Schlag doch zu! Autobiografie

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Andererseits war Onkel Jupp auch davon überzeugt, dass der englische Sender BBC, der ganz gut zu empfangen war, ebenfalls nicht unbedingt die Wahrheit verkündete. Aber seiner Meinung nach lag die Wahrheit irgendwo dazwischen, so dass es doch recht hilfreich war, hin und wieder mal den Ausländer im Radio zu hören.

Wie erstaunte Mutti, dass ausgerechnet der Führer am 30. Januar öffentlich die Vernichtung der Juden angekündigt haben sollte, wie Onkel Jupp noch wusste. Aber schließlich räumte sie ein, dass sie nicht genug von Politik verstünde und dass der Führer vielleicht Gründe hätte, so radikal über Juden zu sprechen. Vielleicht gäbe es aber auch unter den jüdischen Mitbürgern durchaus kriminelle Elemente.

Vom Verlauf der Kriegsereignisse hörte man auch sehr viel im Volksempfänger, besonders wenn es um Erfolgsmeldungen ging. So hatte Japan Singapur bombardiert am zweiten Januar und letztlich erobert am 15. Februar. - Rommel war mit einer Gegenoffensive in Nordafrika erfolgreich, und die deutsche Armee konnte am zweiten Februar, meinem Geburtstag, an dem ich glücklich ein Jahr alt geworden war, einen sowjetischen Vorstoß aufhalten.

Im Osten gelang die Eroberung Rostows durch deutsche Divisionen am 23. Juli, nachdem schon am 1. Juli das allseits gelobte Eisenbahngeschütz „Dora“ die Stadt Sewastopol auf der Krim erobert hatte, wo insgesamt 97 000 sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren. Bereits am 6. Juli hatte Göring über den Bau der Wunderbombe referiert, den Bau der deutschen Atombombe, die unbedingt den Sieg bringen musste. In einer heroischen Heldengedenkrede hatte Hitler am 15. März die Vernichtung der Roten Armee prophezeit.

Mutti lobte den Führer, der ab elften Februar dafür gesorgt hatte, dass 15jährige Schüler höherer Lehranstalten zum Dienst als Luftwaffenhelfer eingezogen wurden, weil sie meinte, dass dadurch Soldaten und Familien entlastet würden.

Löblich fand sie ebenfalls, dass der letzte Sohn von Familien, die im Krieg Kinder verloren hatten, ab sechsten Februar nicht mehr an die Front geschickt oder sogar von dort abgezogen wurden.

Große Zweifel quälten immerhin auch die Familien in Münster hinsichtlich der Möglichkeit eines schnellen Endes des Krieges. Rommel wurde gelobt wegen seiner Eroberung Bengasis, die Japaner besetzten Bali, deutsche U-Boote lagen vor der Ostküste Amerikas seit dem 11. Januar, ja sie drangen sogar in die Flüsse Mississippi und in den Sankt Lorenz Strom ein und versenkten dort Handelsschiffe am 11. Mai, obwohl das nicht unbedingt den Nachrichten entsprach, die man hören konnte, denn in denen war natürlich von Kriegsschiffen und Munitionstransporten die Rede, die es galt, frühzeitig zu bekämpfen.

Andererseits wurde schon sehr früh ein Flächenbombardement auf Deutschland durch die ROYAL-AIRFORCE eingeleitet. Das führte zu Bombardierungen deutscher Städte, wie Lübeck am 28. März, wo dreihundertzwanzig Menschen umkamen und achthundert Personen verletzt wurden. Freilich hatte die deutsche Propaganda nur von fünfzig Toten gesprochen und zweihundert Verletzten, um das Ereignis herabzuspielen und Panikreaktionen zu verhindern.

Weitere Bombenteppiche auf viele deutsche Städte folgten, vom 24. bis 27. April führten sie zur Zerstörung Rostocks, am 28. April auf Köln, wo zuerst das Rathaus und eine Kirche den Bomben zum Opfer fielen, am 19. Mai Angriff auf Mannheim, wieder Angriff auf Köln , wo am 30. Mai die Royal Air Force die Innenstadt Kölns in nur neunzig Minuten völlig zerstörte, am 20. Juni auf Emden, am 25. Juni auf Bremen, mit einem Vergeltungsbombardement auf Norwich von der deutschen Luftwaffe beantwortet, gefolgt von einem Luftangriff auf Danzig am 12. Juli, und am 31. Juli bombardierten 470 britische Flugzeuge Düsseldorf, wobei dreißig Flieger abgeschossen wurden. Überhaupt waren Informationen über deutsche Verluste oder Niederlagen äußerst spärlich zu bekommen. So hörte man zwar von einem Schiffsunglück vor Menorca, der kleinen Balearen-Insel, mit dreihundert Toten am neunten Januar, aber man hörte nicht, dass Roosevelt als Kriegsziel die Vernichtung des Nationalsozialismus angekündigt hatte. Statt dessen war die Rede von Verbrechen gegen das deutsche Volk, das völlig ungerechtfertigt von den Amerikanern vernichtet werden sollte.

Wenig bekannt wurden auch alle möglichen Mangelmeldungen, dass am 15. Februar wegen Kohlemangels einmal wöchentlich das Wiener Theater geschlossen blieb, dass ab fünften März wegen Energieknappheit in der Schweiz achtundvierzig Zuglinien eingestellt wurden, dass ab siebten März zusätzliche Arbeiter in der Landwirtschaft zwangsverpflichtet wurden, dass Hitler per Erlass die Rechte von Angeklagten erheblich beschnitt, deutsche U-Boote wegen einer verbesserten Radar-Aufklärung ab 15. April zunehmend in Gefahr gerieten, dass ab 20. April eine Arbeitspflicht für deutsche Frauen, dabei auch Mütter, eingeführt wurde zur Stärkung der deutschen Industrie.

Statt dessen hörte man vollmundig, dass Java vor den Japanern kapituliert hatte, dass eine deutsche Offensive in Russland begonnen hatte, nicht aber, dass sie im Schlamm stecken blieb, dass die britischen Kanalinseln Jersey und Guernsey zu deutschen Festungen ausgebaut worden waren, dass Hitler nun auch oberster Richter in Deutschland war, was nur bedeutete, dass der Rechtsstaat völlig ausgeschaltet war ab dem 26. April, dass der finnische Marschall von Mannerheim Hitler in der „Wolfsschanze“ besuchte am 27. Juni, dass am 28. Juni die Sommeroffensive an der Ostfront begann, dass das Hauptquartier Hitlers jetzt schon in die Ukraine verlegt werden konnte am 16. Juli, dort „Werwolf“ genannt.

Hatte niemand wirklich gehört von dem Beginn der Ermordung von Juden in den Gaskammern im Lager Belzec am 17. März oder von der Deportation von 1135 Juden aus den Niederlanden nach Auschwitz am 15. Juli, oder von 5000 Juden aus dem Warschauer Getto nach Treblinka am 22. Juli ? Hatte sich nicht herumgesprochen, dass jüdische Gemeinden Edelmetall-Kultgegenstände an die Reichsregierung abgeben mussten per Erlass vom 30. Juli?

Dafür jedoch wurde hervorgehoben, dass der erste Düsenjäger der Welt von der Firma Messerschmidt am 18. Juli erfolgreich in Ulm gestartet war, allerdings noch nicht für Kriegseinsätze geplant wurde. Einen breiten Raum nahm auch die Berichterstattung ein über das Attentat auf den Vertrauten Hitlers, Heydrich, der am 27. Mai in Prag schwer verletzt wurde, später seinen Verletzungen erlag. Es folgte am neunten Juni ein Staatsakt für ihn in Berlin und schon einen Tag später ein Massaker in Lidice als Vergeltungsschlag für den „feigen Meuchelmord“, wie er von der Presse genannt wurde.

Widerspruchslos nahmen es die Menschen hin, dass in Italien am 21. April ein neues Gesetzbuch erschien mit dem Titel „Codice Mussoliano“ in Anlehnung an den „Code Napoleon“ in Frankreich. Was Demokratie bedeutete wussten die Menschen trotz ihrer Erfahrungen aus der Weimarer Zeit in Deutschland wohl nicht, aber auch im übrigen Europa war man offenbar gewöhnt regiert zu werden und sich nicht einzumischen. Man freute sich darüber, dass man selbst lebte und kleinere Erfolge oder Vorzüge erzielen konnte.

Onkel Willi hatte in der Nähe von Trier einen kleinen Kotten mitten in einem Waldgebiet erworben, wo er, abseits vom beruflichen Stress seine Verwundung auskurieren konnte, die er im Feld in Nordafrika erhalten hatte. Auch er war wie sein Bruder wegen der Kriegsbeschädigung vom weiteren Wehrdienst freigestellt.

Als er 1942 Mutti, Ursel und mich zur Erholung in sein Feriendomizil einlud, freute sich Mutti außerordentlich und sagte für die Herbstferien zu. Doch leider wurde nichts aus dieser Reise, denn es waren keine Fahrausweise zu bekommen. Schon im Frühjahr hatte die Regierung darum gebeten, von privaten Reisen mit der Bahn abzusehen, unter dem Motto „Räder müssen rollen für den Sieg“.

Mutti, der sonst alles gelang, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte, war dieses Mal machtlos. Sie konnte keine Fahrkarten nach Trier oder auch nur in die Eifel bekommen. So mussten wir leider schweren Herzens auf diesen Ausflug verzichten.

Das Jahr 1942 war bereits ein Kriegsjahr, das der Bevölkerung erhebliche Entbehrungen auferlegte, von denen ich als kleiner Bub nicht unmittelbar etwas bemerkte, was aber Mutti in große Sorgen geraten ließ, ob sie mir auch genügend Nahrungsmittel und Vitamine zukommen lassen konnte, die ich für mein Gedeihen dringend benötigte.

Trotzdem gab es reichlich viele kulturelle Ereignisse und Veranstaltungen, die dazu angetan waren, sich zu amüsieren, zu unterhalten oder zu bilden, wenn das noch nötig erschien.

Besonders stolz war man in Deutschland auf die Fußballnationalmannschaft, die immer wieder Siege errang, wie in Rumänien am 16. August , wo Fritz Walter drei Tore schoss und die Deutschen die Rumänen 7 : 0 schlugen, am 20. September nahm man zwar eine Niederlage gegen Schweden mit 2 : 3 hin bei einem Heimspiel in Berlin, um dann am 22. November beim letzten Länderspiel bis 1950 gegen die Slowakei in Pressburg 5 : 2 zu gewinnen.

Am 15. November hatte TSV 1860 München Schalke 04 2 : 0 besiegt und wurde erstmals deutscher Meister. Doch Mutti interessierte sich nicht für Fußball und deshalb wir Kinder auch nicht.

Aber fast alle neuen Filme hatte sie gesehen, oft schon kurz nach ihrer Uraufführung in Berlin, da die Lichtburg in Essen als renommiertes Kino sehr schnell solche Filme in Essen zeigte. So kannte sie den Film „Heinrich Schlüter“ mit Heinrich George, der erst am 19. November uraufgeführt worden war, ebenso wie „Wir machen Musik“ mit Ilse Werner, Viktor de Kowa, Grete Weiser von Helmut Käutner, am 8. Oktober aufgeführt, sogar den Film „Fronttheater“ mit Rene Deltgen und Heli Finkenzeller vom 24. September, und aus Wien kommend den Film „Die heimliche Gräfin“ mit Paul Hörbiger vom 27. August.

Auch als am 2. September die erste Hauptschule als „Auslesepflichtschule“ errichtet wurde, ließ sie sich nicht davon abbringen, dass ihre Kinder sehr wahrscheinlich mal ein Gymnasium besuchen sollten, wenn es denn möglich wäre und die Kinder begabt genug dafür. Wobei ihr vorschwebte, dass Ursel als Mädchen sowieso einmal gut und standesgemäß heiraten würde und von daher möglichst auch eine Frauenfachschule besuchen musste, wenn es denn so weit wäre.

 

Im Augenblick aber zählten wirklich die Meldungen, die vom Krieg in die Wohnzimmer getragen wurden, weil sich jeder fragte, wie lange es denn noch dauern würde. Konnte man denn wirklich den vielen Erfolgsmeldungen Glauben schenken:

3.8.: Vorstoß auf die kaukasischen Ölfelder, 7.8.: Kesselschlacht bei Kalatsch mit 35 000 gefangenen Sowjetsoldaten, 15.8.: deutsche Truppen am Don, 19.8.: Angriff auf Stalingrad, 3.9.: Stoßtrupp in Stalingrad, 14.9.: britische Landungsboote zerstört vor libyscher Stadt Tobruk, deutsche U-Boote im Indischen Ozean, 14.10. Großangriff auf Stalingrad, 10.11.: neunzehntel des Stadtgebiets von Stalingrad erobert, 25.12. Goebbels appelliert an das Durchhaltevermögen des deutschen Volkes.

Eine Heidenangst bekam Mutti aber kurz vor Weihnachten 1942, als britische Bomber am 21. Dezember die Krupp-Werke in Essen angriffen. Mit vielen Nachbarn, vor allem Nachbarinnen waren wir beim Fliegeralarm in den nahen Bunker im Wald, etwa hundert Meter von unserem Haus entfernt, gelaufen. Mutti hatte zuerst gar nicht mitkommen wollen, sondern wie bei anderen Alarmen auch, nur mit uns im Hausflur abwarten, ob wie sonst auch immer überhaupt keine Bomben in der Nähe abgeworfen wurden.

Doch dieses Mal hatte Tante Traute sehr energisch darauf gedrungen, dass wir uns in Sicherheit bringen sollten. Widerstrebend war Mutti ihr gefolgt und hatte immer wieder betont, dass sie nun gar nicht genug zu essen mitgenommen hätte, wenn wir länger im Bunker bleiben müssten. Auch wüsste sie nicht, ob es eine Gelegenheit gäbe, mir dort die Windeln zu wechseln. Doch Tante Traute ließ sich nicht erweichen.

Der Schreck war groß in der Menschenmenge in der Enge des Erdstollens, der als Bunker diente.

Plötzlich zitterte die Erde, dröhnend detonierten die Bomben, die auf das nahe gelegene Krupp-Werk abgeworfen worden waren. Viele weinten im Bunker, vor allen Dingen die Kinder. Auch ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Das Dröhnen, das Zittern der Erde, die lauten Geräusche bereiteten mir Schmerzen vom Kopf bis in die Zehenspitzen, das Dröhnen in meinen Ohren wollte kein Ende nehmen.

Wahnsinnig beklemmend fand ich auch die unheimliche Fülle in dem relativ kleinen Schutzraum, beängstigend das ungeheure Gedränge, der unangenehme Geruch fremder Menschen, aber immer wieder das schmerzhafte Dröhnen in den Ohren, das alle Organe des kleinen Körpers zu erfassen schien. Später, als der Lärm etwas nachgelassen hatte, ich mich an meine Mutti schmiegen konnte und vor Müdigkeit nicht mehr merkte, dass immer noch viel zu viele Menschen in der Nähe waren, hob ich mein Fingerchen und sagte leise: „Bumm, bumm!“

Der Krieg war schon lange nach Deutschland gekommen, obwohl die Propaganda des Reiches es anders schilderte. Schon wurden Stimmen laut, dass Hitler-Deutschland bald besiegt sein könnte. Aus dem Ausland meldeten sich deutsche Exil-Politiker und deutsche emigrierte Schriftsteller, die ein Ende forderten oder Vorschläge unterbreiteten. So forderte Erich Ollenhauer, SPD-Politiker, am 6. Dezember in London eine Vorbereitung der politischen Neugestaltung Deutschlands nach dem Krieg.

Erheblich früher jedoch gab es während des letzten Halbjahres Angst und Schrecken für die deutsche Bevölkerung bei Luftangriffen der Sowjets auf Berlin, Stettin, Königsberg und Danzig am 26. August, zwei Tage später britische Bomben auf München, Saarbrücken und Kassel, , am 5. September Bombenteppich auf das deutsch besetzte Le Havre, sowjetische Bomben auf Budapest und Königsberg, die Hiobsbotschaft, dass die Rote Armee am 15. September den Don überschritten hätte, dass alliierte Verbände von Amerikanern und Engländern in Marokko gelandet wären, Tobruk von Montgomery erobert wurde am 13. November, britische Bomber ihre todbringende Last über Turin abgeworfen hatten am 21. November, am 22. November war die 6. Armee in Stalingrad eingeschlossen worden, ein gewaltiger britischer Luftangriff mit Spreng- und Brandbomben zerstörte große Teile von Berlin am 23. November, am 4. Dezember führten die Vereinigten Staaten einen Luftangriff gegen Neapel, am 9. Dezember warfen 196 britische Flugzeuge insgesamt 397 Tonnen Bomben auf Turin und am 12. Dezember wurde Stalingrad endgültig zur Falle für die eingeschlossenen deutschen Soldaten.

Viel wichtiger als all diese dramatischen Ereignisse war für Mutti aber die Tatsache, dass sie wegen der beiden Kinder nicht mehr regelmäßig am Sonntag in der Frühe in die Kirche gehen konnte. Immerhin war sie sehr fromm erzogen worden. Noch mehr aber bereitete ihr ein schlechtes Gewissen, dass sie bei der Ohrenbeichte immer wieder beteuern musste, sich zu bessern und demnächst wieder pünktlich die Messe zu besuchen, genau wissend, dass sie dieses Versprechen garantiert nicht einhalten konnte.

Diese Gewissensbisse, so erzählte sie später immer, brachten sie dazu, am 07. Dezember 1942 aus der katholischen Kirche auszutreten. Mit einem einzigen Verwaltungsakt wurde sie mit ihren beiden Kindern für aus der katholischen Kirche ausgetreten erklärt und in die evangelische Kirche aufgenommen.

Noch weniger als meine Mutter aber berührten mich alle diese Dinge, die sich in meinem zweiten Lebensjahr abspielten, denn für mich, den kleinen Buben war das wichtigste, dass ich immer satt wurde, dass Mutti sich, so oft sie konnte, um mich kümmerte und dass ich möglichst nicht allzu oft in den engen, dicht gedrängt vollen Bunker musste, um dort den ungeheuren Lärm abzuwarten, der außerhalb infernalisch tobte.

So lebte es sich recht gut als Kleinkind im Kriegsjahr 1942, wenn auch Mutti ständig große, immer mehr wachsende Sorgen hatte, die richtige und ausreichende Ernährung für mich zu finden.







Erste eigene Erinnerungen





Ausgerechnet am zweiten Februar 1943, an meinem Geburtstag, an dem zum ersten Mal drei Kerzen für mich brannten, kapitulierte die sechste Armee in Stalingrad.

Allerdings war das nur eine Nachricht und nichts wirklich Wichtiges in meinem Leben. Gott sei Dank war das sehr weit von mir entfernt und berührte mich auch überhaupt nicht persönlich, weil niemand aus unserer Verwandtschaft dort am Krieg beteiligt war.

So konnte denn auch Mutti für mich die beiden kleinen Kerzen anzünden für meine beiden vollendeten Lebensjahre und die größere in der Mitte für das kommende Jahr. Mutti hatte auch extra einen Tortenboden gebacken und mit Sauerkirschen belegt. Zur Geburtstagsfeier hatten sogar Tante Dorchen und Onkel Willi aus Trier ein Paket an ihr Patenkind geschickt, das hauptsächlich Nahrhaftes und Leckeres und etwas zum Anziehen enthielt.

Zum Kaffee am Nachmittag waren nur Tante Traute mit ihrer Tochter Traute da und Dickerchen, die bei solchen Gelegenheiten nicht fehlen durfte.

Von der fröhlichen Feier selbst bekam ich nicht sehr viel mit, da mir der Rummel um meine Person einerseits heftig missfiel, andererseits aber auch meinem Ego schmeichelte, weil ich, wie eigentlich ständig gewünscht, Mittelpunkt war und alle sich mit mir intensiv beschäftigten. Also strahlte ich über alle Maßen und genoss die vielen Aufmerksamkeiten und die Spiele, die mit mir und Klein Traute von allen mitgespielt wurden. Es blieb auch ruhig an diesem Dienstag, kein Fliegeralarm störte uns und niemand forderte lautstark, dass verdunkelt werden müsse am frühen Nachmittag.

Zum Abendbrot gab es selbstgebackenen Hefestuten, ein Gebäck, das grundsätzlich bei uns dick mit Butter bestrichen wurde, wenn solche denn vorhanden war in jenen Tagen, und ebenso beliebt war wie Kuchen oder Plätzchen. Schokolade war etwas rar geworden in dieser Zeit des negativen Überschusses, so dass ich darauf verzichten musste, ohne allerdings diese Leckerei ernsthaft zu vermissen, weil sie mir dafür gar nicht genügend bekannt und vertraut war.

Dass es abends dann zur Feier des Tages für die Erwachsenen ein Likörchen gab, war nicht so selbstverständlich wie in früheren Jahren, aber Mutti hatte über Vatis Kontakte in Holland doch ein wenig Danziger Goldwasser da, welches den Damen kredenzt wurde. Kurz danach wurde ich noch auf das Töpfchen gesetzt, ein Ritual, das seit mehr als einem Jahr täglich dreimal wiederholt wurde und mich allmählich zu etwas größeren Sauberkeit gebracht hatte, so dass ich nachts nicht mehr so oft die Windeln vollmachte. Außerdem war eine frühe Erziehung zur Reinlichkeit und zum Trockenbleiben ein unerlässliches, unumstößliches Gebot damaliger Erziehungsgrundsätze.

Das einzige, was Mutti an meinem eigenen Reinlichkeitsverhalten störte, war die Tatsache, dass ich fast immer, wenn ich auf dem Töpfchen saß, hingebungsvoll mit dem kleinen Schniepel spielte, der einmal mein männliches Geschlechtsorgan zu werden versprach. So war mein Geburtstag trotz vieler unschöner Kriegsereignisse fast ein normaler Geburtstag, wie ihn sich ein kleines Kind von zwei Jahren wünschen konnte.

Allerdings sollte das Jahr 1943 nicht nur für Deutschland, sondern ganz besonders für unsere Familie erhebliche Änderungen mit sich bringen, von denen wir selbstverständlich an meinem Wiegenfest noch nichts ahnen konnten.

Immer häufiger wurde auch die Stadt Essen bombardiert, vor allem wegen der Krupp-Werke, die schließlich als Schmiede der Nation galten. Das bedeutete aber nicht nur, dass wir immer häufiger den nahegelegenen Bunker aufsuchen, sondern auch, dass es immer schwieriger wurde, sich angemessen zu versorgen und zu ernähren. Deshalb war Mutti natürlich heilfroh, als wieder zu den Osterferien eine Einladung zu Oma nach Bad Godesberg auf dem Tisch lag. Dieses Mal war es auch möglich, Fahrkarten zu bekommen und mit dem Zug dorthin zu fahren. Denn die Stadt Essen galt als extrem gefährdet, weshalb Menschen, die in anderen Gegenden sicherer untergebracht werden konnten, zur Wegfahrt auch eine Gelegenheit erhalten mussten.

Die Freude in Omas Haus die Ferien zu verbringen währte allerdings nicht allzu lange, da schon sehr bald ein Telegramm von Tante Traute eintraf, des Inhalts, dass sich Mutti sehr schnell zurückbegeben möchte, wenn sie noch Möbel retten wollte, da ausgerechnet unser Haus an der Seite getroffen worden war, an der wir wohnten.

Mutti organisierte mit Vatis und der Nachbarn Hilfe einen Möbeltransport, mit dem die Möbel, die nicht zerstört oder stark beschädigt waren, nach Bad Godesberg in Omas Wohnung gebracht wurden. Gott sei Dank waren die meisten Möbel noch brauchbar, so dass nicht allzu viele Verluste zu beklagen waren. Wenn auch einige Stücke deutliche Beschädigungen und Spuren des Brandes oder Steinsplitter aufwiesen.

Das größte Problem allerdings bestand darin , dass Oma eigentlich gar nicht spontan so viel Platz schaffen wollte in ihrer Wohnung, um unsere Möbel zu lagern und uns noch dazu zu beherbergen.

Mutti stellte bravourös unter Beweis, dass sie durchaus in der Lage war, Dinge zu organisieren, die eigentlich mehr als eine Kraft benötigten. Denn Vati war nicht frei zu bekommen für einen längeren Zeitraum. Er konnte gerade noch einen Möbelwagen besorgen und seine Mutter überreden, einen Raum freizumachen für unsere Möbel, aber alles Weitere blieb Mutti überlassen.

Gott sei Dank war Omas Haus sehr groß und geräumig, verfügte nicht nur über große Räume im Parterre des Hauses sondern auch über einige Kellerräume, so dass alle schweren und gediegenen Möbel, auf die Mutti und Vati so stolz waren, dort irgendwo eingeräumt werden konnten. Nur war Oma nicht in der Lage und auch nicht willens, so schnell Platz zu schaffen für die gesamte Familie. Schließlich hatte sie sich mit ihrer Tochter Erna so eingerichtet, dass die gesamte Wohnung im Parterre des Hauses belegt war. Außerdem wusste ja niemand so genau, wie lange der Krieg noch dauern würde und ob danach wieder solche Verhältnisse eintreten konnten wie zu Friedenszeiten.

Tagelang war Mutti unterwegs, um eine Wohnung zu finden, was nicht ganz so einfach war, denn inzwischen waren sehr viele schon ausgebombt und brauchten dringend Wohnraum.

In Muffendorf, einem kleinen Ort vor Bad Godesberg fand Mutti dann endlich eine Bleibe für uns in einem Mehrfamilienhaus, in dem der Dachboden als Wohnung genutzt werden konnte, weil er schon einmal ausgebaut worden war und leicht möbliert. Auch gab es dort unter dem Dach fließendes Wasser, was für eine Familie mit kleinen Kindern außerordentlich wichtig war.

Genau in dieser Wohnung setzten meine ersten Kindheitserinnerungen ein, die sich als lebendige Bilder für alle Zeiten in mein Gehirn eingebrannt hatten.

 

Ganz besonders war mir dort aufgefallen, dass unser Wohnzimmer nicht mehr so aussah, wie ich das gewöhnt war. Am meisten vermisste ich unser geliebtes Büffet, das nun wegen Platzmangels keineswegs in der kleinen Wohnung mit den schrägen Decken aufgestellt werden konnte. Es lagerte wie auch fast alle anderen schweren und ach so gediegenen Möbel bei Oma in der Bismarckstraße 18 in dem einzigen Parterrezimmer, das von Oma und Tante Erna nicht regelmäßig benutzt worden war und zum Teil auch in den ausgedehnten Kellerräumen, die alle ausgebaut und trocken waren.

Wegen dieses Platzmangels in der Muffendorfer Dachgeschosswohnung konnten Ursel und ich auch nicht dort spielen, so dass wir als Ausweichspielplatz sehr häufig den Podest benutzten, der vor unserer Wohnung die Möglichkeit erschloss, auf den Speicher oder eben in die Dachgeschossbleibe zu gelangen. Dieser Behelfsspielplatz wurde vor allen Dingen dann genutzt, wenn das Wetter ein Spielen im Freien absolut unmöglich machte.

Ein beliebtes Spiel meiner Schwester hieß „Blindekuh“. Ich hasste dieses Spiel über alle Maßen, fand überhaupt keinen Sinn darin mir die Augen verbinden zu lassen und mich wie ein Blödmann zu benehmen, ohne etwas sehen zu können. Dabei hasste ich besonders, dass ich voll und ganz darauf angewiesen war, was meine Schwester mir sagte oder befahl und ich selbst überhaupt keine Möglichkeit hatte, in irgendeiner Form meinen Bewegungsablauf selbst zu bestimmen.

Und immer war ich es, der die Blinde Kuh spielen musste, denn ich war natürlich noch viel zu klein, um meine große Schwester mit einer Binde vor den Augen führen zu können. Außerdem hätte ich auch wirklich keine Idee gehabt, wohin ich sie hätte führen sollen oder was sie hätte suchen müssen unter meiner Anleitung. Trotz meiner Abneigung gegen diese Betätigung, gab ich natürlich notgedrungen nach, wenn meine liebe große Spielgefährtin mal wieder auf die Idee kam, mir die Augen verbinden zu wollen.

Dabei lernte ich nur scheinbar die Richtungen links und rechts zu unterscheiden, in die ich von der energischen Stimme meines Schwesterleins getrieben wurde, tatsächlich aber war ich voll und ganz auf die Körperführung angewiesen.

Wieder einmal hatte mich Ursel soweit, dass sie mir die Augen verbinden durfte. Sie dirigierte mich nach links, nach rechts, geradeaus, wieder links, wieder gerade, wieder rechts, ließ mich mit den Händen auf dem Boden etwas fühlen, behauptete aber, dass das nicht das sei, was sie gemeint hätte, so dass das grausame Spiel noch weiter ging.

Wieder musste ich mich sehr weit nach vorne bücken, als Mutti aus dem Inneren der Wohnung rief, Ursel möchte doch mal ganz schnell hereinkommen und ihr helfen.

Ursel ließ sofort den Schal los, der meine Augen verdunkelte und gleichzeitig auch als Leitriemen galt, an dem sie mich hinführen konnte, wohin sie immer wollte. In Ermangelung eines anderen Haltes oder eines Griffes, der mich im Gleichgewicht halten konnte, legte ich mich voll und ganz mit meinem ganzen Körpergewicht in diese einzige Führungshilfe hinein, mich darauf verlassend, dass meine Schwester mich am Fallen hindern würde. Selbstverständlich ahnte ich nicht, dass ich mich gerade in dem Augenblick, als Mutti rief, in die Richtung der Treppe nach vorne beugte und mich genau mit dem Kopf über der obersten Stufe befand.

Deshalb verlor ich nun vollends die Balance und stürzte, kollerte mit großem Gepolter die acht Holztreppenstufen hinunter bis zum nächsten Podest, der die gesamte Treppe weiter wie in einer Kehre nach unten führte. Das Gepolter allein lockte Mutti nach draußen.

Ihr Schrecken war enorm, so dass sie fast die Nerven verlor und nur laut aufschreiend hinunterrannte, um nachzuschauen, wie es dem armen Kleinen ging, dabei das Schlimmste befürchtend.

Ich selbst erwachte in diesem Augenblick von meiner durch den Schock des Falles hervorgerufenen kurzfristigen Lähmung und schrie aus Leibeskräften los. Unerträglich war für mich das Gefühl, nichts sehend dort zu liegen, hilflos zu sein und nicht einmal richtig zu wissen, wo ich mich eigentlich befand. Schmerzen durch den Sturz verspürte ich zuerst überhaupt nicht, war auch weder am Kopf noch an sonstigen Gliedern sichtbar irgendwie verletzt.

Nur die absolute Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit ließen mich in diesem Moment wie in einem Schockzustand in eine Panik fallen, von der ich leider nicht sofort befreit wurde, weil Mutti mich zuerst auf den Arm nahm und untersuchte, dann herzte, ehe sie mir den verhassten Schal von den Augen abnahm. Gott sei Dank hatte der sich durch die Untersuchung ein wenig gelöst und ließ nach kurzer Z