Einführung in die Philosophie

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Dem letzten Satz von Wittgenstein möchte ich zustimmen; er hätte hier nur unterscheiden müssen. „Problem“ ist die lösbare Aufgabe, eine Streitfrage, die wir entscheiden, ein Rätsel, das wir entschlüsseln können, nämlich dann, wenn wir uns der Mittel und Methoden der Wissenschaften bedienen. Was für Wittgenstein die „tiefsten Probleme“ sind, sind die mit wissenschaftlichen Mitteln und Methoden unlösbaren Aufgaben der Philosophie, die im Wesentlichen ein Vierfaches betreffen: die Frage nach der Wahrheit (1), die Frage nach dem Guten (2), die Frage der Freiheit (3) und zuletzt die Sinnfrage (4). Was hat es eigentlich mit dem Sein in seinen verschiedenen Bedeutungssinnen auf sich? Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts (Heidegger)? Kant hat die Grundfragen in die Formulierung gefasst: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? Nach Kant verweisen diese Fragen auf die Frage nach uns selbst: Was ist der Mensch? Ich denke, dass Heideggers Formulierung radikaler ist: Sie reicht an die Wurzel aller Fragen: Was [<<19] heißt uns Menschen danach fragen, was ist? Letztlich grundlegend ist die Seinsfrage: Was ist der Sinn von Sein? Es sind die Probleme, die Wittgenstein, obwohl er sie für die tiefsten hält, durch Sprachkritik zum Verschwinden bringt. „Wir fühlen“, heißt es am Schluss des ‚Tractatus‘, „daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben dies ist die Antwort.“6 Ist damit wirklich alles geklärt? Ich denke nicht. Der Wittgenstein des ‚Tractatus‘, der gegen die Philosophie geschrieben worden ist, kann für dieses Werk immerhin nicht auf einen der philosophischen Grundbegriffe, den Begriff der Wahrheit, verzichten. Er hält die Wahrheit seiner Sätze für unantastbar und definitiv, um sie wenig später gleichwohl selbst anzutasten und zu revidieren – das klassische Zeugnis dafür, dass die Grundfragen der Philosophie unhintergehbar sind, und zwar auch dann noch, wenn man, wie Wittgenstein, gegen die Philosophie philosophiert. Dem Philosophieren gegen die Philosophie kommt jedoch ein höchst wichtiges Verdienst zu. Er hat die radikal-philosophischen Grundfragen noch einmal radikalisiert, indem er die Philosophie selbst dem Fragen ausgesetzt hat. Was für eine Tätigkeit ist das Philosophieren? Mit welcher Art von Problemen hat es der Philosoph zu tun? Und wie geht er bei seinem Geschäft vor? Der erste Philosoph, der diese Fragen gestellt hat, war Sokrates. Wittgenstein hat sie nur sprachkritisch radikalisiert, sodass sich inzwischen sogar Berufsphilosophen mehr Gedanken über ihren Beruf machen als zuvor. Es ist die Gegenbewegung zur Philosophie, die sie in unserem Jahrhundert selbst fraglich gemacht hat. Diese Bewegung geht in unserem Jahrhundert von zwei Seiten aus: vonseiten der Wissenschaft, genauer: der Naturwissenschaft und Sozialwissenschaft und vonseiten der Weltanschauung, genauer: der Ideologie. Damit komme ich zum ersten Teil der Vorlesung. Ist Philosophie Wissenschaft oder Weltanschauung? Oder ist sie beides in einem, eine „wissenschaftliche Weltanschauung“, wie der dialektisch-historische Materialismus den Begriff „Philosophie“ definiert? [<<20]

1 M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 65.

2 Vgl. Augustinus, Confessiones, 11. Buch, 12–14.

3 H.-G. Gadamer, Kleine Schriften IV, Variationen, 1977, S. 3.

4 Vgl. zum Verhältnis von Frage und Antwort in der Hermeneutik: H.-G. Gadamer, Hermeneutik II. Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke Band 2, Tübingen 1986, S. 395 ff. Siehe auch Band I, S. 375 ff. Grundlegend für diese Dialogizität von Frage und Antwort ist R. G. Collingwood, Denken. Eine Autobiographie. Eingeleitet von H.-G. Gadamer. Übersetzt von H.-J. Finkeldei, Stuttgart 1955; und ders., Philosophie der Geschichte. Aus dem Englischen von G. Herding, Kohlhammer, Stuttgart 1955.

5 L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Band 1. Frankfurt/Main 1984, S. 26, Nummer 4.003.

6 Ebd., S. 85, Nummer 6.52.

1 Was ist Philosophie?
1.1 Philosophie und Weltanschauung
1.1.1 Die kritische Aufgabe der Philosophie

Ich gehe aus von der Definition des Weltanschauungsbegriffs bei G. Klaus/M. Buhr, Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, den ich mit Kants Definition des Begriffs der Philosophie konfrontiere. Die Hauptfrage der Weltanschauung ist im Sinn der marxistischen Autoren identisch mit der Grundfrage der Philosophie, von deren jeweiliger Lösung die Grundauffassungen in allen anderen Fragekomplexen der Weltanschauung beeinflusst werden: Es gibt demnach grundsätzlich zwei Weltanschauungen, eine idealistische und eine materialistische, so wie es grundsätzlich zwei Philosophien gibt, die miteinander im Kampf sind.

Kants Definition der Philosophie findet sich in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (B 866–867).7 Eine ähnliche Version findet sich in der Einleitung zur Logik, dem letzten Werk, das Kant publiziert, wenn auch nicht mehr selbst herausgegeben hat (1800 ed. G. B. Jäsche). Da es die Begriffsbestimmung der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ in einem wichtigen Punkt präzisiert, sei es hier zur Ergänzung danebengestellt (S. 26–27).8

Der Leitbegriff, in dem Kants Definition der Philosophie und die marxistische Definition von Weltanschauung konvergieren, ist der Begriff des „Systems“. Er leitet sich her vom griechischen συνίστημι, zusammensetzen, [<<21] ordnen, aneinanderfügen. Was der Systembegriff analytisch und hermeneutisch impliziert, wird erst an späterer Stelle zu verhandeln sein. Zum Zwecke der angestrebten Vergleichung halten wir zunächst fest, dass er bei Kant nur in der Definition des Schulbegriffs der Philosophie auftritt. Philosophie, so hatte Kant gesagt, ist das System aller philosophischen Erkenntnis (KrV. B 866), der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen. Als System ist sie Wissenschaft im Sinne eines logisch und methodisch geordneten Zusammenhangs von Wissen, das sich nach Kant der Geschicklichkeit im Ableiten und Begründen der einzelnen Wissensdisziplinen, ihrer Zusammensetzung, Ordnung und Aneinanderfügung zu einem Ganzen verdankt, der Wissenschaft als System. Kant nimmt hier auf, was seit der frühen Neuzeit unsere Wissensmöglichkeit bestimmt: ihre Eingrenzung durch die Methode, einen Inbegriff spezifisch technischer Geschicklichkeiten der Wissensfindung, die sich verselbstständigen, allgemein verfügbar und damit auch manipulierbar sind – alles Merkmale der neuzeitlichen Wissenschaft, die im marxistischen Weltanschauungsbegriff wiederkehren.

Die Weltanschauung ist nicht ein Mittel, sondern der Zweck der Philosophie. Philosophie ist auf die Ausbildung einer systematischen Gesamtauffassung von Natur, Gesellschaft und Mensch gerichtet, sie ist im Kern Weltanschauungsphilosophie. Dass sie auf eine solche Gesamtauffassung, auf die letztlich grundlegenden Dinge, das Woher, das Wohin und das Wozu von Natur, Gesellschaft und Mensch abzielt, unterscheidet sie von den Wissenschaften, die immer nur ein bestimmtes Gebiet der Natur, der Gesellschaft und des menschlichen Lebens zum Gegenstand haben. Aber sie stützt sich gerade, wenn auch nicht ausschließlich, auf die Ergebnisse der einzelnen Wissenschaften. Neben der Entscheidung der von Engels so genannten philosophischen Grundfrage entweder zugunsten des Materialismus oder des Idealismus wird der Charakter einer Weltanschauung durch die Rolle, die der Wissenschaft in ihr zukommt, bestimmt. Die marxistisch-leninistische Weltanschauung soll „wissenschaftlich“ sein, und darunter versteht man, dass sie 1. die Resultate der einzelnen Wissenschaften in das System einbaut und 2. die Weltanschauung nach dem Grundzug der Wissenschaft, d. h. der Methode aufbaut, wobei die Anwendung der Methode der Verallgemeinerung von einzelwissenschaftlichen Resultaten eine vorrangige Stellung [<<22] innehat. Sie ist es, die „wissenschaftliche“ von nichtwissenschaftlicher, zum Beispiel religiöser, Weltanschauung unterscheiden soll.

Wenn Philosophie wissenschaftliche Weltanschauungsbildung ist, entfällt notwendig die Möglichkeit einer genaueren Abgrenzung zwischen Philosophie, Wissenschaft und Weltanschauung. Weder gibt es eine spezifische Differenz zu den Einzelwissenschaften – die Philosophie bekommt vielmehr die Aufgabe zugesprochen, die Einheit der Wissenschaften auf der Grundlage ihrer verschiedenen Methoden herzustellen, wobei das Ziel in der Herstellung einer Einheitsmethode liegt; noch gibt es eine spezifische Differenz zur Weltanschauung; deren Bildung auf der Grundlage einzelwissenschaftlicher Resultate, die „Weltanschauungssynthese“, wie man auch außerhalb des Marxismus, so bei W. Wundt, sagt,9 wird ja gerade zur Hauptaufgabe der Philosophie. Und da die Weltanschauungsbildung Regeln für das Verhalten in der gesellschaftlichen Praxis einschließt, kann die Philosophie nicht nur und auch gar nicht in erster Linie Erkenntnis aus Begriffen, theoretische Begriffswissenschaft sein; sie muss vielmehr praktisch die Gesamtauffassung von Natur und Gesellschaft und die Stellungnahme des Menschen zu ihnen und sich selbst lenken.

Die Philosophie, so lässt sich die marxistische These noch einmal kurz zusammenfassen, soll eine Weltanschauung vermitteln, und zwar auf wissenschaftlicher Grundlage. Das scheint auch die These von Kant zu sein, wenn er neben dem Schulbegriff der Philosophie einen Weltbegriff von ihr voraussetzt. Zur Philosophie nach dem Schulbegriff, so hatte Kant gesagt, gehören zwei Bestimmungsstücke: 1. ein bereits erarbeiteter Bestand von Vernunfterkenntnissen, womit Kant meint: die formalen Grundsätze des vernünftigen Denkens überhaupt, etwa den Satz der Identität oder vom Widerspruch, der denkend zu vermeiden ist (dass A = A ist, jedenfalls nicht zugleich B sein kann); und 2. ein systematischer Zusammenhang dieser Erkenntnis, d. h. die Erörterung und Bestimmungen derjenigen Begriffe und Grundsätze, die der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt zugrunde liegen. „Einen solchen [<<23] streng systematischen Zusammenhang“, heißt es in der Einleitung zur Logik, „verstattet nicht nur die Philosophie, sondern sie ist sogar die einzige Wissenschaft, die im eigentlichsten Verstande einen systematischen Zusammenhang hat und allen anderen Wissenschaften systematische Einheit gibt.“10 Die Philosophie nach dem Weltbegriff setzt diese Einheit voraus; sie handelt von dem, wozu aller systematischer Vernunftgebrauch, auch der der Philosophie selbst, ist, was er ist. Sie beantwortet die Frage: wozu Philosophie?, aber nicht so, dass sie das Philosophieren auf die Wissenschaften oder auf Weltanschauungsbildung hin orientiert. Die Philosophie nach dem Weltbegriff ist nach Kant selbst Wissenschaft; er nennt sie – und das ist eine ebenso merkwürdige wie entscheidende Bestimmung – „eine Wissenschaft von der höchsten Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft, sofern man unter Maxime das innere Prinzip der Wahl unter verschiedenen Zwecken versteht“11. Hat diese Bestimmung etwas zu tun mit der Weltanschauungsaufgabe der Philosophie, wie sie vom Marxismus vertreten wird? Ja und nein. Ja, sofern Kant überhaupt innerhalb des Philosophiebegriffs zwei Arten von Philosophie, die Schul- und die Weltphilosophie, unterscheidet und auf der Basis dieser Unterscheidung die letztlich grundlegenden Fragen, die End- und Grenzfragen, in den Mittelpunkt des Philosophierens rückt. Nein, sofern die Philosophie nach dem Weltbegriff nicht die Aufgabe der Weltanschauungsbildung hat. Sie ist ja weder an einzelwissenschaftlichen Resultaten noch an der Methode der Verallgemeinerung orientiert. Was Kant voraussetzt, ist gerade die radikale Besonderung des Philosophierens, nämlich seine Zuordnung auf eine zu wählende Maxime. „Maxime“ ist etwas, das sich jemand, eine Person A, vornimmt, der Grundsatz ihres Handelns, der als solcher stets „subjektiv“, d. h. personal gebunden ist. Ein Grundsatz heißt eine Maxime, wenn das Motiv, ihn zu befolgen, nur für die Person gilt, die sich dafür entschieden hat (die maxima regula, also den höchsten Grundsatz, die [<<24] Richtschnur). Die Maxime wird dann zum Gesetz, wenn das in ihr formulierte und ausgedrückte Motiv zum Willen einer jeden Person gehört und als solches anerkannt ist. Das für alle geltende Gesetz bleibt aber gleichwohl personal gebunden. Es ergibt sich ja gerade daraus, dass es aus der kritischen Prüfung von Maximen, der Frage, ob das, was ich als Handlungsgrundsatz annehme, auch für jedermann gelten und von jedem anerkannt werden könne. Einschlägig ist hier der ‚Kategorische Imperativ‘ als „Sittengesetz“ nach seiner Grundformel: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Wenn Kant die Philosophie nach dem Weltbegriff die Wissenschaft von der höchsten Maxime unseres Vernunftgebrauchs nennt und unter „Maxime“ das innere Prinzip der Wahl unter verschiedenen Zwecken versteht, entlässt sich das so bestimmte Philosophieren nicht in die Anonymität einer Wissenschaft und ihrer wie immer gewonnenen Resultate; es verfällt auch nicht der Manipulierbarkeit der Methode, die solche Resultate zum Zwecke der Weltanschauungsbildung verallgemeinert. Vielmehr wird es aus der Anonymität der im Marxismus und anderwärts üblichen Berufung auf „die“ Wissenschaft und der Manipulierung ihrer Ergebnisse durch eine Methode – eine Tendenz, die sich im 19. Jahrhundert an den akademisch verselbstständigten Schulbegriff von Philosophie anschließt – auf den Boden personaler Entscheidung, eines verantwortlichen Denkens und Handelns, zurückgeholt. Der Weltbegriff der Philosophie thematisiert das jeden Einzelnen notwendig Interessierende, und was uns alle interessiert, sind die letztlich grundlegenden Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Es sind, mit einem Wort, die philosophischen Grundfragen, die das Philosophieren auf den Weg bringen: Was ist der Mensch? Wer bin ich und wer bist du? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Wie können wir einen Weg, und das heißt: ein Ziel finden? Nicht dadurch, dass wir uns von anderen Ziele vorschreiben lassen, sei es von einer bestimmten Wissenschaft oder von einer bestimmten Weltanschauung, sondern durch radikales Fragen: indem wir das Interesse an den letztlich grundlegenden Dingen auf den begrifflichen Grund und Ursprung zurückführen und so philosophisch, durch Begriffsanalyse und Begriffsinterpretation, aufklären. [<<25]

 

Ich verdeutliche das an einem Beispiel, an Kants Bestimmung der Rede von „wesentlichen Zwecken“ als Definiens der Philosophie. Nach dem Weltbegriff, so argumentiert Kant in der ‚Kritik der reinen Vernunft‘ (B 867), ist Philosophie „die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)“12. Wesentliche Zwecke, erläutert Kant, die wir zu erreichen streben, können vielerlei Zwecke sein, sie sind dann noch nicht der höchste Zweck, weil dieser nur ein einziger sein kann: das Ziel, zu dem wir philosophierend auf dem Weg sind. Kant spricht daher von einem Endzweck, im Vergleich mit dem alle anderen Zwecke als „subaltern“ oder untergeordnet erscheinen: das Wissen-Können ebenso wie das Tun-Sollen, ja zuletzt auch dasjenige, was für uns eine Sache der Hoffnung bleibt, die Verheißungen der Religion oder eines anderen Glaubens, etwa des Geschichtsglaubens an eine vollkommene Gesellschaft. Der Endzweck kann nur etwas sein, das ausschließlich mit dem Menschen, der jeder von uns für sich selbst ist, zu tun hat. Der Endzweck, so beschließt Kant diese Erörterung, ist kein anderer als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral (B 868). Philosophie für die Welt, das ist im Kern nicht Weltanschauungsbildung, sondern Moralphilosophie, Ethik, – ein letztlich personalgebundenes Philosophieren, das aus unserer Welterfahrung und nicht aus Resultaten der Wissenschaft oder den Dogmen der Weltanschauung auftaucht.

Um dieses Vorzugs des Menschen willen, der durch Philosophie seine Bestimmung in der Welt aufklären und sich nicht umgekehrt durch Wissenschaft und Weltanschauung bestimmen lassen soll, ist der eigentliche Philosoph derjenige, auf den das Wort „Philosophie“ seit der Antike hindeutet: nicht jemand, der diese oder jene Wissenschaft erstrebt, sondern jemand, der das dem Menschen überhaupt mögliche Wissen, der die Weisheit im Sinne der Aufklärung über Ursprung, Umfang und Grenzen [<<26] menschlichen Wissens, anstrebt. Das Streben nach Weisheit, das in unserem Kulturkreis „Philosophie“ heißt, ist nichts anderes als Klarheitsstreben – dass wir Aufklärung über Wissenschaft und Weltanschauung erhalten und nicht umgekehrt! In der Aufklärung über Wissenschaft und Weltanschauung liegt heute die kritische Aufgabe der „Philosophie“. Diese Aufgabe impliziert Erkenntnis aus Begriffen durch Begriffsanalyse und Begriffsinterpretation, mit dem Ziel, sich über die letztlich grundlegenden Fragen Klarheit zu verschaffen.

Wenn wir nun noch einmal auf den von Kant formulierten Weltbegriff der Philosophie zurückblicken, dürfen wir festhalten: Im philosophischen Weltbegriff von Kant besitzt nicht die Weltanschauung, sondern die Moralphilosophie, verstanden als Klarheitsstreben über die Bestimmung des Menschen, das eigentliche Gewicht. Diese Gewichtsverteilung auf der Grundlage einer ursprünglichen methodischen und systematischen Einheit zwischen Schul- und Weltbegriff der Philosophie verschiebt sich im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Entstehung des Marxismus. Das Gewicht verlagert sich auf die Wissenschaft auf der einen, die darauf gebaute Weltanschauung auf der anderen Seite, und was dazwischen bleibt, ist ein welt- und wissenloses Moralisieren. Die Philosophie zieht sich auf die Schule zurück. Sie wird, wie das Schopenhauer boshaft, aber zutreffend gesagt hat, zur Kathederphilosophie. Schopenhauer meint damit den professionellen Philosophiebetrieb auf Universitäten, die staatlich besoldeten Begriffsspielereien verbeamteter Denker, wie sie, ohne Erfahrungs- und Weltbezug, an Seminaren stattzufinden pflegen. Schopenhauer bezieht sich auf Hegel – darin zu Unrecht, wie mir scheint, da Hegel der letzte Philosoph ist, der die Einheit von Schul- und Weltbegriff philosophierend aufrechterhalten hat. Erst mit Hegels Tod treten beide auseinander: der Schulbegriff, der sich in den verschiedenen akademischen Erneuerungsbewegungen des 19. Jahrhunderts, im Neukantianismus und Neuhegelianismus, etabliert, und der Weltbegriff, der sich, nach der Preisgabe des moralphilosophischen Kerns zugunsten der Wissenschaften, zur Weltanschauung auseinanderdehnt. Zwischen beiden steht, als einzige Sachwalterin einer ursprünglichen, mit menschlicher Welterfahrung verknüpften Philosophie, die große Dichtung: Immermann und Keller, Balzac [<<27] und Dickens, Tolstoi und Dostojewski. Und am Rande die extrem-moralisierenden Existenzen: Kierkegaard und Nietzsche, an die sich in unserem Jahrhundert die Existenzphilosophie angeschlossen hat. Wie ist es zu dieser Lage, die sich heute, im Zeitalter der Wissenschaft, eher noch verschärft hat, gekommen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir den Begriffen nachgehen, deren Gebrauch wir bisher als selbstverständlich unterstellt haben. Wir wenden uns zunächst dem Weltanschauungsbegriff zu.

Begriffe können wir nicht anders klären, als dass wir von ihrer Artikulation in der Sprache, dem sprachlichen Ausdruck, ausgehen, und der sprachliche Ausdruck für Begriffe ist das Wort. Wie Begriffe die Elemente des Denkens sind, so sind die Worte Elemente des Sprechens, der lebendigen Rede. Obwohl wir nicht in Worten, sondern in Begriffen denken, ist es das Wort, das unsere Möglichkeit zu denken begrenzt, es legt gewissermaßen die Artikulation unseres Begreifens fest.

Das Wort „Weltanschauung“ – dies sei als Erstes festgehalten – ist nicht, wie so viele andere philosophische Ausdrücke, eine Übersetzung aus dem Griechischen oder Lateinischen. Das entsprechende griechische Wort wäre κοσμοθεωρία, das lateinische mundi intuitus, aber beide Ausdrücke gibt es für die Griechen und Römer nicht. Das Wort ist vielmehr eine spezifisch deutsche Prägung, das in seiner naturwüchsigen Bedeutung: Weltanschauung als Ansicht der Welt zuerst in Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ auftritt. Im Sinne von „Weltansicht“, der sinnlich-leibhaftigen Anschauung des Universums, wird es bei Goethe und Alexander von Humboldt gebraucht. Was ist der Grundzug der Ansicht der Welt im Ganzen wie eines jeden ihrer Teile? Die Perspektive. Je nach dem Standort des Ansehenden sieht die Welt anders aus (Beispiel: die Ansicht einer Stadt). Was wir alle aus dem Alltag kennen, das hat der Philosoph Leibniz im 17. Jahrhundert in einen Gedanken gefasst. Das Universum, sagt Leibniz, ist nicht aus toter Materie zusammengestückt, sondern belebt, es ist eine Allheit von Einheitspunkten, von Monaden, deren jedes seine eigenen Fenster hat, also eine Allheit möglicher Gesichtspunkte, die Welt anzusehen. Der Ausdruck „Gesichtspunkt“ entstammt der Leibniztradition der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert. So spricht Chladenius, [<<28] ein Ahnherr der Hermeneutik, vom ‚Sehepunckt‘.13 Leibniz legt die begrifflichen Fundamente für den Aufstieg des Wortes „Weltanschauung“ in Deutschland. Es ist – dies folgt aus Leibniz’ Definition des Universums als einer Allheit möglicher Gesichtspunkte –ein Pluraletantum, ein Wort, das eigentlich nur in der Mehrzahl gebraucht werden kann. In diesem Sinne spricht etwa Goethe in der ‚Italienischen Reise‘ von der lebendigen Weltanschauung des Italieners, im Gegensatz zur unlebendigen des Deutschen. Ranke spricht von einer „religiösen und christlichen Weltanschauung“, Hegel von den verschiedenen Weltanschauungen der Religion, die den Geist der Völker und Zeiten, seine Erscheinung in den Werken der Kunst, bestimmen. Die Welt, so heißt es bei dem romantischen Dichter Novalis, ist das Resultat eines unendlichen Einverständnisses und unsere eigene Pluralität – dass sie jeder anders versteht – der Grund der Weltanschauung.

Eine Vertiefung des ursprünglichen Gedankens von Leibniz begegnet uns in Schellings ‚Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie‘ (1799), und zwar auf der Grundlage der kantischen Lehre vom Schematismus der Anschauung, dem unser Begriffsgebrauch unterworfen ist: dass Begriffe nur dadurch auf Erfahrung anwendbar sind, dass wir uns ein Bild machen, z. B. von dem Begriff „rund“, den wir uns am Bild des Tellers veranschaulichen. „Die Intelligenz“, schreibt Schelling, und er meint damit in etwa, was Kant als „Erkenntnisvermögen“ bezeichnet hatte, „ist auf doppelte Art, entweder blind und bewußtlos oder frei und mit Bewußtsein produktiv; bewußtlos produktiv in der Weltanschauung, mit Bewußtsein in dem Erschaffen einer ideellen Welt“.14 Hier bedeutet „Weltanschauung“ mehr als bloße Weltansicht, da das Moment des Bildens, der Produktivität in der selbstständigen Bildung der Anschauung dominiert, wenngleich diese sich „bewusstlos“ bilden soll. Der Weg ist frei zu der Bedeutung, die [<<29] wir heute kennen, einer selbst vollzogenen, produktiven und dann auch bewusst-manipulierenden Ausdeutung der Welt, der Herstellung eines Weltbildes. Schelling spricht davon, dass alles Endliche eine Grenze seiner Weltanschauung habe, dass jeder Weltanschauung ein Schematismus zugrunde liege, nämlich so, dass mit ihren faktisch auftretenden Formen ein jeweils anderes Bild der Welt korrespondiert. Durch das Schauen – so lässt sich der hier gewonnene Begriff kurz umschreiben – wird das Geschaute erst hingesetzt. Es ist genau jene Bedeutung, die uns auch in Hegels Rede von einer „moralischen Weltanschauung“ entgegentritt. Mit ihr charakterisiert Hegel in der ‚Phänomenologie des Geistes‘ den Versuch von Kant und Fichte, im Ausgang von der schmalen Basis des Gewissens – dass wir uns bei unserem Tun und Lassen an ein „Sollen“, an das Bewusstsein der Verpflichtung gegenüber dem Sittengesetz, erinnert wissen – die traditionell-theoretischen Beweise der Metaphysik über das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der menschlichen Seele in praktisch-gewisse Sätze umzuformulieren. Was sich uns als Faktum der Vernunft aufdrängt, ist das Bewusstsein, sittlich gebunden zu sein: Handle so, dass die von dir gewählte Maxime zugleich als allgemeines Gesetz für jedermann gelten könnte! Das sagt uns nach Kant und Fichte unser Gewissen, das sittliche Bewusstsein. Über das Gewissen also – einen zugegebenermaßen winzigen Punkt des Philosophierens – sind wir auf das Sittengesetz bezogen, traditionell gesprochen: auf eine moralische Ordnung (ordo moralis), die Kant und Fichte selbst nicht mehr als Naturordnung interpretieren. Im Gegenteil: „Dieser Beziehung“, bemerkt Hegel zutreffend, „liegt zum Grunde sowohl die völlige Gleichgültigkeit und eigene Selbständigkeit der Natur und der moralischen Zwecke und Tätigkeit gegen einander, als auf der anderen Seite das Bewußtsein der alleinigen Wesenheit der Pflicht und der völligen Unselbstständigkeit und Unwesenheit der Natur.“15 Es handelt sich auch hier um eine perspektivische Ansicht der Welt: Das sittliche Bewusstsein wird im Gedanken der Pflicht verabsolutiert und [<<30] dann in das Weltganze hineinprojiziert. Hegel spricht davon, dass es sich in der moralischen Weltanschauung vergegenständlicht. Dies eben ist der Grundzug der Weltanschauung: Ein Bild des Ganzen wird von einer Teilerfahrung aus aufgebaut. Der Gesichtspunkt der Moral, der moralischen Selbsterfahrung, trägt nicht so weit, um das Wissen vom Ganzen theoretisch begründen zu können. Gott ist für Kant bekanntlich nur ein Postulat der praktischen Vernunft. Ich habe daran nur verdeutlichen wollen, was die Rede von der „Weltanschauung“ allgemein meint: dass über dasjenige, was uns erfahrungsmäßig „gegeben“ ist, hinausgegangen werden muss. Dieser Transzendenzbewegung ist bei Kant auch das Bewusstsein verpflichtet, das in der Stimme des Gewissens auf das Sittengesetz bezogen sein muss. Es ist, in der Tat, eine Art von Verallgemeinerung, die hier, ähnlich wie im Marxismus, ins Spiel kommt, mit einem gewichtigen Unterschied freilich: Die historisch-materialistisch bestimmte Weltanschauung stützt sich auf Resultate der Einzelwissenschaften, und die Verallgemeinerung wird als Methode verstanden, die eine wissenschaftliche, also eine theoretisch beweisbare Weltanschauung herbeiführen soll. Von dieser Aufgabenstellung der Philosophie ist Kants Postulatenlehre weit entfernt. Ja, es scheint mir kein Zufall zu sein, dass erst Hegel dieses Wort zur Kennzeichnung des kantischen Weltbegriffs von Philosophie verwendet und dass es schließlich als Modewort erst nach Hegels Tod, nach der Auflösung der Zusammengehörigkeit des Schul- und Weltbegriffs und dem damit einhergehenden Niedergang des ursprünglichen Philosophierens im 19. Jahrhundert, aufkommt.

 

Weltanschauungen – so etwa lässt sich das seither übliche Begriffsverständnis umschreiben – sind Sache einer zusammenhaltenden Sinnorientierung, die mehr oder minder ausdrücklich und direkt das Denken und Tun lenkt. Als solche sind sie auf die jeweilige heutige Situation bezogen, sie gelten relativ, nämlich zu einem jeweils vorausgesetzten Standort, einer Gruppe von Menschen, einer Zeit, einem Volk, einer ganzen Kultur. Sie setzen diesen Standort voraus, d. h.: Sie setzen etwas Positives, von dem ausgehend die Welt aufgefasst und gedeutet wird. Jede Weltanschauung ist in diesem Sinne „positiv“, und zwar selbst dann noch, wenn sie das, was ist, negiert, zum Beispiel – ich denke an [<<31] die nationalsozialistische „Weltanschauung“ – eine Rasse vernichtet: Die Vernichtung der jüdischen Rasse setzt voraus, dass der Nationalsozialismus das Germanentum als höherwertige Rasse „gesetzt“ hatte. In diesem Grundzug – dem Zug zur Position, die als solche die Negation impliziert – stimmt die Weltanschauung mit den von uns hervorgehobenen Grundzügen der Wissenschaft: Anonymität und Manipulierbarkeit, überein. Weltanschauungen sind zwielichtige Gebilde, die aus Wissen und Wollen zusammengemischt sind. Ihre Zwielichtigkeit überträgt sich auf die Philosophie, etwa dann, wenn man, wie während des Nationalsozialismus, das „Deutsche“ in der Philosophie heraussetzt, wenn man von einer „deutschen“ Philosophie oder, wie im Marxismus, von der „Philosophie der Arbeiterklasse“ spricht.

In dieser Redeweise wird „Philosophie“ nicht mehr primär einem Erkenntnisbegriff, sondern dem Begriff des Interesses zugeordnet: Philosophieren ist an das praktische Interesse einer Rasse, einer Klasse, einer Zeit, eines Volkes, einer Kultur usw. gebunden. Es ist, wie man dazu auch sagt, „Ausdruck“ oder „Überbau“ eines ganz anderen als des Begriffs, eben der Basis, der es gleichsam aufsitzt. Die ‚Basis‘ wäre dann im Marxismus die Produktivkraft, in einer vitalistischen Weltanschauung der „Wille zum Leben“, und es ließen sich durchaus weitere Varianten denken.

Mit der These, dass Philosophie Weltanschauung und nichts sonst ist, gerät das Philosophieren selbst in die Aporie. Vielleicht, so haben nicht wenige Philosophen unseres Jahrhunderts gemeint, ist es tatsächlich nur so etwas wie eine Denaturierung ursprünglicher Erfahrungsweisen, die als „Weltanschauungen“ in Kunst und Religion, im Mythos und in der großen Phantasiedichtung ausgedrückt sind. Vielleicht gehorcht es dem Primat des Interesses vor der Erkenntnis, ist also so etwas wie ein Instrument unseres ursprünglichen Weltlebens, der Lebenspraxis. Vielleicht hat die Philosophie den Charakter einer „Ausdruckserscheinung“, einer „Dichtung in Begriffen“, die ein literarisch anziehendes Gebilde sein mag, das wir aber nicht so ausbauen und festhalten können, wie wir das bei einer Wissenschaft voraussetzen. Den Rang einer Wissenschaft, so lautet die mit der genannten These verknüpfte Erwartung, wird die Philosophie erst dann erhalten, wenn [<<32] sie sich konsequent als Ausdruckserscheinung versteht – als Objektivation von Leben, als Überbauform einer Basis, die wissenschaftlich zu erforschen ist. Philosophie wird Wissenschaft, wenn sie sich selbst zum Gegenstand macht.