Die Trüffel-Connection

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Sari: Lindemanns #265
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Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

„Überhaupt nichts. Es war auch Geld da. Das hat er nicht mitgenommen.“

Sie machte ein nachdenkliches Gesicht. „Wenn er das Geld genommen hätte, dann wärst du ihn jetzt los. Da steckt etwas anderes dahinter. Der kommt noch mal.“

Ich staunte über ihre einleuchtende Beurteilung der Situation und erwiderte ihr Lächeln. Sie rückte näher an mich heran, sodass sich unsere Beine berührten. „Wie wäre es mit einem Likörchen“, sagte sie und legte mir ihre Hand auf das Bein. „Wollen wir es uns ein bisschen gemütlich machen? Ich heiße Laura.“

Langsam wurde mir etwas unheimlich zumute, und ich überlegte, wie ich mich mit Anstand aus der Affäre ziehen konnte.

„Du, ich finde dich unheimlich toll, Laura, wirklich. Aber ich bin schwul, und Alkohol trinke ich am Morgen auch nicht.“

Sie lehnte sich ganz entspannt zurück und lächelte breit. „Also die Schwulen sind mir zehnmal lieber als die anderen Männer. Mit denen hat man nur Ärger. Und den Likör trinken wir ein anderes Mal. Wir können uns hier oben ja nicht verfehlen.“ Sie hatte offenbar entschieden, dass ich ihr Freund sei.

„Der Kerl sah wirklich etwas unheimlich aus. Er hatte so einen komischen Blick, irgendwas mit seinem Auge war nicht in Ordnung.“

Ich zuckte zusammen. Sie bemerkte es: „Kennst du den Kerl?“

„Könnte sein. Gefällt mir gar nicht. Aber ich habe keine Ahnung, was das soll.“

Ich verabschiedete mich und bat die Hotelleitung um den Einbau eines neuen Schlosses, weil bei mir eingebrochen worden sei. Ich musste die üblichen Fragen beantworten: Nein, es ist nichts gestohlen worden. Nein, ich wüsste auch nicht, was das soll. Ja, die Polizei hätte ich verständigt.

Man sagte mir den Einbau eines neuen Schlosses bis zum Abend zu.

Ich holte mein Fahrrad aus dem Keller und fuhr die Straße hinunter in Richtung Stadtmitte. Es war immer noch recht früh, und hier in der stillen Seitenstraße zwitscherten fröhlich die Vögel. Als ich auf die Hauptstraße einbog, drängte sich Auto an Auto. Auf dem seitlichen Fahrradweg konnte ich flott vorbeifahren und ich nahm mir vor, in Zukunft mehr mit dem Rad zu fahren. Vielleicht sollte ich wieder anfangen, morgens zu schwimmen, und mich überhaupt mehr bewegen. Ich hatte neulich im Radio gehört, wie ein Sportler das Gefühl des Ausschüttens von Endorphinen im Körper erklärte. Es sei ein großes Glückserlebnis, wie das Gefühl starker Verliebtheit. Könnte mir gut gefallen, dachte ich – eigentlich auch ohne vorangegangene sportliche Anstrengung. Mit Schwung bog ich in die Toreinfahrt zum Landgericht.

Auf meinem Schreibtisch türmte sich trotz der gestrigen Anstrengung ein Aktenberg. Der Hühnlein’sche Aktenwagen stand unverändert in der Ecke des Raumes, wirkte auf mich aber überhaupt nicht mehr bedrohlich. Seufzend zog ich die Akten der Freitagsverhandlung hervor und machte mich an die Arbeit. Den Termin hatte ich schon vor einem Monat angesetzt. Die Zeugen waren alle geladen. Dürfte ganz interessant werden, dachte ich.

Kurz vor der Mittagspause brauchte ich dringend eine Unterbrechung. Ich packte das Tagungsschreiben und machte mich auf den Weg zum Präsidenten. Im Treppenhaus kam mir, klein und dicklich, Schulze entgegen, Vertreter Nummer drei.

„Ach, es ist gut, dass ich Sie treffe“, sagte ich. „Leider muss ich Ihnen eine sozusagen doppelt unangenehme Mitteilung machen.“

Er zog etwas angewidert die rechte Augenbraue hoch und blickte mich von unten herauf missmutig an. Wir waren uns vor einiger Zeit mal wegen der Geschäftsverteilung, dem alljährlichen Gezerre um die Aufteilung der Verfahren für das Folgejahr, in die Haare geraten. „Na, was haben Sie denn jetzt schon wieder auf Lager?“

„Ich bin gerade auf dem Weg zum Präsidenten“, antwortete ich und reichte ihm das Schreiben der Justizverwaltung.

„Das hat mir gerade noch gefehlt. Und das bei meiner Belastung. Es ist wirklich erschreckend, dass in diesem Gericht niemand die besondere Leistung anerkennt.“

Natürlich hatte er nicht mehr zu tun als seine Kollegen. Aber sein subjektives Empfinden war ein anderes, und dies trug er auch pausenlos vor sich her. Außerdem haderte er damit, dass er nicht Vorsitzender des Schwurgerichtes geworden war. Aus sehr unterschiedlichen Gründen ist der Drang dorthin groß.

„Sie werden verstehen, dass ich mich nur um die absolut unaufschiebbaren Dinge kümmern kann, das meiste wird für sie liegen bleiben“, knurrte er. Ich konnte direkt in seinem Gehirn den Entschluss erkennen, möglichst alles liegen zu lassen. „Und wieso doppelt unangenehm?“

„Haben Sie schon vom Ausfall von Frau von Hühnlein gehört? Sie wird über Wochen nicht arbeiten können. Es tut mir wirklich leid für Sie. Jetzt müssen Sie auch in dem Referat noch tatkräftig loslegen. Ich hätte die Tagung gern abgesagt. Aber ich bin, wie Sie gelesen haben, dienstlich daran gehindert.“

Er schien fast zu platzen. „Na, das habe ich gern. Sich eine Erholungstagung unter den Nagel reißen und die Kollegen bis zum Zusammenbruch arbeiten lassen. Es ist ja wohl klar, dass ich nachher auch gleich beim Präsidenten vorsprechen werde!“

Er rauschte davon, wobei er versuchte, seinen Kopf eindrucksvoll in den Nacken zu werfen und mich mit einem vernichtenden Blick zu strafen. Der Gesamteindruck seines Abganges wurde etwas durch seinen Watschelgang beeinträchtigt.

Die Vorzimmerdame des Präsidenten lächelte mir strahlend zu. Ich zeigte auf die Tür des Präsidenten.

„Sie können hinein. Ich glaube, es ist nichts Besonderes los.“

Ich klopfte, trat ein, und Präsident Kupfer blickte von seiner Zeitung hoch. „Was gibt’s, Knall?“ Wir haben ein recht lässiges Verhältnis zueinander, kennen uns schon seit vielen Jahren, schon lange bevor er Präsident wurde. Und ich heiße Knall, Dr. Maximilian Knall.

„Ich stifte ziemliche Unruhe im Landgericht. Schulze wird auch gleich auftauchen.“ Er legte seine Zeitung sorgfältig zusammen. „Ach du Schande. Was ist denn los?“

Ich reichte auch ihm das Schreiben. Er nahm es entgegen und gab es mir nach einem kurzen Blick darauf zurück. „Ich weiß schon Bescheid. Die Verwaltung hat bereits die entsprechende Verfügung bekommen. Ist doch toll für dich, mal eine wirklich interessante Tagung. Nicht so ein ödes, rein juristisches Thema.“

„Na ja. Aber Hühnlein ist auch ausgefallen und muss verwaltet werden.“

„Ach was. Der Schulze soll was tun und nicht nur jammern. Sind doch nur zwei Wochen.“

„Ich bin neugierig, was dabei herauskommt, wenn in den Tiefen deiner Seele gekramt wird“, setzte er fort. „Hoffentlich bist du anschließend noch für den Richterdienst tauglich. Das Seelchen am Strafrichtertisch, ich bin gespannt.“

Sein Humor hatte mir noch nie gefallen.

Ich erzählte ihm von dem Einbruch und auch, dass merkwürdigerweise nichts gestohlen worden war, obwohl sich ganz nette Dinge angeboten hätten. Wir überlegten, ob das Ganze vielleicht etwas mit einem meiner Verfahren zu tun haben könnte, vielleicht auch mit dem Schraubenspezialisten. Aber am Ende unserer Überlegungen waren wir auch nicht schlauer. Kupfer wusste über meine persönliche Situation Bescheid und ermahnte mich, mir endlich eine ordentliche Wohnung zu suchen, etwas Standesgemäßes. „Und schneide dir die Haare auf eine normale Länge und den Schnauzer ganz ab – und wenn wir gerade dabei sind, diese verwaschenen Jeans solltest du auch zu Hause lassen!“

„Die Haartracht des Richters ist Ausdruck seiner richterlichen Unabhängigkeit, und die Karriere ist was für Karrieristen“, murmelte ich und winkte ihm im Hinausgehen zu.

Ich machte mich in meinem Büro wieder an die Arbeit.

Gegen Abend fiel mir über den Akten meine Tante Utz ein. Ich mag sie sehr. Sie ist nicht meine richtige Tante, sondern eine Freundin der Familie. Sie kannte mich schon als kleinen Bengel. Sie ist ein ziemlich wilder Vogel mit speziellen Einfällen. Viel in der Welt herumgekommen. Und sie hat schon ein paar Jährchen auf dem Buckel. Utz ist ja eher eine männliche Kurzform, aber das ist ihr – sie heißt Ulrike – gerade recht.

„Ja hallo, Max, das ist aber schön, dass du mich mal wieder anrufst. Was hast du denn auf dem Herzen?“

„Ich glaube, ich hätte was Interessantes für dich.“

Tante Utz findet die Juristerei und die Juristen sterbenslangweilig. Als ich damals begann, Jura zu studieren, versuchte sie mit Engelszungen, mir das auszureden, und schlug mir verschiedene Berufe vor, bei denen etwas zu erleben sei. Nicht so eine staubtrockene Angelegenheit.

Sie war nie in einer Sitzung von mir. Als ich sie vor einigen Wochen auf der Straße traf und sie darauf ansprach, sagte sie, sie wollte es sich überlegen.

Voraussetzung sei aber, dass sich die Sache im Rotlichtmilieu ereignet habe und der Angeklagte müsse über und über tätowiert sein und in Ketten vorgeführt werden.

Am Telefon erzählte ich ihr nun, dass ich am Freitag genau so einen Fall hätte, gerade das, was sie interessieren würde.

Sie wurde natürlich neugierig und wollte Einzelheiten wissen. Aber ich sagte ihr, sie solle eben kommen, es müsse ja ein bisschen spannend bleiben.

Sie versprach dabei zu sein. Sie werde eine Freundin mitbringen.

Der Fall vom Freitag hatte sich tatsächlich im Rotlichtmilieu ereignet. Ein mehrfach vorbestrafter Zuhälter, ein gewalttätiger Bursche, hatte einem Freier das halbe Ohr weggeschossen. Vorausgegangen war, dass der Freier Rabatz gemacht hatte, weil eine von ihm bezahlte Prostituierte das Geschäft mit ihm durch besondere „Fertigkeiten“ für seinen Geschmack zu schnell erledigt hatte. Ein gestörtes Preis-Leistungs-Verhältnis sozusagen. Natürlich hatte er auch schon ziemlich einen in der Krone gehabt.

 

Um den Ablauf zu klären, waren eine Reihe von Prostituierten und natürlich der Freier geladen.

Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und dachte darüber nach, ob ich mich wirklich bis zum Ende meines Arbeitslebens mit solchen Typen, mit dem Stochern im Unrat beschäftigen sollte. Kein schöner Gedanke. Ich versuchte mich davon zu lösen und die positiven Seiten der Arbeit zu sehen: Gerechtigkeit, reagieren auf Unrecht, Opfer nicht allein lassen – den Stein des Sisyphus den Berg ein Stück hinaufrollen.

Das Zivilrecht, auf das ich hätte wechseln können, immer wieder mit unendlichen und nun wirklich staubtrockenen Bauprozessen, das war auch nichts. Ich hatte es jahrelang genossen. Im Strafrecht tobte wenigstens das Leben. In nahezu jeder Hauptverhandlung entwickelte sich eine spezifische Psychodynamik, die in der Regel auch das Ergebnis beeinflusste oder zu beeinflussen drohte und derer sich der Richter bewusst sein sollte.

Und natürlich gab es auch entspannende, kurzweilige Gerichtserlebnisse.

Ich erinnerte mich an einen sympathischen Dieb. Mitglied einer bekannten Zirkus-Familie. Inzwischen deutlich über sechzig Jahre alt. Die letzten fünfzehn Jahre hatte er unregelmäßig als Clown gearbeitet. Und immer wieder war er straffällig geworden. Kleine Diebstähle, insgesamt siebenundvierzig. Unglaublich. Da bei ihm, nach der Vorgeschichte, keiner mehr glaubte, dass er eine Bewährung durchstehen würde, bekam er immer wieder kleine Freiheitsstrafen. Der siebenundvierzigste Diebstahl wurde bei mir verhandelt.

Er war wegen des sechsundvierzigsten zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt worden. Eine Woche vor der Entlassung hatte er für einen Tag Freigang bekommen, um Dinge für die Zeit nach der Entlassung zu regeln: vielleicht eine Unterkunft, vielleicht eine Arbeit, staatliche Bezüge.

Was machte er? Er stahl in einem Kaufhaus zwei Flaschen wirklich wertvollen Damenparfüms – und wurde prompt erwischt.

In der Verhandlung fragte ich ihn, was er denn mit dem Parfüm machen wollte, sollte es verkauft werden?

Er sah mich verschmitzt an: „Verkaufen? Wo denken Sie hin? Wissen Sie, Herr Richter, ich sollte ja in der Woche drauf entlassen werden, und da wollte ich meiner Freundin ein schönes Geschenk mitbringen, damit sie mich bei sich wohnen lässt.“

„Na gut, aber gleich zwei Flaschen Parfüm?“

„Ich musste auf alles gefasst sein. Wenn sie mich nun nicht aufgenommen hätte? Ich habe noch eine zweite Freundin, und für die musste ich natürlich auch was dabei haben.“

Jetzt war mir alles klar. Alles sehr logisch.

Meine Folgeverhandlung war ausgefallen, und ich unterhielt mich noch lange mit ihm über sein wirklich interessantes Leben und auch über die vielen Straftaten, die er begangen hatte. Er war weit in der Welt herumgekommen, hatte unheimlich viel erlebt.

Am Schluss, nachdem ich ihn erneut zu drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt hatte, ohne dass ihn das überraschte, sagte er, als er hinausgeführt wurde: „Wissen Sie, Herr Richter, wenn nach meinen ersten Straftaten ein Richter so zu mir gesprochen hätte wie Sie, dann hätte ich die anderen Straftaten nicht begangen.“

Honig um’s Maul war es nicht. Er hatte seine Strafe ja schon bekommen. Wie auch immer, es freute mich natürlich.

Ein dreiviertel Jahr später, ich war schon fast aus der Bürotür hinaus zum Start in das Wochenende, holte mich das Telefon zurück. Es war mein Clown, ein Anruf aus der Vollzugsanstalt Aachen. Er hatte offenbar die nächste Straftat begangen und bat mich, ob ich ihm helfen könnte, dass er nach Köln verlegt wird. Er habe doch dort eine Freundin.

Ich versprach, es zu versuchen.

Ich habe dann auch ein bisschen herumtelefoniert. Was daraus geworden ist, kann ich nicht sagen. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.

Gegen Abend, ich war tief eingetaucht in meinen Aktenberg, klingelte das Telefon. „Wo bleibst du denn? Wir sind verabredet.“ Es war mein Freund Jan. Ich hatte ihn vollkommen vergessen. Rasch packte ich die Akten in meine Aktentasche. Ich würde später zu Hause die weiteren polizeilichen Vernehmungen und das ärztliche Gutachten durcharbeiten.

Im Hoepfner-Biergarten saß Jan im Schatten einer großen Kastanie und sah mir etwas missmutig entgegen.

„Es tut mir leid. Ich war so vertieft in die Arbeit, dass ich unser Treffen vergessen habe. Außerdem bin ich etwas neben der Spur.“ Ich erzählte ihm vom Einbruch.

Er stellte eine Reihe von Fragen, denen man seine Sachkunde anmerkte. Jan ist zweimal durch das juristische Staatsexamen gefallen und hat sich dann nach einigem Hin und Her als Privatdetektiv niedergelassen. Inzwischen hat er sich einen guten Ruf erworben und in zwei, drei auch in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Fällen verblüffende Resultate erzielt.

Mit einem seiner ersten Fälle hat er sich seinen speziellen Spitznamen in der Presse zugezogen, mit dem ich ihn aber lieber nicht ansprach, weil er ihn gar nicht mochte: Jan die Wühlmaus.

Er war nach einem Überfall auf die Familie eines reichen Geschäftsmannes am hellen Tag in deren Privathaus von diesem mit Nachforschungen beauftragt worden. Die Verbrecher waren mit Skimasken über den Gesichtern in das am Ende einer lang gestreckten Sackgasse gelegene Haus eingedrungen. Ein Fahrzeug wurde von den Anwohnern nicht gesehen, und deswegen ging die Polizei davon aus, dass sie zu Fuß gekommen waren.

Die Ermittlungen kamen nicht recht voran.

Jan kroch tagelang durch die Vorgärten der Nachbarhäuser, deren Eigentümern er damit verärgerte, weil die Polizei bereits alles abgesucht hatte. Er durchforschte immer wieder einen kleinen hinter dem Haus des Geschäftsmannes gelegenen Park und sämtliche Abfallablagerungen in der Umgebung. Er ließ sich vom Spott der Beobachter nicht beeindrucken. Es war auch vollkommen unklar, was er suchte.

Nach zehn Tagen fand er tatsächlich an einer überraschenden Stelle eine Skimaske, und zwar auf einem Baum im Park. Es blieb zunächst vollkommen rätselhaft, wie sie da hingekommen war. Aber die Polizei stellte schnell fest, dass man von da oben mit einem Fernglas eine prächtige Sicht auf die Rückseite des Hauses hat. Aber Jan entdeckte die Maske – und siehe da: DNA-Anhaftungen führten auf die Spur eines vorbestraften Einbrechers, und der Geschäftsmann bekam, unter anderem, die geliebte goldene Uhr seines Großvaters zurück.

Gemeinsam mit Jan überlegte ich, was jemand bei mir suchen könnte. Ein privater Hintergrund schied eigentlich aus. Meine Exfrau war friedlich, und was sollte sie auch bei mir suchen? Es blieb also nur ein dienstlicher Bezug.

Ich verwahre keine Unterlagen von laufenden oder zukünftigen Verfahren – und schon gar nicht von früheren – bei mir zu Hause auf. Davon kann eigentlich auch niemand ausgehen. Aber auch, falls jemand das meint, was sollte er suchen? Alle Grübelei half nichts, wir kamen nicht weiter. Er versprach, ab und zu unauffällig an meinem Hotel vorbeizuschauen.

Dann erzählte ich ihm von meinem nervigen Abiturversagenstraum.

Jan ist Single. Er hat immer wieder über kürzere und längere Phasen Freundinnen. Manchmal muss ich ihn aufrichten, wenn eine Beziehung zu Ende gegangen ist. Vor etwa zwei Jahren hatte er über einen längeren Zeitraum eine sehr intensive Liaison mit einer viel jüngeren Psychologiestudentin. Während er vorher im Wesentlichen Autozeitschriften gelesen und sich für Oldtimer interessiert hatte, fing er auf einmal an, ein Psychologiebuch nach dem anderen durchzuarbeiten. Er ging allen seinen Freunden auf die Nerven mit seinen neuesten Erkenntnissen. Er schwärmte von dem Liebsverhältnis und der Bereicherung, die sich für ihn daraus ergab. Als die Freundin ihm eines Tages eröffnete, er sei einfach zu alt für sie und die Beziehung sei beendet, brach er vollkommen zusammen, und ich musste ihn tagelang trösten.

Genauer gesagt war es noch viel dramatischer gewesen. Er hat es mir einige Monate später erzählt. Es ging immer hin und her zwischen den beiden, weil sie mit dem Altersunterschied nicht fertig wurde. Dann vor ihrem Urlaub in Skandinavien mit mehr oder weniger gleichaltrigen Freunden, aber ohne ihn, hatte sie ihm gesagt, dass ihr jetzt klar sei, sie werde mit ihm zusammenbleiben. Während dieses Urlaubs schlief sie aber mit einem verheirateten Zahnarzt und wurde schwanger. Ihm sagte sie später, sie habe nur mit dem geschlafen, weil er, Jan, immer gesagt habe, man müsse den Augenblick leben.

Inzwischen ist er längst darüber hinweg und wieder zu seinen Autozeitschriften und den Oldtimern zurückgekehrt. Aber es ist viel in seinem Kopf hängen geblieben, und wenn im Freundeskreis ein Psychoproblem auftaucht, wird er zu Rate gezogen.

Ich lerne seit Jahren Spanisch, durchaus mit einem gewissen Erfolg. Als ich damals seine Psychokarriere mitbekam, dachte ich, eine spanische Freundin wäre vielleicht der intensivere, erfolgreichere und erfreulichere Weg. Aber woher nehmen? Einmal hatte ich da, Jahre her, etwas in der Richtung. Aber das war, bevor ich anfing Spanisch zu lernen.

Jan setzte sich zurück, legte seine Stirn in Falten, tauchte ab in seine Psychotiefen.

„Wie oft hast du diesen Traum und wie lange schon? Beunruhigt er dich sehr?“

Ich erzählte, dass ich ihn seit vielen Jahren habe. Nicht oft, vielleicht einmal im halben Jahr, aber immer wieder fast identisch. Er nerve mich schon etwas, und ich wäre ihn gern los.

„Du brauchst dich darüber nicht besonders aufzuregen. Ein Fall für eine kognitive Verhaltenstherapie ist das noch nicht. Viele Menschen haben ähnliche Träume. Von chronischen Albträumen spricht man aber erst bei wesentlich höherer Frequenz, etwa einmal pro Woche und über einen längeren Zeitraum. Und auch mit gravierender Thematik: Fluchtträume, Sturzträume und so etwas.“

Ich sah ihn verblüfft an. „Na ja, Lina hat damals eine Seminararbeit über den chronischen Albtraum gemacht. Ich habe sie ihr auf dem Computer geschrieben.“

„Wenn du ihn loswerden willst, solltest du ihn jeweils aufschreiben. Dich intensiv mit ihm beschäftigen, ihn erzählen. Konkret überlegen, wie du gegen die Traumsituation vorgehen könntest. Dir zum Beispiel klarmachen, dass du das Abiturzeugnis und die anderen Zeugnisse hast und dass der Traum dir ein falsches Bild vorspiegelt. Diese Abwehrstrategie solltest du häufiger durchdenken.“

Er öffnete den Mund um fortzufahren, aber ich unterbrach ihn: „Das reicht, das reicht. Genau so werde ich verfahren. Aber du hast mich wirklich sehr beeindruckt. Was die Liebe so zustande bringt. Da kann man ja nur staunen.“

„Lina hat mich damals verändert. Es ist verrückt, welche Seiten meiner Person bei ihr angesprochen wurden. Es waren nicht nur die verstandesmäßigen. Was Linchen jetzt wohl macht?“

Wir tranken unser Bier aus, und ich erzählte ihm noch kurz von meiner Freitagsverhandlung und dass Utz kommen würde, die er auch kannte und mochte. Zum Schluss sagte ich ihm noch, dass ich in den nächsten zwei Wochen auf einer Tagung sein würde.

Er schlurfte davon, ganz Columbo.

Ich befestigte meine Aktentasche auf den Gepäckträger meines Fahrrades und machte mich auf den Weg. In meinem Kopf kreisten weiter die Gedanken. Mein Weltbild war tatsächlich etwas verunsichert.

Am Abgang zum Keller hinter dem Hotel stellte ich mein Fahrrad ab. Es stank nach Katzenkot. Ich beugte mich vor, um das Fahrrad an das Gitter anzuschließen, als ich hinter mir ein schlurfendes Geräusch hörte. Bevor ich mich umdrehen konnte, knallte etwas auf meinen Kopf. Bitte nicht in die Katzenkacke, dachte ich noch, dann wurde es finster um mich.

III.

Durch einen heftigen Schmerz in meinem Rücken kam ich zu mir. Ich fühlte mich wie benebelt. In meinem linken Ohr pfiff ein unerträglicher, hoher Ton. Es war vollkommen schwarz um mich herum. Ich kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Es blieb schwarz. Ich lag zusammengekrümmt auf hartem Boden. Meine Arme waren auf den Rücken gebogen, und als ich versuchen wollte, sie nach vorn zu bringen, schoss ein heftiger Schmerz in meine Handgelenke. Meine Hände waren tatsächlich auf dem Rücken gefesselt. Ich wollte den Mund öffnen um zu rufen, aber er war zugeklebt, ich konnte ihn nicht öffnen.

Panik ergriff mich. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Ich atmete heftig durch die Nase und trat mit meinen Beinen um mich. Ich konnte die Beine nicht strecken, ich stieß mit ihnen gegen eine feste Begrenzung. An einem Fuß hatte ich den Schuh verloren. Ich konnte fühlen, dass die Begrenzung gepolstert war. Ich drehte meinen Körper hin und her, um mit den Füßen die Umgebung zu prüfen. An allen Seiten war ich offenbar von einer festen, gepolsterten Wand umgeben. Als ich ein Bein nach oben streckte, konnte ich direkt über mir eine Wand fühlen. Ich war in einer Kiste oder etwas Ähnlichem eingeschlossen, konnte meine Hände nicht bewegen und den Mund nicht öffnen. Ich konnte mich nach außen nicht bemerkbar machen.

 

Ich neige nicht zu Klaustrophobie, aber ich bemerkte, dass ich anfing, innerlich außer Kontrolle zu geraten. Mühsam versuchte ich, mich zu beherrschen, ruhig und tief zu atmen, still zu liegen, zu horchen, ob irgendwelche Geräusche zu hören waren. Nichts.

Meine Psyche wehrte sich gegen die Situation. Ich war Richter. So etwas durfte man mit mir nicht machen. Nicht mit mir.

Eine tiefe Hoffnungslosigkeit breitete sich in mir aus. Was würde mit mir passieren? Man hatte mich sicher nicht hier gefangen gesetzt, um mich anschließend unversehrt wieder laufen zu lassen. Was wollte man von mir? Wieder brachte ich mich mühsam zur Ruhe. Ich versuchte, langsam und gleichmäßig zu atmen.

Meine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Über mir konnte ich auf beiden Seiten kaum sichtbare schmale Lichtschimmer erkennen. Die Luft war stickig. Es roch irgendwie nach Autowerkstatt. Mit dem unbeschuhten Fuß konnte ich auf der einen Seite hinter mir einen weichen, breiten Gegenstand spüren. Ich fuhr mit dem Fuß darüber. Er war beweglich, rechteckig, vielleicht ein Koffer. Auch mit den Händen konnte ich ihn hinten fühlen. Plötzlich stieß ich mit dem Fuß an einen kleinen Gegenstand auf dem Boden. Ich schob ihn zur Seite und klemmte ihn gegen die Begrenzung. Mit den Zehen in der Socke versuchte ich zu fühlen, tastete ihn ab. Er rutschte mir weg. Dann hatte ich ihn wieder. Klein, länglich. Es durchfuhr mich wie ein Blitz. Es konnte das Handy sein. Man hatte es mir vielleicht nicht abgenommen, und es war mir aus der Tasche gefallen.

Ich habe ein kleines Nokia-Klapphandy, ein älteres Modell. Mit dem Zeh fühlte ich die Beweglichkeit der Klappe. Es war wirklich mein Telefon.

Hoffnung durchfuhr mich. Ich musste telefonieren. Es gab doch die Handyortung. Man würde mich entdecken.

Ich wollte es mit dem Fuß aufklappen, aber es gelang mir nicht. Es rutschte zur Seite, und ich brauchte geraume Zeit, es mit dem Fuß wiederzufinden.

Nicht an die Situation denken. Jetzt nur das Telefon in Gang bringen. Nichts anderes. Immer wieder versuchte ich, es mit dem Fuß zu öffnen. Immer wieder rutschte es weg. Meine Hoffnung schwand. Ich musste es anders probieren.

Die Kiste war irgendwie länglich, und ich lag auf der Seite mit angezogenen Beinen mit nur sehr eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten. Ich musste versuchen, das Telefon mit meinen Füßen hinter meinen Rücken zu stoßen. Dort, wo meine gefesselten Hände waren. Trotz der Fesselung würde ich eine Nummer wählen können.

Zwischendurch war ich für kurze Zeit ganz still. Lauschte eine Weile. Nichts war zu hören.

Ich hatte wahrscheinlich nur einen Versuch. Wenn das Handy hinter meinen Rücken rutschte, ohne in die Nähe meiner Hände zu geraten? Wenn es hinter dem Koffer, oder was das war, verschwand? Es war dann vielleicht vollkommen außerhalb meiner Reichweite.

Ich drückte mich mit den Armen in meinem Rücken ganz nach vorn gegen die Begrenzung. Mit meinem unbeschuhten Fuß schob ich das Handy zurück und etwas in Richtung auf meine Hände im Rücken, die ich so weit wie möglich nach hinten streckte. Ich konzentrierte mich auf meinen Fuß. Noch einmal lauschte ich. Nichts. Ich merkte, wie mir Schweißtropfen auf die Stirn und unangenehm in meine Augen traten. Mit einem energischen Ruck winkelte ich das Bein an und schleuderte das Handy mit dem gestreckten Fuß in Richtung meiner geöffneten Hände. Es prallte heftig gegen meine linke und sprang weg. Mit einem Stöhnen atmete ich die Luft aus, die ich angehalten hatte. Vielleicht hatte ich zu stark gestoßen.

Vorsichtig begann ich zu tasten, auch in die Ritze unter dem Gegenstand hinter mir. Nichts. Ich versuchte, meine Hände in Richtung meiner Füße zu bewegen, suchte den Boden ab, aber das schmale Gefängnis schränkte meine Bewegungsmöglichkeiten stark ein. Erschöpft hielt ich inne. Ich bemerkte, dass meine Hände zitterten. Irgendwo musste das verdammte Handy sein.

Nach kurzer Zeit fing ich erneut an, meine Hände hinter dem Rücken hin- und herzuschieben. Ich versuchte jetzt, sie so weit wie möglich nach oben zu biegen. Meine Schultern begannen zu schmerzen. Plötzlich berührte ich mit den ausgestreckten Fingern einen Gegenstand. Vorsichtig tastete ich. Es war an der Grenze meiner Bewegungsmöglichkeit. Jetzt nur nicht das Ding nach oben stoßen. Es musste beim Anprall auf meine Hand darüber gesprungen sein. Ich bemühte mich, den Oberkörper nach vorn zu krümmen, schob meine Arme ganz nach oben. Meine Schultern schmerzten unerträglich. Ganz vorsichtig tastete ich wieder mit den Fingern den Boden ab. Und da war es, ich konnte es fühlen. Mit den Fingerspitzen der linken Hand konnte ich es nach unten ziehen, und dann hatte ich es in der Hand. Mein Handy.

Ich zog es herab. Ein unendliches Gefühl der Erleichterung überkam mich.

Ich versuchte, mich bequem zurechtzulegen, und klappte es auf. Mit den Fingern der rechten Hand fühlte ich über die Tastatur. Ich war heilfroh, dass ich dieses eher veraltete Tastentelefon hatte und nicht eines der jetzt üblichen Smartphones mit Touchscreen. Damit wäre ich im Blindenmodus hinter meinem Rücken endgültig verloren gewesen. Ich orientierte mich mit den Fingern und überlegte, ob ich die Notrufnummer der Polizei oder Jan anrufen sollte.

Plötzlich stockte mir der Atem: Ich hörte einen unterdrückten Fluch und stolpernde Schritte. Nach einem zufälligen Spaziergänger klang das nicht. Ich drehte mich halbwegs auf den Rücken. Sollte der Entführer mein Gefängnis öffnen, würde ich ihm jedenfalls meine Füße in das Gesicht knallen.

Eine Autotür wurde geöffnet, mein Untergrund senkte sich und schaukelte etwas. Mir wurde klar, dass ich mich im Kofferraum eines Fahrzeuges befand. Ich war in einem Auto gefangen.

Eine Tür wurde zugeschlagen, das Fahrzeug gestartet und gleich stark beschleunigt, sodass ich mit meinem Kopf heftig gegen die hintere Wand knallte und vor Schreck und Schmerz das Handy aus der Hand fallen ließ. Mit großer Geschwindigkeit fuhr der Wagen über einen holprigen Weg. Ich versuchte krampfhaft, mich zu verkeilen, um nicht hilflos hin- und hergeschleudert zu werden.

Vorn klingelte ein Telefon. Ich hörte erregte Wortfetzen. Verstehen konnte ich nichts, aber mir schien, dass Spanisch gesprochen wurde. Das Auto fuhr unvermindert schnell über die Buckelpiste.

Plötzlich hörte ich einen lauten Fluch. Das Fahrzeug wurde stark abgebremst und schleuderte herum. Ich rutschte gegen die rechte Seite. Dann gab es kreischende Blechgeräusche und einen knirschenden, krachenden Stoß, der mich massiv nach vorne katapultierte. Offensichtlich hatte es einen Zusammenstoß mit einem anderen Fahrzeug gegeben.

Ich zog meine Beine an, drehte mich etwas auf den Rücken und blickte dann nach oben. Es durchfuhr mich wie ein Stromstoß. Über mir sah ich den funkelnden Sternenhimmel. Durch den starken Aufprall hatte sich der Kofferraumdeckel geöffnet. Ich war wie erstarrt.

Draußen hörte ich meinen Fahrer wütend mit jemandem herumfluchen, der ihm aber nichts schuldig blieb.

Ich rappelte mich auf die Knie und schaffte es, ein Bein über die hintere Ladekante zu schwenken. Ich ließ mich nach außen zu Boden fallen. Wieder kam ich auf die Knie und dann auf die Beine. Flüchtig blickte ich nach vorn und sprang, so schnell ich es mit den Händen auf dem Rücken konnte, seitwärts vom Weg. Kam ins Straucheln und rollte einen Hang hinab. Unten richtete ich mich mühsam wieder auf und lief weiter. Kurz blickte ich zurück, um noch zu versuchen, das Kennzeichen des Entführungsfahrzeuges abzulesen. Aber das Auto stand oben ohne Licht, und gegen den Horizont sah ich die beiden Gestalten, die jetzt unter Gefluche aneinandergeraten waren. Ich drehte mich um und stolperte durch das mannshohe Buschwerk davon. Plötzlich wurde mir schwarz vor Augen, und ich brach zusammen.

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