Knall 2

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3

Mit erhöhter Geschwindigkeit steuerte Kommissar Haken seinen dunkelgrauen Dienst-Mercedes über die Herrenalber Straße in Richtung Ettlingen. Der Präsident saß neben ihm, hinten Nielsen und ich. Wir schwiegen alle vier vor uns hin.

Im Gericht war ich noch einen Augenblick in der Geschäftsstelle gewesen, gefolgt vom ziemlich finster blickenden Nielsen, der mich nicht aus den Augen ließ. Ich hatte Kuch angewiesen, bei der Staatsanwaltschaft und den Rechtsanwälten anzurufen und mitzuteilen, dass die Verhandlung erst am Donnerstag fortgesetzt wird. Außerdem müsste sie um halb zwölf hinunter zum Sitzungssaal gehen, die Zuhörer informieren und einen entsprechenden Aushang an der Tagesordnung vor der Tür anbringen.

Sie hatte mich ziemlich bockig angeschaut und unwillig gefragt, was sie denn zur Begründung sagen solle. Da mir dazu nichts einfiel, hatte ich ihr geantwortet: „Teilen Sie mit, gerichtsinterne Gründe erfordern die Verlegung.“

Kopfschüttelnd hatte sie sich wieder an ihre Arbeit gemacht. Allerdings war ich sicher, dass sie wenig später recht munter im ganzen Haus herumtelefonieren würde, um die Sensation zu verbreiten:

Knall in Begleitung der Polizei, vielleicht sogar unter Bewachung, unterwegs zu unbekanntem Ziel! Das Ganze so wichtig, dass sogar die über Wochen vorbereitete Verhandlung mit der extra aus Polen angereisten Nebenklägerin abgesagt werden muss, na ja, verschoben wird! Was mag wohl dahinter stecken? Dem Knall traue ich alles zu!

Ausführlich würden die Möglichkeiten hin und her erörtert werden. Alle voll Dankbarkeit, dass im eintönigen Gerichtsalltag endlich mal was los war.

Als Erstes hatte sie natürlich ihren Liebling, die Kollegin Hühnlein, informiert, bei der das allerdings aus Furcht vor drohenden Vertretungsarbeiten auf wenig freudiges Interesse gestoßen sein dürfte.

Beim Vorbeimarsch an meinem Büro war ich noch kurz hi-

neingesprungen und hatte es geschafft, dem verblüfften Nielsen die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

Ich rief meinen Freund Jan an. Erstaunlicherweise hatte ich ihn sofort am Telefon. Er ist nämlich häufig aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht erreichbar.

Jan ist Privatdetektiv und verhinderter Jurist, zweimal durchs Examen gerasselt. Bis heute ist mir unklar, wieso das passiert ist, denn er ist für mein Gefühl ungewöhnlich intelligent. Vielleicht braucht man für die Juristerei eine spezielle Variante der Klugheit. Er selbst erklärte es mir aber damit, dass ihn immer eine fast unüberwindliche Müdigkeit überfallen hätte, sobald er die Gesetzessammlung „Schönfelder“ aufschlug. Er sei sozusagen ein „pawlowscher Hund“ des Jurastudiums.

Mit seiner schnellen Auffassungsgabe und Vitalität hat er einige überraschende Erfolge in dem Metier erzielt. Er war mir auch bei der Trüffel-Geschichte eine Hilfe gewesen, und ich weiß, dass ich mich auf ihn verlassen kann. So jemanden schien ich jetzt zu brauchen.

„Na, was gibt es Maximilian? Ich denke, du bist im juristischen Gleisbau beschäftigt und die ganze Stadt wartet auf deine Erkenntnisse?“

„Bitte keine Scherze! Es spielen sich hier ungeheure Dinge ab. Es könnte sein, dass ich dringend auf deine Hilfe angewiesen bin. Wirklich dringend“, gab ich zurück. „Können wir uns heute Abend treffen? Sagen wir um acht Uhr in Ettlingen im Bräu?“

„Klar, können wir uns treffen. Was ist denn los? Wieso ...“

„Nicht jetzt. Also bis dann“, unterbrach ich ihn und legte den Hörer auf. Noch einen Augenblick blieb ich auf meinem Schreibtischstuhl sitzen, dann überwand ich mich und stellte mich wieder Nielsen und der Situation.

Am Vogelsang schwenkte Haken seinen Wagen in die Nebenstraße und hielt direkt vor dem Hauseingang. Mir war inzwischen ganz schön mulmig zumute, und ich hatte mir auf der Fahrt den Kopf zermartert, wo die Schlüssel geblieben waren und was um Himmels willen das bedeuten könnte. Ganz schlecht wurde mir bei dem Gedanken, dass alles mit dem Überfall in Stade zu tun hatte. Heute Morgen um neun war ich noch Herr des Verfahrens gewesen, jetzt fühlte ich mich ziemlich hilflos.

In meinem Wohnzimmer bot ich den dreien einen Platz an.

Als ich vor Monaten hier eingezogen war, hatte ich mich neu eingerichtet. Auf der linken Seite unter den beiden großen Fenstern mit schweren Vorhängen hatte ich eine schwarze, lederne Sitzgruppe mit zwei Sesseln und einer kleinen Couch aufgestellt, davor einen niedrigen, breiten Holztisch. Gegenüber hatte ich über die ganze Wandbreite eine schwarze Bücherwand aus kräftigen Regalböden mit nach hinten zur Wand hin offenen Fächern installiert. Im unteren Bereich waren halbhoch eine Stereoanlage und ein Fernseher integriert. Das ganze Regal war inzwischen mit Büchern gefüllt. Daneben in der Ecke ruhte ein großer, gemütlicher Holzsessel mit einer modernen Leselampe an seiner Seite.

Nur Kommissar Haken folgte relativ entspannt meiner Aufforderung und setzte sich in einen der Ledersessel. Die beiden anderen blieben abweisend und steif in der Nähe der Tür stehen. Es herrschte eine unbehagliche Stille.

„Der Safe ist sicher untergebracht in der Wand hinter dem Bücherregal, ganz unten, besonders geschützt durch die davor stehenden ,Neuen Juristischen Wochenschriften‘, für die sich keiner interessiert“, versuchte ich zu scherzen. Aber natürlich erfolgte darauf keine Reaktion.

Ich nahm das Buch „Die Trüffel-Connection“ aus der obersten Reihe und holte den Schlüssel heraus, den ich zwischen den Seiten darin verborgen hatte, kniete mich vor das Regal und zog aus dem untersten Bord vier gebundene Ausgaben der „NJW“ heraus, wodurch die Klappe zum kleinen Safe sichtbar wurde.

„Lassen Sie mich das machen“, meldete sich plötzlich Nielsen von hinten.

„Jetzt aber mal halblang!“, gab ich zurück und schob den Schlüssel in das Schloss. Wie gewöhnlich klemmte es etwas, und ich musste hin und her rütteln, bis das Türchen aufsprang.

Ich schob meine Hand in das Fach und zuckte zusammen.

Ich bewahrte darin die Pistole eingewickelt in einem Ledertuch auf, daneben eine kleine Schachtel mit Patronen. Es passte kaum mehr hinein.

Ich legte mich flach hin und prüfte noch einmal mit der Hand. Einen Augenblick blieb ich noch starr am Boden liegen. Ein jäher Schmerz fuhr mir plötzlich in den Kopf. Ich stützte mich am Regal ab, richtete mich auf und ließ mich dann in den großen Holzsessel daneben sinken, unfähig etwas zu sagen.

Nielsen warf sich auf die Holzdielen, sah in das Fach und sprang wieder auf.

„Na, jetzt wissen wir Bescheid“, wandte er sich an den Präsidenten. „Die Pistole von Dr. Knall ist nicht an ihrem Platz. Das sieht nicht besonders gut aus für den Herrn.“ Einen Augenblick zögerte er. „Ich bin gezwungen, sofort den zuständigen Staatsanwalt in Stade zu informieren. Tut mir leid“, sprach er von oben herab zu mir.

Er zog sein Handy hervor und verließ den Raum.

Kupfer und Haken sahen sich etwas ratlos an. „Könnte es sein, dass Sie die Pistole an einem anderen Ort haben?“, fragte der Kommissar mich schließlich. „Denken Sie mal scharf nach. Sie kommen in Teufels Küche, wenn die Waffe nicht bei Ihnen gefunden wird.“

Immer noch brachte ich kein Wort heraus. Unvermittelt durchzuckte mich ein vager Gedanke.

Ich sprang auf. „Natürlich!“ Ich packte Haken an beiden Oberarmen. „Das ist es! Na klar, es war also doch jemand in der Wohnung! Es war kein Traum!“

Haken schob meine Hände weg und lehnte sich zurück. Die beiden sahen sich verblüfft an. Kupfer schüttelte schließlich seinen Kopf und blickte mich dann etwas mitleidig an.

„Doch.“ Ich trat einen Schritt auf ihn zu. „Wirklich. Letzten Mittwoch, in der Nacht zu Donnerstag, war jemand bei mir in der Wohnung. Ich habe ihn gesehen.“

„Jetzt reicht es mir aber, Herr Dr. Knall. Nehmen Sie sich zusammen und erzählen Sie uns hier keine Geschichten!“, herrschte der Präsident mich an und zu Nielsen gewandt, der in diesem Augenblick wieder den Raum betrat: „Herr Knall erzählt uns gerade, bei ihm sei letzte Mittwochnacht eingebrochen worden, und er habe sogar den Einbrecher gesehen.“

Nielsen sah mich fassungslos an. „Das wird ja immer kurioser. Sie sind schon ein merkwürdiger Mensch.“ Er blickte kurz zu Kupfer und dann wieder zu mir. „Und auf welchem Revier haben Sie denn Anzeige erstattet?“ Und als ich schwieg. „Na, Sie waren doch natürlich bei der Polizei. Oder? Und warum haben Sie uns eigentlich nicht gleich vom Einbruch erzählt?“

Ich sank wieder zurück in den Sessel. Ich war ziemlich fertig und im rechten Ohr hörte ich jetzt einen hohen Pfeifton. „Ich dachte, ich hätte geträumt“, murmelte ich. „Ich habe keine Anzeige erstattet.“

„Mensch Knall, ich fasse es nicht“, fuhr Haken mich an. „Jetzt nehmen Sie sich mal zusammen und erzählen Sie keinen Unsinn. Die ganze Sache ist schon schlimm genug.“ Er stand auf, fasste mich an den Schultern und schüttelte mich.

Nielsen beugte sich zu mir herunter und sprach mit lauter Stimme nur wenige Zentimeter vor meinem Gesicht: „Haben Sie irgendjemand von diesem Einbruch erzählt?“ Und als ich zögerte: „Na los, reden Sie schon!“

„Ich habe im Gericht den Vorsitzenden des Schwurgerichtes, Herrn Anglerter, darauf angesprochen“, erwiderte ich zögerlich.

„Na bestens, dann können wir ihn befragen. Er wird bestätigen, dass irgendetwas vor sich gegangen ist. Was auch immer ...“, und als ich weiter stumm blieb: „Oder?“

„Ich habe nur angefangen, ihm etwas zu sagen“, ich brach wieder ab. „Er ist gleich weitergerannt und hat gerufen, du hast wohl geträumt. Ich kam nicht dazu, die Geschichte zu erzählen.“

Ich riss mich zusammen. „Aber meine Freundin Felicitas kann alles bezeugen. Auch dass ich es tatsächlich für einen Traum gehalten habe.“

 

„Und wo finden wir die Dame?“, fragte Nielsen mit spöttischer Stimme und einem vernichtenden Blick.

„Sie ist in Spanien bei ihren Großeltern. Ich denke, man kann sie telefonisch erreichen“, gab ich zurück. „Rufen Sie an, wenn Sie mir nicht glauben!“

„Jetzt nehmen Sie sich mal alle zusammen“, mahnte Präsident Kupfer. „Setzen Sie sich“, forderte er Nielsen und Haken auf und ließ sich in der Sitzgruppe nieder. Die beiden setzten sich ebenfalls. „Also Herr Dr. Knall, erzählen Sie bitte die ganze Geschichte.“

Ich fing damit an, dass ich durch ein leises, knirschendes Geräusch aufgewacht war und die Bewegung an der geöffneten Tür wahrgenommen hatte. Ich konzentrierte mich sehr und versuchte, möglichst dramatisch, genau und anschaulich zu schildern, wie der schwarze Arm mit dem Lederhandschuh sich langsam in das Zimmer hineinstreckte und mir der Atem stockte. Als ich beschrieb, wie die Tür lautlos zugezogen wurde, schien mir, dass die drei anfingen, aufmerksam und gespannt zuzuhören. Bei meiner Rückkehraktion in das Zimmer, um die Pantoffeln zu holen, unterbrach Kupfer und drehte sich zu Haken und Nielsen.

„Wahrscheinlich haben Sie bis jetzt auch gezweifelt. Aber nun, diese Variante der Geschichte ist ein ausgesprochenes Wahrheitssignal.“ Er stoppte einen Augenblick.

Unwillkürlich stand er auf, um mit seinen Erläuterungen fortzufahren, trat einen Schritt zurück und sprach uns an, als habe er ein Auditorium vor sich.

Präsident Kupfer ist ein ausgesprochen angenehmer Zeitgenosse, aber nicht umsonst ist er Präsident geworden. Er hat die Angewohnheit, bei bestimmten Themen anzufangen zu dozieren.

Natürlich hält er auch viele Vorträge. Und eines seiner Lieblingsthemen ist der Wahrheitsgehalt von Zeugenaussagen: Wahrheitssignale, Lügensignale und so weiter.

„Es geht hier um Glaubhaftigkeit und nicht um das Persönlichkeitsmerkmal Glaubwürdigkeit“, fuhr er fort. Wir starrten ihn etwas verblüfft an, aber niemand wagte es, ihn zu unterbrechen.

„Die Lügensignale ergeben sich als Umkehrschluss der Realitätskriterien. Hier haben wir ein ausgesprochenes Wahrheitssignal, ein farbiges und einfallsreiches Detail, das nicht das zentrale Beweisthema stützt“, sprach er jetzt direkt Nielsen an. „Auch die ganze Schilderung ist konkret, anschaulich und ganz ungewöhnlich. Sie wird geprägt durch Originalität.“

Er setzte sich wieder. „Wir können Herrn Dr. Knall glauben.“

Nach einer kurzen Pause und weil jetzt alle schwiegen, erzählte ich weiter, wie wir in unseren Pantoffeln um das Haus gegangen, dann aber festgestellt hatten, dass die Eingangstür zu und auch die Rollläden in Ordnung waren. Ich erwähnte auch die Fußspuren.

„Mir gefällt das alles nicht so richtig“, sagte Nielsen schließlich zum Präsidenten. „Knall glaubt zu träumen. Eine Anzeige wird nicht erstattet. Ein Einbrecher, der alles wieder verschließt. Die einzige Zeugin ist eine gute Freundin von Herrn Knall. Ist außerdem noch sehr in seiner Schuld, weil er ihr geholfen hat.“

Als ich ihn daraufhin erstaunt ansah, fuhr er fort. „Ich habe Ihre Geschichte gehört. Ich weiß, wie die Zeugin zu Ihnen steht.“ Er wedelte mit den Händen. „Also, ich habe mit dem zuständigen Staatsanwalt telefoniert. Er hat darüber nachgedacht, ob er einen Haftbefehl beantragen muss.“

Als ich zusammenzuckte. „Ja, Herr Knall, was denken Sie denn eigentlich? Das ist doch alles sehr verdächtig. Sie waren in Stade. Ihre Pistole wurde wahrscheinlich verwendet. Und jetzt kommen Sie mit dieser kuriosen Geschichte.“

Im Aufstehen setzte er hinzu. „Bleiben Sie im Land. Jetzt keine Fahrt nach Spanien! Ihre Einbrecherversion werde ich auch noch weitergeben.“

Vollkommen deprimiert blieb ich in meinem geliebten Holzsessel sitzen.

Dass ich das Buch von Rolf Bender über die Glaubwürdigkeitslehre, die Beurteilung von Zeugenaussagen auch gelesen hatte und natürlich wusste, wie man offene und versteckte Wahrheitssignale setzt, behielt ich lieber für mich.

Kupfer hatte mir zum Abschied noch gesagt, dass er mich am nächsten Morgen um zehn in seinem Büro erwarte. Es müsse einiges besprochen werden.

Mit den Worten: „Ich veranlasse, dass Ihre Sitzung am Donnerstag abgesagt wird“, verließ er das Haus.

Nielsen war grußlos gegangen, aber Haken hatte mir fest die Hand gedrückt und mir zugeraunt: „Falls es etwas Neues gibt, ich halte Sie auf dem Laufenden. Kopf hoch!“ Draußen hörte ich die Autotüren schlagen und dann das Starten des Motors.

Ich versuchte, mich zu entspannen. Der hohe Pfeifton in meinem rechten Ohr hatte etwas nachgelassen.

Mit der Hand strich ich unwillkürlich, fast zärtlich über das dicke, glatte, unbehandelte Holz der Armlehne.

Ich hatte den Sessel vor Jahren aus massivem Tannenholz zusammengebaut, ohne Maschinen, nur mit der Hand, frei von

irgendeiner Metallverschraubung und ihn anschließend mit einem rustikalen Polster versehen. Ein Sessel für mich, für meine 1-Meter-96.

Eine Depressionsphase war damals die Veranlassung dazu gewesen. Deren Ursachen hatte ich längst vergessen, aber das Produkt existierte und, so wie es gebaut war, auch noch Jahrzehnte.

Damals hatte ich mir überlegt, dass ein Mann neben den Dingen, die man gewöhnlich etwa aufzählt, dass er sie im Leben machen müsse: Kind zeugen, Baum pflanzen und so weiter, auch einen Sessel aus Holz für sich selbst bauen sollte.

Ich kann mich jedenfalls daran erinnern, dass mir die Arbeit mit dem Holz unheimlich wohl tat. Die Konstruktion insgesamt und die Überlegungen zur Gestaltung des Winkels zwischen Rückenlehne und Kopflehne, deren Ausführung. Die Depression löste sich immer mehr auf. Und als der Sessel schließlich fertig, massiv und doch elegant mit seinen abgeschliffenen Kanten vor mir stand, war sie ganz verschwunden.

Mir war natürlich klar, dass diese Arbeit mich vielleicht nur deswegen so beeindruckte, weil sie etwas ganz anderes war als das kopfgesteuerte Schreiben von Urteilen, und dass ich auch alles Mögliche andere hätte herstellen können. Aber der Sessel begleitete mich seitdem als äußerst erfreulicher Teil meines täglichen Lebens und prächtiges Erfolgserlebnis, immer wieder verbunden mit wunderbaren Entspannungsphasen, und er vermochte, so auch jetzt, mich zur Ruhe zu bringen.

Einige Zeit hatte ich ihn in mein Büro ins Gericht gestellt und darin mittags ab und zu eine kurze Siesta verbracht, mit dem Arm auf der Lehne und meinen Schlüsseln in der Hand, die, wenn ich einnickte, zu Boden fielen und mich aufweckten. Kranich mit dem Stein sozusagen. Dieses alte Symbol der Wachsamkeit in vielen Kulturen.

Ich lehnte den Kopf zurück in das Polster, schloss die Augen und versuchte, mich zu konzentrieren. Ich war doch schon mit den schwierigsten und überraschendsten Situationen in Strafverhandlungen fertig geworden. Es müsste doch möglich sein, einen Sinn, eine Erklärung in das Ganze zu bringen. Ich ließ noch einmal den Ablauf der Ereignisse, alles, was ich gehört hatte, vor meinem inneren Auge vorbeiziehen.

Ganz und gar unerklärlich, äußerst erschreckend waren die Geschehnisse in Stade. Und außerdem geradezu bestürzend, weil ich doch gerade dort war, als es passierte. Und zwar auf Grund eines spontanen Entschlusses. An den Einsatz der Pistole wagte ich dabei gar nicht zu denken. Hier stieß ich bei meinen Überlegungen an eine Wand. Diesen Teil der Ereignisse versuchte ich wegzuschieben. Daran durfte ich jetzt nicht denken.

Eher müsste es doch möglich sein, das Rätsel zu lösen, wie jemand es geschafft hatte, meine Schlüssel zu entwenden. Hätte ich den Täter, könnte ich damit das Problem lösen und vielleicht meinen Kopf aus der Schlinge ziehen.

Bildhaft gesprochen könnten die Schlüssel in meinem Schreibtisch auch gleichzeitig der Schlüssel zur Lösung des Falles sein.

Mein Büro wurde natürlich bei meiner Abwesenheit, auch während der Strafsitzungen, immer von mir abgeschlossen. Mit dem allgemeinen Schlüssel, über den die Kollegen, die Geschäftsstellen, praktisch jeder im Landgericht verfügte. Während meiner Arbeitszeit war die Bürotür normalerweise offen, auch wenn ich im Haus herumlief, um etwas zu erledigen.

Mein Inneres sträubte sich dagegen, dass irgendjemand aus dem Gericht mit der Sache zu tun haben könnte. Na klar, auch ein Besucher hätte theoretisch die Möglichkeit, bei meiner Abwesenheit kurzfristig im Büro zu verschwinden, ein Rechtsanwalt, ein Beteiligter an einer Verhandlung. Der Personenkreis war nahezu unüberschaubar. Und außerdem kam ich doch damit der Lösung des Rätsels kein bisschen näher, denn derjenige müsste noch dazu an das Pappkästchen mit den Schlüsseln herankommen. Und das hatte ich selbst ja erst gefunden, nachdem ich in allen Schubladen nachgesehen hatte. Außerdem müsste die Person wissen, dass dort Schlüssel für Haus und Safe aufbewahrt werden.

Ich merkte, wie langsam eine kalte Wut in mir hochstieg. Meine Hände krampften sich um die Armlehnen. Irgendjemand führte mich hier gewaltig an der Nase herum, hatte es massiv auf mich abgesehen. Ja, man wollte mir sogar einen Mord, beziehungsweise Mordversuch in die Schuhe schieben. Und zwar eine Person aus meinem Umfeld. Jemand, den ich wahrscheinlich kannte, dem ich möglicherweise oft in die Augen gesehen hatte. Dieser Jemand musste mich grenzenlos hassen.

Der Gedanke erschütterte mich. Das passte eigentlich nicht in meine heile Welt. Wobei, so ganz heil war sie nicht. Denn meine Strafverhandlungen führten mich doch immer wieder in menschliche Abgründe. Unglaubliche, auch äußerst brutale Konflikte, in die ich eintauchen musste. Jetzt hatte es mich selbst und ganz ungeheuerlich getroffen.

Ich merkte, wie meine innere Widerstandskraft wuchs. Nein, ich würde mich der Situation nicht kampflos beugen. Nielsens Reaktion gab mir zu denken. Sicher, die Polizei würde ihre Arbeit machen, aber ich würde dem nicht tatenlos zusehen. Es handelte sich um mein Schicksal. Ich würde kämpfen.

4

Um Viertel nach acht riss ich die Tür zum Bräu auf. Ein warmer Bierdunst strömte mir entgegen. Das Lokal war fast bis auf den letzten Platz besetzt und der Lärm ziemlich unerträglich.

Ich entdeckte Jan, der etwas trübe vor sich hinblickte, in einer der hinteren Ecken des Lokals an einem Tisch, an dem noch vier Personen saßen, die sich gerade lautstark zuprosteten. Er hatte für mich einen Stuhl frei gehalten. Als er mich sah, hellte sich seine Miene etwas auf. Vor ihm stand noch kein Getränk.

„Hast du schon was bestellt?“, brüllte ich in sein Ohr, um mich überhaupt verständlich zu machen. „Hier kann man es ja nicht aushalten.“

Er schüttelte den Kopf und stand wortlos auf. Wieder draußen, atmeten wir beide erleichtert die kalte Winterluft ein. „Es tut mir leid. Ich habe nicht daran gedacht, dass es um diese Zeit hier so knallvoll ist. Wie wäre es mit ,Zum Lauerturm‘? Da finden wir eher einen ungestörten Platz“, ich blickte ihn fragend an.

Ohne zu antworten klopfte er mir auf die Schulter, und wir begannen, die Rheinstraße hinaufzumarschieren.

„Ich bin doch tatsächlich in meinem Holzsessel trotz Stress eingeschlafen. Deswegen bin ich zu spät.“

Jan lächelte im Weitergehen zu mir herüber. „Hast du vergessen, deine Schlüssel in die Hand zu nehmen?“

Ich hatte ihm vor längerer Zeit von meiner „Kranich-mit-dem-Stein-Methode“ erzählt. Es imponierte ihm damals sehr. Er erzählte mir später, er hätte es selbst einmal ausprobiert, aber die Schlüssel seien ihm aus der Hand gefallen und er habe einfach weitergeschlafen.

Jan ist ein durchtrainierter, sehr sympathischer Typ, groß gewachsen, mit strahlend blauen Augen. Ein guter Freund.

Als er damals durch die Examen gefallen und mit den Nerven ziemlich fertig war, hatte ich ihm den Bau eines Sessels empfohlen. Er lehnte dankend ab und betätigte sich lieber intensiv sportlich. Laufen und Kampfsport. Nach einiger Zeit war er wieder der entspannte und positive Kumpel wie zuvor.

Von seiner Methode überzeugt, hat er mir in schwierigen Zeiten immer wieder Bewegung als Ausgleich empfohlen. Und er hatte damit absolut recht. Es war für mich verblüffend, wie das angespannte Nervenkostüm, etwa als Folge einer üblen Strafsitzung oder in einer komplizierten Vorbereitungsphase für eine schwierige Verhandlung, nach einem Dauerlauf von ein bis zwei Stunden wieder zur Ruhe kam.

In der kleinen, originellen Kneipe unten im alten Turm an der Stadtmauer fanden wir eine ruhige Ecke an einem runden, dunklen Holztisch im verwinkelten Nebenraum.

Als jeder von uns einen Riesling vor sich hatte, sah mich Jan fragend an. „Das klang ziemlich dramatisch am Telefon. Spuck es aus!“

 

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie dramatisch. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich würde jetzt in einer Zelle in Bruchsal sitzen.“

Jan verschluckte sich an seinem Wein. „Was sagst du?“

„Du hast richtig gehört.“

Ich begann zu erzählen. Von meinem nächtlichen, fürchterlichen Erschrecken, als sich ein schwarzer Arm unheimlich durch die Schlafzimmertür schob. Vom Abgrund unter dem Fenster und den Fußspuren eines Mannes im Schnee zur Eingangstür. Nielsen von der Mordkommission Stade und der Überfall auf die Sparkasse waren die Steigerung der Geschichte.

„Und jetzt kommt erst der Höhepunkt der Geschichte.“ Ich musste mich beherrschen, um ruhig zu sprechen. „Du weißt doch, dass ich mir eine Pistole gekauft habe.“

„Ja und ich habe dir dringend abgeraten“, warf Jan ein. „Eine tägliche, intensive Laufstrecke hätte dich auch wieder auf festen Boden gebracht.“

„Die Walther PPK verwahre ich sicher in meinem Safe in der Wohnung.“ Ich machte eine Pause. „Dachte ich. Denn stell dir vor, die Pistole ist weg, und Nielsen sagte mir, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit beim Überfall auf die Sparkasse verwendet wurde.“

Jan starrte mich ungläubig an. Es hatte ihm offensichtlich die Sprache verschlagen. Und ich saß auch vollkommen erledigt da. Das ganze Desaster war mir durch meine Erzählung erneut so richtig bewusst geworden.

Auf einmal hörte ich wieder das gleichmäßige Stimmengemurmel von den anderen Tischen, das ich vorher offenbar komplett ausgeblendet hatte.

Rosi, die nette Bedienung, sah uns im Vorbeigehen mitleidig an und füllte unaufgefordert die Gläser.

Jan räusperte sich und nahm einen großen Schluck von seinem Wein. „Ich hätte mir alles Mögliche vorstellen können, was dir passiert ist. Warum wir uns treffen sollten. Aber an so eine schlimme Geschichte hätte ich natürlich nicht im Traum gedacht. Kein Wunder, dass du vollkommen erledigt bist und auch so aussiehst.“

„Ja, so fühle ich mich auch. Ich bin total am Ende mit meinen Nerven. Wirklich. Und ich habe keine Ahnung, was ich unternehmen, wie ich mich verhalten soll“, versuchte ich, mit so normaler Stimme wie möglich zu sagen. „Ich hoffe sehr auf deine Hilfe. Du bist der Experte.“

Er sah mir in die Augen und versuchte zu lächeln. „Okay. Da ich davon ausgehen kann, dass du nicht in der Sparkasse mit einer Pistole herumgesprungen bist, müssen wir uns darauf konzentrieren, wie wir dich aus der Schusslinie bekommen. Und parallel dazu mit dem gleichen Ziel, wer kommt als Täter in Frage?“

Jan lehnte sich zurück. „Lass mich einen Augenblick nachdenken.“ Er schloss die Augen.

Meine Gedanken kreisten weiter unaufhörlich um das Geschehen. Ich musste wirklich versuchen, davon wegzukommen. Einen vernünftigen Gedanken würde ich sonst nicht zustande bringen.

Dabei hatte ich schon gemerkt, dass die Anwesenheit meines Freundes Jan und seine intensive Konzentration auf mich und meine Geschichte mir guttaten. Ich versuchte, meinen verkrampften Körper zu entspannen.

Allmählich fühlte ich mich etwas besser. Schon immer wusste ich, dass Jan einer der wenigen Menschen in meinem Bekanntenkreis war, der wirklich zuhören konnte.

„Hat Nielsen dir erzählt, wie lange es dauern wird, bis das endgültige Ergebnis der Überprüfung der Pistole vorliegt?“

„Er sagte nur, die Sachverständigen sind schwer überlastet, und es kann dauern“, gab ich zurück. Worauf er wieder in seine Trance zurückfiel.

Nach einigen Augenblicken straffte er sich.

„Also, jetzt eins nach dem anderen. Da das Ergebnis mit der Pistole noch nicht feststeht, haben wir noch etwas Zeit, selbst Licht in die Dunkelheit zu bringen.“ Er lächelte mir zu.

„Ich kann dir natürlich nur Vorschläge machen. Entscheiden musst du selbst. Auch sollte dir klar sein, dass du die Folgen tragen musst, wenn sich daraus weitere Unannehmlichkeiten ergeben sollten. Willst du hören, was ich zu deinem Problem zu sagen habe?“

„Jan, ich bin dir wirklich dankbar, dass du dir Gedanken machst. Ich bin zwar ein Jurist, aber in eigener Sache ... Du bist doch der Experte für die Kriminalniederungen. Ich höre.“

Es war erstaunlich, wie allein schon die Ankündigung von Jan mich aufmunterte.

„Also“, begann er. „Wir haben schon festgestellt, es verbleibt dir etwas Zeit, bevor sich die Situation durch negative Fakten hinsichtlich deiner Pistole und der weiteren Ermittlungen zuspitzt. Und wenn wir diese Spanne noch verlängern können, hast du auch mehr Gelegenheit, deine Unschuld selbst zu beweisen.“

Er nahm einen Schluck aus seinem Glas.

„Unabhängig vom Ergebnis solltest du bei deinen Überlegungen von der schlechtesten aller Möglichkeiten ausgehen und versuchen, dagegen zu steuern. Sollten sich bessere Fakten ergeben, umso besser.“

Er konzentrierte sich. „Wir gehen also davon aus, deine Pistole wurde benutzt. Du warst zu dem Zeitpunkt in Stade und zwar ohne Alibi. Zeugen in der Bank identifizieren dich bei einer Gegenüberstellung als möglichen Täter, und du bist dringend auf Geld angewiesen.“

Meine ganze Zuversicht war mit seinen Worten verflogen. Ich fühlte mich hilflos. Und mit seinen letzten Überlegungen fuhr mir ein weiterer Schreck in die Knochen. Meine Finanzen!

„Mensch Jan, du weißt gar nicht, wie du wieder mal ins Schwarze triffst. Meine Gelder ...“

Er sah mich verblüfft an. „Wirklich? Das habe ich eher theoretisch überlegt. Richter verdienen doch prächtig!“

„Prächtig hin, prächtig her. Ich bin jedenfalls vollkommen pleite.“

Ich erzählte ihm vom lustigen Abend bei Wolfhart, meiner Sehnsucht nach einer Segeljacht, vom Finanzexperten John aus England und dem Geheimnis der fallenden Kurse. Jan machte große Augen, als ich ihm von meinen daran anschließenden Transaktionen berichtete.

„Meine Rücklagen sind weg, und ich stecke tief im Minus. Passt herrlich zu einem Kurzschluss-Bankräuber“, schloss ich sarkastisch.

„Für so dumm hätte ich dich wirklich nicht gehalten.“ Jan schüttelte den Kopf. „Also gut. Dann müssen wir diesen Sachverhalt tatsächlich einbeziehen. Verbessert deine Lage nicht unbedingt.

Fangen wir bei der Pistole, den Patronen und dem Safe an. Hast du Nielsen schon erzählt, dass du die Patronen auch im Safe aufbewahrst hast, und dass sie ebenfalls weg sind?“

Ich schüttelte den Kopf. Mir war ziemlich übel.

„Dass die Patronen dort waren und verschwunden sind, behältst du für dich. Sieht nach dem Waffengesetz besser aus.“

Jan erklärte mir präzise, wie ich mich nach seiner Ansicht verhalten sollte.

Beim Gespräch mit dem Präsidenten am nächsten Morgen sollte ich erklären, dass ich die ganze Nacht über den Verbleib der Pistole gegrübelt hätte und mir eingefallen sei, dass sie möglicherweise gar nicht bis vor Kurzem im Safe lag. Bei der ersten Befragung sei ich vollkommen durcheinander gewesen. Vor Wochen hätte ich die Waffe einmal im Wald ausprobiert. Sie lag dann wohl eine Weile unter dem Fahrersitz, wo ich sie versteckte, als ich danach zum Einkaufen ging. Jetzt sei sie aber nicht mehr dort. Ich könne mir das alles auch nicht erklären.

Ebenso mit den Schlüsseln im Schreibtisch. Sehr lange Zeit hätte ich gar nicht mehr an sie gedacht. Es könne schon sein, dass ich sie irgendwann doch benutzt und nicht mehr zurückgelegt hätte.

In Stade, sollte ich sagen, hätte ich an dem Morgen mit verschiedenen Personen Kontakt gehabt. Es müsste möglich sein, sie ausfindig zu machen.

An mein Konto sollte ich Nielsen ohne richterlichen Beschluss nicht heran lassen. Ich könne das gut damit begründen, dass das niemand etwas angehe.

„Es ist gut, wenn wir es schaffen, ein paar Nebelbomben zu werfen. Je unübersichtlicher alles für Nielsen ist, umso besser für dich. Wenn dir nachgewiesen werden kann, dass du kurz vor dem Überfall die Pistole samt Patronen noch hattest, spitzt sich die Lage für dich zu.“

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