rechnen(Buchführung): 1)genügend 2)genügend



Nadelarbeit: genügend



Religion: genügend



Deutsche Literatur und Lebenskunde: genügend



Französisch, Englisch, Latein, Italienisch sind gestrichen



Geschichte: (Erd- und Naturkunde gestrichen): gut



Kunstgeschichte: genügend



Turnen: mit Strich benotet,



Zeichnen, Malen (durchgestrichen): Fröbelarbeit: genügend



Gesellschaftskunde: genügend



Versäumnisse:

106 Unterrichtsstunden Siegel und Unterschriften



Es sei noch einmal zur Verdeutlichung der Familienverhältnisse erwähnt, dass meine Mutter bereits im Jahre ihrer Geburt, 1901, Vollwaise geworden war. Dank der gutbürgerlichen Erziehung ihrer Familie und der besonders christlich ethischen Gesinnung dieses Familienverbandes musste sie aber keineswegs in einem Waisenhaus aufwachsen, sondern wurde mit ihren beiden älteren Brüdern zusammen von der Familie Becker in Dortmund aufgenommen und erzogen. Herr Josef Becker, ihr Ziehvater, war mit der Schwester ihres Vaters verheiratet, einer Anna-Maria Leggewie. Wenn auch von diesen Zieheltern wenig erzählt wurde, wurde mir schon sehr früh beigebracht, dass diese Familie der Inbegriff des Gutbürgerlichen schlechthin war. Die Familie Becker betrieb und besaß den Erzählungen zu Folge in Dortmund eine Weingroßhandlung. Der ethischen und höchst moralischen Gesinnung dieser Familie war es zu verdanken, dass die drei Waisenkinder so erzogen wurden, als lebten ihre Eltern noch.

Entsprechend dem Vermächtnis des verstorbenen Vaters, der offenbar recht vermögend gewesen sein musste, sollten die Jungen je nach Begabung ein Handwerk erlernen oder ein Gymnasium besuchen und studieren, wonach ihnen der Sinn stünde. Meine Mutter als jüngst geborenes Kind und als Mädchen sollte eine angemessene bürgerliche Schulbildung erhalten, und wenn sie denn unbedingt wollte, vielleicht auch einen Beruf erlernen.

Wenn ich Mutti recht verstanden habe, war es in ihren vornehmen Kreisen keineswegs üblich, dass ein Mädchen einen Beruf haben musste, auch ein Studium war für Mädchen offenbar nicht vorgesehen.

Deshalb war der ganze Stolz meiner Mutter zu spüren, wenn sie davon sprach, dass beide Brüder ein Gymnasium absolvierten, der älteste Bruder später ein tüchtiger Arzt wurde, ihr zweiter Bruder leider nicht studierte, aber einen ehrenwerten Posten in der Versicherungsbranche innehatte, und sie selbst ein Lyzeum besuchen durfte.

Aus jedem ihrer Worte sprach die absolute Vornehmheit ihrer Familie. Leider erzählte sie von ihren Zieheltern sonst recht wenig, nur von deren Tochter Änne, die ihr immer wie eine ältere Schwester gewesen sei.

 

Wenn trotzdem hier Erbanlagen an mich, den künftigen Lehrer weitergegeben worden waren, dann waren es solche, die mit meinem Geschäftssinn zusammenhingen, den ich bereits als Kind sehr häufig unter Beweis stellen musste.

Und immer dann, wenn ich manchmal dafür sorgte, dass ich ein angemessenes Entgelt für eine erbrachte Leistung erhalten sollte, wies meine Mutter auf eben diese Erbanlagen hin, die ich möglicherweise von ihren Zieheltern erworben hatte. Bei soviel Geschäftssinn in den Genen wird natürlich mancher fragen, ob denn der Beruf des Lehrers tatsächlich ein sehr einträglicher Beruf ist.

Mag doch jeder selbst darauf die Antwort suchen. Ich möchte diese sehr wichtige Entscheidung nicht schriftlich niederlegen!

Mein Vater war hochintelligent, betonte Mutti immer wieder. Er verfügte nicht nur über Latein-Kenntnisse sondern auch über eine überdurchschnittliche Allgemeinbildung und mathematische Begabung. Er war etwas jünger als meine Mutter, im Juli 1903 geboren. Aber mein Vater hatte einen entscheidenden Fehler, er war ein Trinker.  „Der Unterschied zwischen einem Trinker und einem Säufer ist der, dass ein Trinker niemals wie ein Säufer grölend durch die Straßen zieht, er torkelt auch nicht wie ein Besoffener auf der Straße, sondern er bemüht sich, auch in betrunkenem Zustand noch gerade zu gehen. Er schläft auch niemals wie ein Säufer im Freien auf einer Parkbank.“ Und deshalb war mein Vater eben kein Säufer sondern ein Trinker, wie es sich für eine gut bürgerliche Familie gehört, die einen Säufer keineswegs in ihren Reihen geduldet hätte. Wichtig war immer in unserer Familie, warum mein Vater ein Trinker war. Dazu gab es mehrere Theorien:  Einmal gab es laut der Erzählung meiner Mutter eine erbliche Komponente, denn ihre damals zukünftige Schwiegermutter soll ihr bei ihrer Verlobung anvertraut haben: „Fräulein Leggewie, Sie treten in meine Fußstapfen in Hinsicht auf den Hang zum Alkohol.“ Was natürlich nichts anderes bedeutet, als dass mein Großvater väterlicherseits ebenfalls ein Trinker gewesen sein muss. Dafür allerdings gab es dann auch in den Erzählungen meiner Mutter kaum Hinweise. Von OPA Josef Fiori wurde immer voller Hochachtung gesprochen. Er soll den Aussagen meiner Mutter zufolge Postamtmann oder Postoberamtmann gewesen sein.  Im Familienstammbuch meiner Eltern steht neben dem Eintrag ihrer Eheschließung am 27. Oktober 1928, unter der Rubrik „Eltern des Ehemannes“ eingetragen: „Sohn der Eheleute: Oberpostinspektor Karl Leonhard Josef Fiori und Berta geborene Erbach“ in sehr deutlicher und sauberer Sütterlinschrift. Ob der Großvater nun befördert worden war, oder ob nur der Wunsch meiner Mutter nach „Höherem“ ihn zum Amtmann machte, habe ich nie erfahren. Aber dass ein „Amtmann“ so etwa der höchste Dienstrang bei der Post gewesen sein musste, das hatte meine Mutter immer wieder zum Ausdruck gebracht. Über die besonderen Erbanlagen aus dieser Familie wurde allerdings seltener gesprochen. Opa war einfach nur liebenswürdig und er war einer der ersten Männer in damaliger Zeit, der es wagte mit seinem Enkel im Jahre 1941 mit dem Kinderwagen spazieren zu gehen, erzählte meine Mutter immer voller Stolz. Leider war auch er sehr früh gestorben, so dass ich ihn nicht wissentlich kennen gelernt hatte. Auch mein Urgroßvater wurde erwähnt als italienischer Einwanderer, der irgend wann einmal aus der Gegend um Turin nach Deutschland gekommen sein musste.  Säuberlich mit eigener Hand hatte meine Mutter in ihr Familienstammbuch dazu folgende Eintragungen gemacht: Großvater: „Giuseppe Fiorio, geb. 11.7.1822 in Corio b./Turin (Italien), kath., Arische Abstammung lt. Dokument.  Ob der Name „Fiorio“ richtig von ihr wiedergegeben wurde, ist nicht erwiesen, denn sie knüpfte daran die Erwartung, dass er auch vielleicht „de Fiorio“ geheißen haben könnte, was eine adelige Abstammung belegt hätte.   Mit Sicherheit war das nur ein „frommer“ Wunsch meiner Mutter, zeugte doch auch diese Eintragung davon, dass sie wenig Kenntnisse von der italienischen oder lateinischen Sprache hatte. Denn sonst hätte sie schon damals wissen können, dass Fiori ins Deutsche übersetzt „Sonnenblumen“ heißt. Umso bemerkenswerter ist möglicherweise der Hinweis auf eine arische Abstammung, die in jenen Zeiten unter Umständen lebensrettend sein konnte. Denn nicht wenige deutsche Staatsbürger jüdischer Abstammung oder jüdischen Glaubens trugen damals Namen botanischen Ursprungs, so dass auch der Name „Sonnenblumen“ ein Hinweis auf eben nicht arische Abstammung hätte sein können.  Ob Erbanlagen dieses Großvaters meines Vaters bei mir zu finden waren, wurde nicht erwähnt, da ich untypisch für meine italienische Abstammung auch noch über sehr hell blonde Haare verfügte. Einziger Hinweis auf diese Vorfahren war mein recht stark entwickeltes Riechorgan, das häufig auch als „römische Nase“ bezeichnet wurde. Die Frau dieses italienischen Ahnherren jedenfalls war eine Deutsche aus Höchstenbach mit dem Geburtsnamen Jung. Meine blonden Haare mussten allen Erbanlagen nach von der angeheirateten deutschen Mutterriege vererbt worden sein. Auch hiervon berichtete meine Mutter sehr wenig, nur so viel, dass die Großeltern meines Vaters Erbach hießen und einem Bauerngeschlecht aus Mettmann entstammten, und meine Großmutter Berta eben eine in Holsterhausen bei Werden geborene Erbach sei. Niemals wurde erwähnt, dass bäuerliches Blut in meinen Adern floss.  Ganz offensichtlich verschwieg meine Mutter mir diesen Zweig meiner Herkunft. Möglicherweise passte eine bäuerliche Abstammung wirklich nicht in ihr Konzept vom „Gutbürgerlichen“.  Dabei fühlte ich mich immer zur Landwirtschaft hingezogen und ganz besonders liebte ich den Umgang mit Tieren und die Pflege von Pflanzen. Es bleibt zu klären, ob auch diese „Gene“ in irgend einem, natürlich positivem, Bezug stehen zum Beruf des Lehrers. Schon als kleiner Knabe von kaum drei Jahren hegte und pflegte ich einige Pflanzen, die ich selbst eingepflanzt hatte, ganz besonders. Mit dieser Neigung unterschied ich mich außerordentlich von manchen Gleichaltrigen, die andere Steckenpferde pflegten, wie Ballspielen, Klettern, Ringen, Boxen oder ähnliche Freizeitbeschäftigungen, denen wir Kinder in den Kriegs- und Nachkriegsjahren nachgehen konnten. Jedes Tier erregte meine Neugier und meine Bewunderung. Immer lautete meine Bitte: „Bitte, bitte, liebe Mutti, schenk mir einen Hund, eine Ziege, einen Vogel, eine Katze, ein Pony oder irgend ein Tier!“ Später sammelte ich außer Maikäfern auch Schnecken oder anders Kleingetier, das nicht immer das Wohlwollen meiner Mutter oder meiner Schwester fand.  Doch scheinen nun Erbanlagen genügend erwähnt. Wie haben sie sich ausgewirkt?







Neu an der Schule




Im Jahre 1991 war ich an diese Schule versetzt worden. Die Schulrätin, der ich neu zugeteilt war, hatte mich zu einem Gespräch gebeten, um mich ein wenig vorzubereiten. So jedenfalls hatte sie die Einladung begründet:

„ Herr Fiori, Sie kommen zu Beginn des neuen Schuljahres an eine Schule, die nicht ganz unproblematisch ist. Deshalb bin ich froh, dass ich gerade Sie zur Verstärkung in dieses Kollegium schicken kann. Sie haben den Ruf, ordentlich zupacken zu können und hartnäckig Ziele zu verfolgen. Dank Ihrer Stärke hoffe ich, mit einem gewissen Klüngel in diesem Kollegium aufräumen zu können. Aber ich warne Sie, es wird keine leichte Aufgabe. Sie werden ein Kollegium finden, das nicht gerade sehr umgänglich gegenüber neuen Kollegen ist. Ferner herrscht ein Umgang mit Schülerinnen und Schülern, der aus pädagogischer Sicht nicht immer begrüßenswert ist. Frau Kern, die Schulleiterin ist zwar außerordentlich fleißig und engagiert, aber leider viel zu schwach, sich durchzusetzen, wenn es um neue Wege geht oder auch nur um Konsequenzen, die gezogen werden müssten. Aber ich möchte Sie nicht zu sehr beunruhigen, deshalb zähle ich jetzt auch keine Einzelheiten auf. Das würde Sie vielleicht zu sehr einengen. Sie werden schon sehr schnell merken, was dort los ist. Gerade Sie als ausgebildeter Beratungslehrer aber haben ganz besonders das Zeug und die Fähigkeiten, dort ein wenig zu ändern. Ich werde Sie unterstützen, wann immer eine solche Unterstützung von Ihnen eingefordert wird. Jedenfalls wünsche ich Ihnen einen guten Start an der für Sie neuen Schule! Haben Sie jetzt noch irgendwelche Fragen?“

So etwas hatte ich noch nie gehört, dass mich schon vorher ausgerechnet ein Vorgesetzter auf Missstände aufmerksam machte, die ich möglichst ändern sollte. Natürlich hatte ich Fragen:

„ Ganz bestimmt habe ich dazu Fragen, Frau Steiger. In welcher Hinsicht muss dieses Kollegium beraten werden? Sind die Kolleginnen und Kollegen zu hart und mit Androhung von Strafen zu streng mit der Schülerschaft, oder sind sie zu lasch? Gibt es im Kollegium untereinander Streit? Wenn ja, worum geht es hauptsächlich? Gegen wen muss sich Frau Kern dann durchsetzen? Gibt es eine Clique, die man dann viel besser von oben her, also von Ihrer Seite her sprengen müsste?“

Mit ihrer Antwort war ich keineswegs zufrieden:

„Von all dem, was Sie jetzt hier als Befürchtungen ausgesprochen haben, ist dort ein wenig zu finden. Also eine echte Aufgabe für einen gestandenen Mann wie Sie. Mehr kann und möchte ich Ihnen jetzt nicht dazu sagen! Bis zum nächsten Gespräch heiße ich Sie also Herzlich willkommen an Bord!“

Damit war ich entlassen. Das war ja herrlich! Eine echte Aufgabe wartete auf mich! Hatte mich so etwas jemals abgeschreckt? Natürlich war ich neugierig auf das, was da auf mich zukommen sollte. Gab es da etwa Kämpfe zu befürchten? Aber war ich noch stark genug zum Kämpfen? Wollte ich überhaupt kämpfen oder lieber meine Ruhe haben? Wie wurde ein Kampf dort geführt, wenn es überhaupt dazu kam? Ich war jetzt fünfzig Jahre alt. Spielte das eine Rolle an dieser Schule? Wie alt waren die Kolleginnen und Kollegen? All diese Fragen konnten nur eine Antwort finden, wenn ich mich an Ort und Stelle erkundigte.

Mein nächster Weg führte mich zu Frau Kern. Sie war eine kleine zierliche Frau mit einer äußerst leisen Stimme. Sie hieß mich herzlich willkommen. Sie freute sich angeblich auf unsere Zusammenarbeit und lud mich ein zur nächsten Lehrerkonferenz, auf der über die Zusammenstellung der Klassen gesprochen werden sollte und über Wünsche zum Stundenplan und überhaupt die Planung des kommenden Schuljahres. Dann glaubte sie wohl, mich ein wenig vorbereiten zu müssen:

„Es ist geplant, dass Sie eine achte Klasse übernehmen müssen, weil die jetzige Klassenlehrerin zum Ende des Schuljahres aus dem Dienst ausscheidet. Wären Sie wohl damit einverstanden?“

Was sollte ich darauf antworten: „Natürlich bin ich einverstanden. Ich habe gerade an der letzten Schule eine achte Klasse als Klassenlehrer begleitet. Ich denke, hier wird es nicht viel anders zugehen als dort. Also, das ist mir recht lieb!“

So ohne weiteres wollte sie mir nicht recht geben:

„Die Klasse ist äußerst schwierig. Es sind voraussichtlich einunddreißig Kinder in dieser Klasse. Deshalb werde ich vorschlagen, dass Sie zum Beispiel den Deutschunterricht in der Klasse nicht alleine durchführen müssen, sondern ein zweiter Kollege oder eine Kollegin sich mit Ihnen den Unterricht teilt. Denn das werden Sie wohl kaum schaffen allein. Sie sind doch Deutschlehrer und wollen auch weiter in dem Fach unterrichten, wenn ich das richtig in Ihren Unterlagen gelesen habe?“

Dieses Ansinnen befremdete mich außerordentlich. Wer jemals längere Zeit unterrichtet hatte an einer öffentlichen Schule, musste sehr schnell gemerkt haben, dass Schüler trotz aller ständiger Ermahnungen und guten Ratschläge grundsätzlich nur für den Lehrer lernten, niemals für sich, selten für ihr eigenes Ziel, schon mal, um etwas kurzfristig zu erreichen. Wenn aber zwei Lehrpersonen parallel gleichzeitig das gleiche Thema im Deutschunterricht behandelten, würde niemals das gleiche Ergebnis erzielt werden können. Mal würde die Klasse besser für den einen Unterrichtenden lernen, mal für den anderen. Vergleichbar wären dann weder Leistungen noch Lernerfolge.

Auch die Kinder selbst würden total verunsichert, wüssten nicht, auf wen oder was sie sich besonders konzentrieren müssten. Was geschah zum Beispiel, wenn einer der beiden einmal nicht anwesend wäre? Würde dann ein Vertretungslehrer noch zusätzlich eingesetzt? War es überhaupt möglich, das Lerntempo beider Klassenhälften so zu koordinieren, dass beide zu gleicher Zeit am gleichen Ziel ankämen?

Mir kam dieses Angebot mehr als seltsam und ungewöhnlich vor. Vor allen Dingen für die Schülerinnen und Schüler der Klasse wäre eine solche Teilung wahrscheinlich nur sehr schwer zu verkraften. Nach welchen Kriterien sollte überhaupt geteilt werden? Ich wollte all diese Fragen überhaupt nicht erst aufkommen lassen. Deshalb antwortete ich spontan, wenn auch nach einigen Minuten des Nachdenkens:

 

„Nein, das möchte ich auf gar keinen Fall, Frau Kern. Mir erscheinen einunddreißig Schüler auch nicht zu viel. Ich hatte das große Vergnügen, immer mit Klassen umgehen zu müssen, die mehr als dreißig Schüler stark waren, auch schon mal fast vierzig. Das macht mir nichts aus, wenn kleinere Klassen natürlich auch angenehmer sind. Aber in dieser Hinsicht brauchen Sie keine Rücksicht auf mich zu nehmen! Ich kann mir nicht vorstellen, einen wirklich guten Deutschunterricht anzubieten, wenn dieser nicht in einer Hand liegt.“

Etwas befremdet verzog sich das Gesicht meiner Gesprächspartnerin: „Ich dachte dabei auch vor allem an ihre Kolleginnen und Kollegen, die von einer Klassenaufteilung in einzelnen Fächern profitieren könnten, nicht nur an Sie!“

Was sollte ich darauf erwidern: „Natürlich wäre dann Ihrer Meinung nach, auch in anderen Fächern an eine Teilung gedacht. Davon hatten Sie aber nichts gesagt. Nur gerade im Fach Deutsch halte ich eine Teilung absolut für ungeeignet. Und im Fach Deutsch wäre ich ja wohl ganz allein betroffen. Wie weit sich eine fachbedingte Teilung bewerkstelligen lässt in musischen Fächern oder im Sport oder in Fächern mit vielen handwerklichen Tätigkeiten, wie Technik oder Haushaltslehre, müsste hier vor Ort entschieden werden. In den Fächern Mathematik und Englisch müsste ja sowieso wegen der Differenzierung in E- und G-kurs geteilt worden sein, da es ja keine Parallelklasse gibt. Also ich sehe keine Notwendigkeit, die Klasse ausgerechnet im Fach Deutsch zu teilen!“

Diese Antwort passte ihr ganz offensichtlich nicht, obwohl sie das nicht sagte. Sie verabschiedete sich recht kühl von mir und lud mich ein zur ersten Lehrerkonferenz, an der ich terminlich in ihrem Kollegium teilnehmen konnte für einen Nachmittag in der kommenden Woche.

Natürlich ging ich hin. Denn erstens wollte ich einen guten Eindruck machen im neuen Kollegium, zweitens interessierte mich auch die Zusammensetzung, von der ich nun schon einiges ahnte oder auch argwöhnte nach diesem Gespräch mit der Schulleitung, und drittens glaubte ich nicht, gerade diese wichtige Konferenz versäumen zu dürfen, weil es in ihr darum ging, Stunden festzulegen und Belastungen für jeden einzelnen Kollegen und die Stundenplangestaltung.

Mit mir ebenfalls zum ersten Mal in diesem Kollegium war eine neue Konrektorin anwesend. Sie war etwas älter als die Schulleiterin und körperlich genau das Gegenteil von dieser zierlichen Frau. Als sie aufgefordert wurde, etwas zu sagen zu ihrer Person, ihrem Werdegang und ihren Absichten im neuen Kollegium, sagte sie nur, dass sie zuerst einmal das Kollegium kennen lernen wollte, später würde dann auch sie etwas sagen. Irgendwie gefiel mir Frau Alster, besonders ihre burschikose Art. Sie machte wirklich einen robusten Eindruck, nicht nur wegen Ihres Äußeren. Etwas befremdend fand ich allerdings ihre Weigerung, von sich selbst etwas zu erzählen oder von ihren Plänen und Absichten. Auch alle anderen Augenpaare blickten erstaunt in ihre Richtung.

Dann wurde ich vorgestellt als ebenfalls Neuer. Ich sollte kurz erzählen, welche Fächer ich bevorzugte, in welchen Fächern ich unterrichten konnte und durfte und ganz kurz meine persönlichen Daten nennen, wie Alter, Familienstand und ähnliches. Sofort danach wurde mir dann eröffnet, was ich schon wusste, dass ich die achte Klasse von Frau Wein übernehmen sollte, weil diese aus dem aktiven Dienst ausschied. Alle sahen mich mitleidig an. Gleichzeitig sprach Frau Kern auch von ihrem großzügigen Angebot, die Klasse im Fach Deutsch zu teilen, um mir die Arbeit zu erleichtern. Dann war ich dran:

„Schönen Dank, dass Sie mir in der Eingangsphase meiner Tätigkeit in diesem Kollegium so helfen wollen. Aber ich habe schon häufiger Problemklassen als Klassenlehrer anvertraut bekommen und bin daher ein alter Hase. Gerade im Fach Deutsch aber bin ich der Meinung, dass eine Teilung sich nachteilig auswirken würde, nicht nur auf die Leistungen der Schüler sondern auch auf die pädagogische Arbeit in der Klasse. Deshalb danke ich herzlich für das Angebot, möchte aber gerade im Fach Deutsch darauf verzichten!“

Klar, dass ein so eingebildeter Lehrer, der ein Hilfeangebot ablehnt, reichlich suspekt ist. Das musste ja ein blasierter Affe sein, ein Besserwisser und Alleskönner, jedenfalls einer, den man mit Vorsicht zu genießen hatte. Sofort verwandelte sich alles Mitleid in den Blicken in blankes Misstrauen. Hätte ich doch nur geschwiegen oder zumindest anders begründet, nicht so selbstgefällig.

Natürlich war es eine erhebliche Erleichterung, nur ei