Knall 2

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Am Dienstagmorgen um halb acht bog ich mit meinem geliebten alten Lancia HP Executive durch das Tor in den Hof des Landgerichtes. Es war ein klarer, kalter Wintertag. Der große Parkplatz war nur etwa zur Hälfte belegt. Die Richterschaft pflegt eher etwas später einzutreffen. Nach einer Stunde würde er bis auf den letzten Platz besetzt sein. Ich hatte ein wunderbares, abwechslungsreiches und interessantes Wochenende im Norden hinter mir und fühlte mich ausgeruht und entspannt. Am späten Sonntagabend war ich zurückgekommen.

Am Montag hatte ich nach dem wöchentlichen Referendarskurs Strafrecht noch einmal bis in den Abend die Vorbereitung für meine Strafsitzung am nächsten Tag überprüft. Angeklagt waren der Führer einer Rangierlokomotive und der Leiter einer Arbeitskolonne im Gleisbau der Bundesbahn. Beide etwa fünfzig und seit Jahren im Dienst. Bei Arbeiten in einer Baustelle an einer Bahnlinie erfasste die möglicherweise zu schnell fahrende Lokomotive einen 30-jährigen Bauarbeiter aus Polen, der dabei ums Leben kam. Er hinterließ eine schwangere Ehefrau und zwei Kinder, die in Polen lebten. Es waren zwölf Zeugen und zwei Sachverständige, verteilt auf zwei Sitzungstage am Dienstag und Donnerstag, von mir geladen worden. In den Wochen zuvor hatte ich mich intensiv mit den umfangreichen Sicherheitsvorschriften im Gleisbau der Bahn und den polizeilichen Ermittlungen, zusammengefasst in vierundzwanzig Leitz-Ordnern, beschäftigt. Ich war gut vorbereitet.

Kurz vor neun betrat ich das Beratungszimmer, wo mich schon die beiden Schöffen erwarteten. Darunter auch Immerle, ein Konditor, den ich wegen seiner vorzüglichen, selbst gemachten Pralinen, die er regelmäßig mitbrachte, ins Herz geschlossen hatte.

Ich informierte die beiden, worum es heute gehen werde. Sie hatten schon an vielen Strafsitzungen teilgenommen, hörten aufmerksam zu, und ich musste ihnen nicht mehr die Einzelheiten des Ablaufes erklären. Ihren Fragen merkte ich das Interesse und auch die aus den früheren Verhandlungen gewonnene Sachkunde an. Eine Strafsitzung mit solchen Schöffen war für mich immer eine echte Hilfe, was ich ihnen auch sagte.

Auf dem Weg zum Sitzungssaal war mir im Treppenhaus Frau von Hühnlein entgegengekommen. Ganz gegen ihre Gewohnheit hatte sie mich nicht angesprochen, sondern war mit finsterem Gesicht an mir vorbeigerauscht. Mir war auch klar, warum. Frau Kuch, verantwortlich für unsere gemeinsame Geschäftsstelle, hatte mir nämlich schon in der Frühe mit einer gewissen Empörung in der Stimme mitgeteilt, dass Frau von Hühnlein am Freitag eine Haftbefehlsbeschwerde habe bearbeiten müssen. Als Vertreterin, eigentlich wäre ich zuständig gewesen. Hühnlein ist ihr Liebling, und ab und zu muss ich darunter leiden.

Als ich gemeinsam mit den Schöffen den Sitzungssaal betrat, erhoben sich die Anwesenden. In den etwa zwanzig Sitzreihen mit Klappstühlen waren fast alle Plätze belegt. Das schreckliche Ereignis hatte in der Öffentlichkeit ziemliches Aufsehen erregt und war auch in der Presse über Tage erörtert worden. Auch einen Vertreter der Karlsruher Presse erkannte ich und im Hintergrund den Rentner Paul Zuber, der keine meiner Verhandlungen versäumte, und den ich deswegen „meine Öffentlichkeit“ getauft hatte.

Die Angeklagten mit den Rechtsanwälten und ebenso die Nebenklägerin, die aus Polen angereiste Witwe des Opfers, mit ihrer Rechtsanwältin blickten mir ernst entgegen. Als Vertreter der Staatsanwaltschaft war Dr. Hofer erschienen, den ich bereits über Jahre kannte und zu dem ich ein gutes Verhältnis hatte.

Nach einigen Formalien und dem Verlesen der Anklage begann ich mit den Vernehmungen der Angeklagten zur Person. Man merkte beiden die Erschütterung über das Geschehen an, und sie wiederholten mehrfach, wie unendlich leid ihnen alles tue. Die Verteidiger waren mir gut bekannt und auch, dass ihnen eine Konfliktverteidigung mit zermürbenden Ablehnungs- und sachwidrigen Beweisanträgen fern lag. Sie waren, wie das Gericht, an der Aufklärung des Sachverhaltes interessiert und natürlich an dem, was zugunsten ihrer Mandanten sprach.

Ich befand mich im gewohnten Ablauf. Es würde eine zwar schwierige und wahrscheinlich auch sehr belastende, aber nicht nervige Verhandlung werden.

Gegen halb elf öffnete sich die Tür zum Sitzungssaal und Präsident Kupfer trat mit angespanntem Gesicht herein, dahinter Kommissar Haken von der Kriminalpolizei und ein weiterer groß gewachsener Herr, den ich nicht kannte. Erstaunt unterbrach ich meine Befragung und blickte Kupfer entgegen, der zu mir an den etwas erhöhten Richtertisch trat.

„Dr. Knall, Sie müssen die Sitzung unterbrechen. Es hat sich ein Problem ergeben. Wir müssen mit Ihnen sprechen.“

Fassungslos sah ich ihn an. „Aber ich bin mitten in der Verhandlung. Vor der Tür stehen die Zeugen und warten auf ihre Vernehmung. Die Sachverständigen werden auch demnächst erscheinen.“

Der Präsident blickte mich eindringlich an. „Die Sache duldet keinen Aufschub. Sie müssen sofort mitkommen.“

„Das darf doch wohl nicht wahr sein. Man kann doch nicht so ohne Weiteres meine Verhandlung unterbrechen. Worum geht es denn, zum Teufel? Was ist denn so wichtig?“, fauchte ich, inzwischen richtig wütend.

„Knall, machen Sie keine Schwierigkeiten. Unterbrechen Sie, und kommen Sie mit!“, zischte er zurück.

Die Schöffen beobachteten uns erschrocken von beiden Seiten. Im Sitzungssaal versuchte man mitzubekommen, was da am Richtertisch vor sich ging.

Ich sah Kupfer an und schüttelte den Kopf. „Ich hoffe, Sie

haben einen guten Grund, mich in meiner richterlichen Unabhängigkeit zu beeinträchtigen.“

Ich merkte, dass ihm die Sache unheimlich peinlich war. „Es geht nicht anders. Vielleicht klärt sich alles schnell auf.“

„Die Sitzung wird für eine Stunde unterbrochen. Fortsetzung der Verhandlung um halb zwölf“, teilte ich den Anwesenden mit, die sich unter lautem Gemurmel erhoben.

Mit den Schöffen ging ich durch die Tür hinter dem Richtertisch in das Beratungszimmer. Während ich meine Robe auszog, waren mir der Präsident, Haken und der weitere Herr gefolgt.

„Gehen wir in mein Büro“, sprach mich der Präsident an und öffnete die Tür zum Flur. Durch Gruppen der aufgeregt miteinander sprechenden Zuhörer, die aus dem Sitzungssaal strömten, vorbei an den immer noch erstaunt blickenden Verteidigern, folgte ich dem Präsidenten in das hohe Treppenhaus und hinauf in das obere Stockwerk. An den Wänden hingen großformatige, sehr farbige Arbeiten der aktuellen Ausstellung unseres Kunstvereins „Kunst im Landgericht“ mit Künstlern aus der Pfalz. Grafit, Pigment, Leinöl auf Papier schoss es mir im Vorbeigehen durch den Kopf. Mehrere Kollegen, die uns entgegen kamen, blieben stehen und sahen verblüfft der eiligen Gruppe nach. Mein Freund Johannes, der Vorsitzende des Schwurgerichtes, trat mir in den Weg und wollte mich ansprechen.

„Nicht jetzt, Herr Anglerter!“, herrschte Kupfer ihn an und schob den Kollegen zur Seite. Verdattert blickte Johannes uns hinterher.

Anita Steinert, die Vorzimmerdame des Präsidenten, zu der ich ein herzliches Verhältnis habe, blickte mich beim Eintreten nicht an, sondern vielmehr verlegen auf die Papiere auf ihrem Schreibtisch.

Langsam wurde mir etwas mulmig zumute. Vor allem, weil ich keine Ahnung hatte, was eigentlich vorging. Ich kannte Kupfer gut genug um zu wissen, dass er für eine derartige Aktion triftige Gründe haben musste. Ich merkte, dass ich ziemlich nervös wurde.

Nachdem wir sein Büro betreten hatten, schloss er die Tür

zum Vorzimmer und drehte sich zu mir um.

„Heiko Nielsen von der Mordkommission Stade“, stellte er den unbekannten Herrn vor und zu diesem gewandt: „Das ist Dr. Maximilian Knall.“

Verblüfft schaute ich erst den Präsidenten und dann Nielsen an. „Mordkommission Stade? Was soll das denn?“, fragte ich und reichte ihm die Hand. Nielsen hatte scharf geschnittene Gesichtszüge, schütteres blondes Haar und stechende Augen hinter einer leicht getönten Brille. Er nahm meine Hand mit einem festen Händedruck.

„Nehmen Sie Platz, Knall“, forderte Kupfer mich auf, fügte nach einem Augenblick hinzu: „Meine Herren“, wies auf die gegenüberliegenden Stühle und nahm in seinem ledernen Schreibtischsessel hinter dem großen Arbeitstisch zwischen den Fenstern Platz. Wir setzten uns um einen runden Beratungstisch aus dunklem Holz.

„Herr Nielsen möchte Ihnen einige Fragen stellen“, begann der Präsident. „Er ist extra aus Stade hierhergekommen.“

Vor Verblüffung sprachlos starrte ich erst Kupfer und dann

Nielsen an. Schließlich wandte ich mich an Haken, mit dem ich ja fast befreundet war: „Können Sie mir sagen, was der Unsinn soll?“

Haken blickte mich wortlos, etwas bedrückt an. Einen Augenblick schwiegen alle.

„Wo waren Sie am letzten Wochenende ab Freitag?“, unterbrach Nielsen die Stille.

„Also, jetzt reicht es mir aber“, brachte ich hervor und stand auf.

„Bitte beruhigen Sie sich“, versuchte Kupfer, mich zu besänftigen, stand ebenfalls auf und kam um den Schreibtisch herum. Er legte mir eine Hand auf die Schulter, blickte in meine Augen und flüsterte: „Seien Sie kooperativ. Das Ganze ist peinlich genug.“

„Na gut“, sprach ich Nielsen an und setzte mich wieder. „Ich bin bereit, Ihnen zu antworten. Aber dann möchte ich eine Erklärung für das ganze Theater hören.“ Er nickte mir zu.

„Ich bin am Donnerstagabend mit dem Zug nach Hamburg gefahren, dann weiter nach Stade, war dort bis Samstag und dann noch eine Nacht in Hamburg. So, jetzt zufrieden?“, sagte ich zu Nielsen.

„Und in Stade haben Sie im Hotel am Burggraben gewohnt. Das haben wir überprüft“, erwiderte er.

Ich sah ihn verblüfft an. „Ja, das stimmt. Also, jetzt ist es wirklich genug! Was soll der Quatsch?“

 

Nielsen blickte mich mit seinen hellen Augen durchdringend an. Einen Augenblick schwieg er. „An dem Tag, an dem Sie in Stade waren, wurde eine Sparkasse überfallen und ausgeraubt.“ Er zögerte, blickte einen Augenblick zu Boden und versuchte, sich zusammenzunehmen. „Bei diesem Überfall wurde ein Polizist in Zivil, der zufällig in die Sparkasse kam, angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Felix Tobaben. Er liegt seit Freitagabend in der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf im künstlichen Koma.“

Entsetzt blickte ich erst ihn und dann den Präsidenten an. „Das ist ja furchtbar. Schrecklich.“ Ich überlegte einen Augenblick. „Aber was hat das mit mir zu tun? Für mich war das ein ganz normaler Kurzzeitaufenthalt. Von einem Überfall habe ich nichts mitbekommen. Wann war denn genau der Überfall?“

Niemand antwortete mir.

„Mensch!“, ich blickte zu Haken. „Was soll das Ganze?“

Alle drei sahen mich weiter an, ohne etwas zu sagen. Nach einer Weile unterbrach ich die Stille. „Was ist? Was gibt es noch? Warum sagen Sie nichts?“

„Leider ist das noch nicht alles“, wandte Kupfer sich mir zu.

Erschrocken sah ich ihn an. „Was denn noch? Das reicht doch schon.“

Nielsen drehte sich zu mir herum: „Haben Sie eine Schusswaffe?“

Jetzt verschlug es mir aber wirklich die Sprache. Ich war fassungslos. „Schusswaffe?“ Ich konnte nicht weitersprechen. „Schusswaffe? Wieso wollen Sie denn das von mir wissen?“

Nielsen antwortete nicht, musterte mich nur schweigend.

Nach einer Weile fasste ich mich und drehte mich zum Präsidenten. „Sie wissen doch ganz genau, dass ich mir eine Pistole gekauft habe. Sie haben es mir damals empfohlen. Was hat denn das damit, mit dem Überfall zu tun?“

Ich hatte mir tatsächlich vor Monaten eine Pistole, eine Walther PPK, angeschafft. Kupfer hatte mir nach dem Überfall auf mich dazu geraten. Ich lehnte zunächst ab, weil ich keine Angst hatte und das Ganze für einen Irrtum hielt. Ich konnte nicht glauben, dass mir ernsthaft jemand schaden wollte und ich mich schützen musste. Auch als das Geschehen sich weiter zuspitzte, behielt ich dieses Selbstvertrauen, dass mir letztlich nichts passieren werde. Vielleicht war es schon so, dass die ländliche Kindheit mit der lässigen Mutter mir ein massives Urvertrauen verschafft hatte, das mir half, alles unbeschadet zu überstehen.

So dachte ich zunächst. Aber merkwürdigerweise änderte sich das Wochen später, in der Entspannungsphase. Zu den nächtlichen Albträumen und den Schlafstörungen kam auch eine allgemeine Unsicherheit, ein unmotiviertes Bedrohungsgefühl. Niemand wollte etwas von mir. Die Ganoven waren hinter Schloss und Riegel. Trotzdem, mein Selbstvertrauen war angeknackst. Immer wieder war ich ohne Grund unruhig, ab und zu überfielen mich Schwitzattacken. Mir war klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Etwas musste geschehen.

Mir fiel mein Freund und Kollege Georg aus Bremen ein, der mich in mein spanisches Abenteuer begleitet hatte. Er erzählte mir damals, dass ihm nach einem fürchterlichen Erlebnis eine Therapeutin sehr geholfen habe. Als ich ihn anrief und ihm erzählte wie ich mich fühlte, war er in großer Sorge um mich. In der kurzen Zeit, die wir uns kannten, war ein ungewöhnlich herzliches, freundschaftliches Verhältnis zwischen uns entstanden. Er riet mir dringend, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, und er murmelte etwas über die Gefahren einer posttraumatischen Belastungsstörung vor sich hin.

Daraufhin hatte ich versucht, bei einem bekannten und als sehr erfolgreich geltenden Psychiater in Ettlingen einen Termin zu bekommen, Dr. Dr. Ewald Hilfreich. Er hieß wirklich so. Mein Freund Henner hatte mir einmal gesagt, dass alle Doppel-Doktoren einen Schuss hätten. Ich rief ihn aber trotzdem an, und er erklärte mir zunächst, ich müsse mit einer langen Wartezeit rechnen, da er total ausgebucht sei. Als er hörte, wer ich war und worum es ging, bekam ich unverzüglich einen Termin. Mein Name und das Trüffeldrama waren auch in der örtlichen Presse breitgetreten worden, und das half offensichtlich.

Innerhalb recht kurzer Zeit machte er seinem Namen alle Ehre und half mir. Stabilisierte mich und schaffte es, abgesehen von gelegentlichen Rückfällen, die traumatischen Erinnerungen in normale umzuwandeln.

Als ich ihm damals zu Beginn der Behandlung erzählte, ich wolle mir zu meiner Beruhigung auch eine Pistole anschaffen, meinte er, das sei zwar nicht gerade eine übliche Therapiemaßnahme, aber wenn es mir helfen würde ...

Ein befreundeter Rechtsanwalt vermittelte mir dann die Walther PPK von einem seiner Bekannten, der sein Waffenarsenal verkleinern wollte.

Anfangs führte ich die Pistole ständig mit mir herum, später bewahrte ich sie nur noch in der Wohnung auf. Jedenfalls war es tatsächlich so, dass ich mich mit ihr viel entspannter, sicherer und selbstbewusster fühlte.

Das erinnerte mich damals an einen gewissen Franz, der immer zwei Fünfhunderteuroscheine, früher einen Tausendmarkschein, in einem Geheimfach seines Geldbeutels mit sich herumtrug, ohne sie auszugeben. Er fühlte sich damit sehr von sich überzeugt und stark.

Derselbe, ein Autobastler, baute übrigens auch seinen Ehering als Unterlegscheibe in einen alten Sportwagen ein. Wobei mir unklar blieb, ob das eine auf der psychischen Ebene vielleicht etwas mit dem anderen zu tun haben könnte.

Es gibt schon merkwürdige Menschen, dachte ich. Wahrscheinlich gehöre ich auch dazu.

Ich durchbohrte Nielsen mit meinen Blicken. „Ja, ich habe eine Schusswaffe. Eine Walther PPK. Sie befindet sich im Safe in meiner Wohnung in Ettlingen.“ Ich schwieg einen Augenblick. „Ich habe natürlich auch einen Waffenschein. In meinem Safe ruht die Walther sicher und gut!“ Ich stand auf, ging zur Tür und wollte den Raum verlassen. „Die Zeugen warten!“

„Halt!“, riefen Kupfer und Nielsen wie aus einem Mund und sehr laut. „Bleiben Sie, wir sind noch nicht fertig“, setzte der Präsident etwas leiser hinzu.

Erschrocken blieb ich an der Tür stehen.

Zum ersten Mal schaltete sich jetzt Haken ein. Er stand auf, kam herüber und legte mir eine Hand freundschaftlich auf die Schulter. „Setzen Sie sich wieder. Ich werde Ihnen sagen, worum es geht.“

„Als Sie damals die Pistole gekauft haben, baten Sie mich darum, sie zu überprüfen.“ Er sah mich an. „Sie wollten sicher sein, dass die Waffe nicht eine unrühmliche Vergangenheit hat. Sie kannten den Verkäufer nicht, weil Ihnen die Waffe vermittelt wurde.“

„Stimmt“, antwortete ich ihm. „Und Sie haben mir dann mitgeteilt, sie sei sauber.“

Haken zögerte einen Augenblick. „Ja schon, das stimmt.“ Er machte eine Handbewegung zu Nielsen, der sich einmischen wollte.

„Ich habe die Waffe damals zum Landeskriminalamt gegeben. Dort ist ein Schuss aus der Waffe abgegeben und die Patrone und auch die Hülse überprüft worden. Die Schartenlinien der Projektile sind wie ein Fingerabdruck, also vollkommen eindeutig. Vergleichsabdrücke waren nicht vorhanden. Also konnte ich Sie beruhigen.“

Er zögerte einen Augenblick. „Das Ergebnis des Beschusses wurde, wie bei allen Waffen, die überprüft werden, im Computer des Landeskriminalamtes gespeichert.“

Er hielt wieder inne, sah mir dann fest in die Augen und wählte sorgfältig seine Worte. „Nach einer vorläufigen Überprüfung ist Ihre Waffe bei dem Raubüberfall auf die Sparkasse in Stade am letzten Freitag gegen Mittag verwendet worden.“

Nach einem kurzen Moment sprach er weiter: „Und damit ist auch auf Felix Tobaben geschossen worden.“

Ich merkte, wie sich mein Inneres zusammenkrampfte. Entsetzt starrte ich Haken an, fasste mir unwillkürlich an die Herzgegend, atmete ruckartig ein und klammerte mich an meinen Stuhl.

„Die Sachverständigen für Gerichtsballistik sind allerdings im Augenblick total überlastet“, setzte Haken fort. „Das endgültige Ergebnis wird noch etwas auf sich warten lassen.“

Ich vermochte kein Wort hervorzubringen, saß wie erstarrt.

Alle drei sahen mich schweigend an. Schließlich neigte sich Nielsen fast freundlich zu mir. „Und deswegen bin ich hier.“ Kupfer kam zu mir herüber und legte mir die Hand auf die Schulter. „Wir müssen das aufklären. Schließlich bin ich als Präsident ja auch in die Sache verwickelt. Ich bin doch für alles im Landgericht irgendwie verantwortlich.“

Dieser, wie ich fand, höchst unpassende Satz brachte mich wieder in die Wirklichkeit zurück.

Ich stand auf. „Meine Walther PPK befindet sich bei mir in der Wohnung im Safe. Ich habe sie vor ein paar Wochen noch dort gesehen, als ich meine Kreditkarte herausgenommen habe. Das lässt sich schnell überprüfen.“

„Und, wo bewahren Sie den Schlüssel für den Safe auf?“, fragte mich Nielsen mit energischer Stimme.

„Einen Schlüssel habe ich im Gericht, in meinem Büro. Zusammen mit einem Hausschlüssel. Zu meiner Sicherheit. Für alle Fälle“, wandte ich mich an Kupfer. „Den zweiten Schlüssel für den Safe habe ich zu Hause in einem Versteck.“

„Dann sollten wir schleunigst klären, dass alle Verdächtigungen Unsinn sind“, brach es aus Haken hervor, der aufsprang. „Zuerst ins Büro“, er nahm mich am Arm und zog mich zur Tür.

Kupfer und Nielsen erhoben sich ebenfalls energisch, und wir marschierten an der uns mit großen Augen nachblickenden Sekretärin vorbei auf den Flur.

Offenbar hatte sich in Windeseile herumgesprochen, dass die Verhandlung von Knall geplatzt war, die Polizei mit im Spiel sei und unerklärliche und aufregende Dinge im Büro des Präsidenten vor sich gingen. Auf dem Gang vor seinem Büro, der sonst um diese Zeit mehr oder weniger menschenleer ist, drückten sich diverse Gerichtsangehörige aus unterschiedlichen Hierarchieebenen in unauffälligen Gesprächen herum. Im Seitenflur stemmte Frau von Hühnlein im Gespräch mit drei Kollegen, wie es ihrer etwas eigenwilligen Angewohnheit entsprach, das rechte Bein wieder einmal angewinkelt nach hinten an die Korridorwand. Aber trotz ihres unrichterlich kurzen Rockes war die tuschelnde Aufmerksamkeit ihrer Gesprächspartner beim Erscheinen der Gruppe dieses Mal sofort auf uns gerichtet.

In meinem Büro stellten sich meine drei Begleiter schweigend nebeneinander an die Wand rechts neben der Tür. Ich setzte mich auf meinen Schreibtischstuhl und wedelte mit der Hand zu drei um einen kleinen Tisch verteilten Stühle auf der Gegenseite hinüber, was aber von meiner Eskorte missachtet wurde.

Ich zog die oberste rechte Schublade auf und wühlte darin herum. „Ich habe sie in einem kleinen Pappkästchen. Waren mal Visitenkarten drin“, richtete ich mich an die drei. „Ich habe die Schlüssel natürlich ewig nicht benutzt, weil ich den für die Wohnung ständig bei mir habe. Und einen Schlüssel für den Safe habe ich ja zu Hause.“ Die Mannschaft blickte mich nur schweigend an.

Ich setzte die Suche nach dem Karton in den Schubladen darunter fort und dann in denen auf der anderen Seite. Schließlich ganz unten links unter einem Stapel von Papieren zog ich triumphierend den kleinen geschlossenen Behälter hervor, hob ihn hoch und legte ihn vor mich auf die Schreibtischplatte. „Natürlich, wie immer, im letzten Fach!“, murmelte ich und hob den Deckel der Schachtel hoch, während Kupfer und seine beiden Begleiter gespannt nähertraten.

Es traf mich wie ein Schlag. Das Kästchen war leer!

Ungläubig starrte ich hinein. Drehte es hin und her. Es blieb dabei. Es war leer. Die Schlüssel waren nicht da.