Einführung in die Philosophie

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Die methodischen Einstellungen, in denen die Philosophie im 20. Jahrhundert zum quasiwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand gemacht worden ist, verdanken sich entweder der Geschichte (1), der Psychologie (2), der Ökonomie (3) oder der Biologie (4). Dementsprechend unterscheiden wir vier Arten von Ausdruckserscheinungen, die entweder historistisch, psychologistisch, ökonomistisch oder biologistisch gedeutet und je verschiedenen „Weltanschauungsphilosophien“ zugeordnet werden. Ich werde sie der Reihe nach mit wenigen Sätzen charakterisieren:

1. Philosophieren entspringt dem ursprünglichen, nämlich geschichtlichen Weltleben. Das Leben der Griechen ist ein anderes als das der Römer und dieses wiederum anders als das der germanisch-romanischen Völker in der Neuzeit. Wer philosophiert, ob Platon oder Aristoteles, ob Descartes oder Kant, bringt geschichtliches Leben zum Ausdruck, er artikuliert eine je geschichtliche Weise, die Welt anzuschauen. Wenn das Philosophieren eine Ausdruckserscheinung geschichtlichen Lebens darstellt, dann kann Philosophie selbst nur die Lehre von diesen Ausdruckserscheinungen, sie kann nur Weltanschauungslehre sein. Jedes Philosophieren ist geschichtlich relativ, seine Relativität widerspricht dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, den auf der anderen Seite jede Philosophie stellt. Dieser Widerspruch führt zur Suche nach einer dem Philosophieren eigenen Kontinuität, die sich im Wechsel der Weltanschauungen, im geschichtlich bewegten Ablauf, durchhält. Die Kontinuität im Wechsel drückt sich, so lautet die These der Weltanschauungslehre, in Typen des Philosophierens, einer sich ständig wiederholenden und sich beständig durchhaltenden Weltanschauungsbildung, aus. „Typus“ ist ein anderer Begriff für „Standort“ und „Gesichtspunkt“, von dem aus die Welt gesehen und gedeutet wird (Typos ist im Wortsinn der Abdruck, das Gepräge, etwa bei einer Geldmünze). Nach Wilhelm Dilthey, der die Weltanschauungslehre [<<33] zuerst begründet hat, gibt es drei solcher Grundtypen: den Materialismus oder auch Naturalismus, den Pantheismus oder objektiven Idealismus und den Idealismus der Freiheit oder den subjektiven Idealismus.16 Der erste Typus wird in der Antike von Demokrit und Epikur, in der Neuzeit von Hobbes, den französischen Enzyklopädisten und den Materialisten des 19. Jahrhunderts repräsentiert; den zweiten, der unter dem Gesichtspunkt eines objektiven, in der Welt selbst vergegenständlichten Sinnzusammenhangs entsteht, vertreten in der Antike Heraklit und die Stoa, in der Neuzeit Spinoza, Leibniz, Shaftesbury, Goethe, Schelling und Hegel; und unter den dritten Typus, den Idealismus der Freiheit, werden Dilthey, Platon und Cicero, die christliche Spekulation und schließlich Kant und Fichte subsumiert – eine durchaus zufällige Zuordnung, die auch nicht dadurch richtiger erscheint, dass Dilthey behauptet: Diese Typen selbst sind keineswegs zufällig, sondern geben notwendig der Mehrseitigkeit des Lebens Ausdruck: der Materialismus und Naturalismus unserer Abhängigkeit von der Natur; der Pantheismus oder objektive Idealismus den vergegenständlichten Sinnzusammenhängen unserer Kultur, die im Kern Erscheinung von Geist ist; und der Idealismus der Freiheit dem moralischen Bewusstsein, das sich von der Natur unabhängig weiß. Die von Dilthey vertretene Typenlehre der Weltanschauungen ist Philosophie der Philosophie, die sich selbst nicht mehr unter den Anspruch der philosophischen Grundfragen stellt. Das Problem der Wahrheit ist ebenso relativiert wie das Problem des Guten oder der Freiheit. Man schaut die Welt zwar nicht durchaus irrig, aber man schaut sie, und zwar unvermeidlich, perspektivisch an. [<<34]

2. An Dilthey – ich kann mich hier kürzer fassen – schließt sich K. Jaspers’ Frühwerk, die ‚Psychologie der Weltanschauungen‘ (1919) an.17 Zu ihrem Umkreis gehören ferner E. Sprangers berühmtes Werk: Lebensformen. Geisteswissenschaft, Psychologie und Ethik der Persönlichkeit, 1921, und H. Leisegang, Denkformen, 1931.18 Diese drei Hauptwerke des typologischen Psychologismus haben alle die gleiche logische Argumentationsstruktur: Die verschiedenen Denktypen sind in unserem Seelenleben angelegt, sie führen psychisch notwendig zu verschiedenen Weltanschauungen. Die psychologisch-verstehende Methode soll den Sinn der philosophischen Sätze, ihren Ursprung aus einer typischen Lebens- oder Denkform, erst ausweisen. Dass es eine Mannigfaltigkeit von Typen der Weltanschauung gibt, bezeugt die Mehrseitigkeit der Seele und des dem Menschen möglichen Weltlebens. Philosophie ist psychologisch notwendiger Schein, Erscheinung von seelischem Ausdruck. Die Aufgabe einer Psychologie der Weltanschauungstypen kann nur noch darin liegen, die Mannigfaltigkeit der Stand- und Gesichtspunkte deutend zu verstehen – unter Verzicht auf die Wahrheitsfrage.

3. Diltheys Typenlehre zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit der marxistischen „Philosophie der Philosophie“, ihrer Beurteilung als eines Epiphänomens des Lebens. Der Unterschied besteht darin, dass „Leben“ im Marxismus nach Begriffen der Ökonomie ausgelegt wird – eben als Arbeit oder Produktion, als Produktivkraft und Produktionsverhältnis. Der Idealismus der Freiheit, z. B. Kants Moralphilosophie, wird als Ausdruck einer bestimmten ökonomischen Lage der deutschen Gesellschaft im 18. Jahrhundert gedeutet: Der Zustand Deutschlands, heißt es in Marx’ und Engels’ ‚Deutscher Ideologie‘ (1845),19 spiegele sich [<<35] vollständig ab in Kants ‚Kritik der praktischen Vernunft‘. Während sich die französische Bourgeoisie durch die kolossalste Revolution, die die Geschichte kennt, zur Herrschaft aufschwang und den europäischen Kontinent eroberte, während die bereits politisch emanzipierte englische Bourgeoisie die Industrie revolutionierte, brachten es die ohnmächtigen deutschen Bürger nur zum ‚guten Willen‘.20 Die philosophischen Sätze werden nicht mehr als Antwort auf ursprüngliche Fragen, sondern als etwas anderes genommen – eben als Ausdruck einer bestimmten Gesellschaft, deren ökonomische Situation durch sie gespiegelt und zugleich gerechtfertigt wird. Philosophie ist gesellschaftlich notwendiger Schein – terminologisch gesprochen: Sie ist Ideologie.

4. Das Hauptwerk der biologistischen Richtung ist A. Gehlens: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 19401, 19719. Der methodische Ansatz in der Erörterung der Philosophie ist durch die Wahl des Ausgangspunktes bestimmt: Der Mensch ist das sich selbst behauptende Wesen, er besitzt einen ursprünglichen Trieb zur Selbsterhaltung (conservatio sui). Dieser Antrieb macht alles dasjenige biologisch notwendig, was wir an uns selbst gewahren: vom aufrechten Gang bis zur Moral, vom Lachen, Weinen, Sprechen bis hin zum Philosophieren. Für das sich selbst behaupten wollende Wesen Mensch ist Weltanschauung die Ausdeutung seiner Antriebe, sie besitzt eine biologisch notwendige Funktion. Als Weltanschauung ist Philosophie eine lebensfördernde Illusion – eine These, die so bereits Nietzsche vertreten hatte.

Wenn Philosophieren, wie hier in Übereinstimmung mit den unter 1) bis 3) behandelten Denkern argumentiert wird, eine sekundäre Ausdruckserscheinung von etwas darstellt, das faktisch vorausgesetzt wird, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt bis hin zur völligen Unverständlichkeit dessen, was im Philosophieren eigentlich geschieht. Philosophieren, so haben wir demgegenüber behauptet, heißt Fragen-Können; was den Philosophen auszeichnet, ist die Fähigkeit, radikal zu fragen, nämlich alles, [<<36] was als selbstverständlich vorausgesetzt wird, dem Zweifel aussetzen zu können. In der Weltanschauung kann aber gerade dasjenige nicht mehr befragt werden, was als selbstverständlich vorausgesetzt, was gesetzt ist. Wir müssen uns deshalb wieder einen Begriff von der Ursprünglichkeit des Philosophierens verschaffen, und in dieser Absicht fragen wir: Was ist Philosophie? Wenn sie nicht Weltanschauung ist, ist sie dann Wissenschaft? Und wenn ja, in welchem Sinne ist die Philosophie Wissenschaft? Um die Frage zu beantworten, was Philosophie sei, müssen wir zuvor klären, was Wissenschaft ist.

1.1.2 Zur aktuellen Problemlage

An dieser Stelle können wir zu der Ausgangsfrage: „Was ist Philosophie?“ zurückkommen. Riedel expliziert das Wesen der Philosophie zunächst vor der Unterscheidung zwischen Philosophie und Weltanschauung. Philosophie, ihrem Weltbegriff nach verstanden, betrifft das, was jedermann notwendig interessiert. Der Weltbegriff setzt dabei den Schulbegriff voraus, daher verfällt er nicht in Weltanschauungslehren. Der Schulbegriff legt nach Kant die formalen Denkgrundsätze frei und stellt den Zusammenhang zwischen ihnen her. Auch der Weltbegriff bewegt sich im Bereich der ‚Wissenschaft‘. Diese Wissenschaft soll aber auf die „höchste Maxime des Gebrauchs unserer Vernunft“ ausgerichtet und damit auf die Maximenwahl des Subjektes bezogen sein. Damit richtet sich der Weltbegriff gerade auf die Urteilskraft und auf die Grundfragen des Denkens. Er führt, wie Wolfgang Wieland gezeigt hat, keineswegs nur auf das Feld der praktischen Vernunft und ihrer Applikationen, sondern auf das Zusammenspiel von Urteilskraft und Gefühl. Damit liegt er aller Erkenntnis zugrunde, bestimmt sich Philosophie doch im Letzten als „Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae)“. Es ist mithin Philosophie als Weisheit, die über die Quellen, den Umfang und die Grenzen der menschlichen Vernunft zuallererst Rechenschaft abzulegen erlaubt und dabei zu größerer Sinnklarheit führt. In jüngeren Arbeiten ist, ausgehend von [<<37] Kant, aber auch der Polanyis Unterscheidung zwischen ‚Knowing how‘ und ‚Knowing that‘21 – und nicht zuletzt im Rückgriff auf Aristoteles’22 Phronesis-Begriff – dieses Momentum wieder sichtbar gemacht worden. Riedel hat angedeutet, dass in der Begriffsgeschichte der Schulbegriff der Philosophie schon im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine immer weitergehende Verengung erfuhr, während der Weltbegriff in die Mühlen der Ideologien geriet. Dass es die der Unterscheidung theoretischer und praktischer Vernunft noch vorausgehende Urteilskraft sein kann, die das Proprium der Philosophie gegenüber der Weltanschauung sichert, könnte gegenüber der Funktionalisierung der Philosophie auch im postmodern pragmatistischen bzw. existenziell erbaulichen Sinn zur Geltung gebracht werden. Damit ist, wenn man der kantischen Tektonik auch nur einigermaßen folgt, klar, dass Philosophie Metawissenschaft zu einzelwissenschaftlicher Erkenntnis sein kann. Dies ist auch dort der Fall, wo sie nicht mehr den Anspruch erhebt, als erste Wissenschaft alle anderen Wissenschaften gleichsam in sich einzuschließen. Sie kann sich vielmehr von diesen Wissenschaften belehren lassen, muss deren Erkenntnis aber auf die Möglichkeiten und Grenzen der Vernunfterkenntnis zurückbeziehen.

 

Wenn Riedel begriffsgeschichtlich an den ‚Weltanschauungsbegriff‘ zwischen Leibniz und Heidegger erinnert, so instrumentiert dies diesen Ansatz. Die Welt- und Sprachansichten, die Leibniz zur Geltung bringt, und die Lehre vom „Sehepunckt“ bei Chladenius kreisen das Problem in einem noch nicht ideologisierten Verständigungssinn ein. Die entscheidende Frage bleibt freilich, ob verschiedene Formen von ‚Sinnverstehen‘ miteinander in einen Austausch kommen – oder ob sie unverbunden nebeneinander stehen bleiben. Dies aber verweist wiederum auf den Ursprungs- und Ansatzpunkt, den Primat bei der offenen Fragebewegung der Philosophie. [<<38]

Dies ist der kriteriologische Dreh- und Angelpunkt, an dem, wie Riedel exemplarisch verdeutlicht, die verschiedenen Weltanschauungsphilosophien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer Kritik zugeführt werden müssen. Riedel bemerkt im Blick auf Diltheys Typenlehre, Jaspers’ ‚Psychologie der Weltanschauungen‘ und erst recht einen biologistischen Weltanschauungstypus, wie er von Arnold Gehlen vertreten und mit der ‚deutschen Philosophie‘ der NS-Zeit amalgamiert wurde,23 dass sie Strukturähnlichkeiten mit dem marxistischen Weltanschauungsverständnis hätten. Fixierte Weltanschauungskonzeptionen lassen unverständlich werden, was „im Philosophieren eigentlich geschieht“.

Der Begriff der ‚Weltanschauung‘ wird, das ist auffällig, nach dem Ende der totalitären Systeme kaum noch normativ und in der Regel mit Vorbehalten gebraucht. Deshalb benennen sich heutige weltanschauliche Ansprüche, sowohl eines Pragmatismus als auch eines Konstruktivismus oder eines Ratgeberexistenzialismus, kaum mehr explizit als ‚Weltanschauungen‘. Dies macht es zu einer schwierigeren, aber auch umso notwendigeren Aufgabe, ihren Weltanschauungs- und Ideologiecharakter zu entschlüsseln. Riedel hat dazu eine Reihe wesentlicher Hinweise gegeben. Implizite Weltanschauungs- bzw. ‚Ideologiekritik‘ erscheint umso dringender erforderlich, als sie bislang immer parteilich, marxistisch oder konservativ,24 geführt wurde, kaum aber im Rahmen der Eigenständigkeit und Irreduktibilität der Philosophie. [<<39]

1.2 Philosophie und Wissenschaft
1.2.1 Prinzipienerkenntnis und Erkenntnis aus Prinzipien

Von der Weltanschauung unterscheidet sich die Wissenschaft dadurch, dass sie nicht auf das Weltganze, sondern immer nur auf einen Teil der Welt, auf ein vorausgesetztes Erfahrungsfeld gerichtet ist: entweder auf die Natur oder auf die Gesellschaft oder auf den Menschen, und darunter wiederum auf weiter vorausgesetzte Erfahrungsfelder. Wir kennen keine Wissenschaft von der Natur, sowenig es eine Sozial- und Humanwissenschaft gibt, wir kennen nur Natur-, Sozial- und Human-Wissenschaften. Mit der Weltanschauung stimmt die Wissenschaft darin überein, dass sie sich zu jedem ihrer Felder positiv verhält. Natur, Gesellschaft und Mensch, Raum, Zeit und Bewegung, Natur als anorganischer und organischer Körper, der organische Körper als pflanzlicher, tierischer und menschlicher Organismus, der menschliche Organismus unterteilt in einzelne Felder: in das Somatische, das Psychische und das Soziale, diese wiederum psychosomatisch und sozialpsychisch aufgegliedert – alle diese Felder werden von den Wissenschaften im Voraus gesetzt, sie sind für sie ein Positum. Alle Wissenschaften, auch die Mathematik, sind positiv, sofern sie in ihren Grundsätzen dasjenige, worauf sie sich beziehen, voraussetzen: die Arithmetik die Zahl, die Geometrie die Figur, die Physik Raum, Zeit und Bewegung, die Biologie das Lebendige, die Soziologie die Gesellschaft usw. Zur Wissenschaft gehört diese vielfache Positivität, die wir auch als einen Grundzug der Weltanschauung hervorgehoben hatten. Aber während diese die Positivität totalisiert, kommt es in jener zu ihrer Partialisierung: Die Wissenschaften sind ständig auf dem Sprung, sich an die Positivität des Einzelwissens gewissermaßen zu verlieren, weshalb sie auch gegenüber einer falschen Generalisierung ihrer Resultate, deren Einbau in eine Weltanschauung, wehrlos sind. Es handelt sich um eine gegensätzliche und gleichwohl einheitliche Tendenz, die das Verhältnis von Wissenschaft und Weltanschauung auf dem Boden der Neuzeit bestimmt. Wenn ich sage: auf dem Boden der Neuzeit, so behaupte ich damit: Das Verhältnis beider ist geschichtlich bestimmt, d. h. ein solches, das unserer Zeit das Gepräge gibt, das den vorneuzeitlichen Weltaltern [<<40] möglicherweise anders erscheint, ja ihnen vielleicht sogar ganz fremd ist, das jedenfalls kein ewiges, mit dem Begriff der Wissenschaft notwendig verbundenes Verhältnis darstellt. Um uns hierüber Klarheit zu verschaffen, müssen wir uns über den in unserer Zeit vorausgesetzten Begriff der Wissenschaft und seine Konnotation mit dem der „Positivität“ Klarheit verschaffen. Was heißt „positive Wissenschaft“? Was bedeutet für uns heute der Begriff „Wissenschaft“?

Wenn wir uns zunächst wieder an der gesprochenen Sprache, der Umgangssprache, orientieren, können wir darauf leicht eine Antwort geben. Das Wort „Wissenschaft“ bedeutet in den heutigen europäischen Sprachen, vom Englischen „science“ angefangen über das französische „science“ und das italienische „scienca“, so viel wie „Mathematik“ und „Naturwissenschaft“ – unter Einschluss der Sozialwissenschaften, soweit sie mathematisch und experimentell betrieben werden. „Positiv“ heißt eine Wissenschaft dann, wenn sie solche Methoden anwenden kann. In der Anwendbarkeit mathematisch-experimenteller Methoden besteht die Positivität der positiven Wissenschaften. In dieser Konnotation ist „Wissenschaft“ ein Singularausdruck, dessen Bedeutung einfach und deshalb wenig umstritten erscheint. Nicht ohne Grund assoziiert sich das von ihm abgeleitete Prädikat „wissenschaftlich“ ganz umstandslos mit Ausdrücken wie „empirisch“, „exakt“, „wertfrei“, „begründbar“, „erklärbar“, und da diese Ausdrücke den Inbegriff der Positivität – die „Wissenschaftlichkeit“ der Wissenschaften – umschreiben, gibt es heute kaum noch eine Meinung, die sich nicht auf „die Wissenschaft“ berufen kann. Das Positive ist dabei immer etwas, was im wissenschaftlichen Tun als gesetzt angenommen wird: die Tatsache (also die empirische Seite); die Zahl (die exakte Quantifizierung); die Wertneutralität; das Prinzip (die Begründung); das Gesetz (die Erklärung). In Wahrheit sind dies alles Voraussetzungen, die alles andere als selbstverständlich sind. Sie müssen bedacht und kritisch geprüft werden und Selbstverständliches bedenken, das ist die Aufgabe der Philosophie.

Der Begriff der Wissenschaft ist kein umgangssprachlicher Ausdruck, dessen Bedeutung durch den Gebrauch im Alltag festgelegt und durch Bezugnahme auf alltägliche Situationen verständlich ist. Vielmehr gehört er einer Klasse von Begriffen an, die weder formalanalytisch [<<41] noch empirisch hinreichend geklärt werden kann. Kandidaten dieser Klasse sind neben dem Begriff der Wissenschaft die Grundbegriffe des Philosophierens – der Begriff der Wahrheit, des Guten, der Freiheit und des Seins.

Wissenschaft geht, wie der Name sagt, auf Wissen zurück – ein Ausdruck, der freilich mehrdeutig erscheint. Eine notwendige, obwohl nicht hinreichende Bedingung seiner Eindeutigkeit ist die, dass das, was jemand weiß, wahr ist: Wenn A weiß, dass der Sachverhalt p besteht, dann ist p wahr.25 Wie die mit dem Ausdruck „Wissen“ verknüpfte Wahrheitsbedingung – dass niemand etwas Falsches „wissen“ kann – erfüllbar ist, davon werde ich an späterer Stelle noch sprechen. Zur Wissenschaft gehört zweierlei: 1. eine Mannigfaltigkeit wahrer, begründeter Sätze und 2. ein geordneter Zusammenhang des Wissens, der die Anforderung von Einheit impliziert. Die Einheitsforderung bezieht sich weder auf die Zusammenfassung aller Wissenschaften noch auf eines ihrer Fächer, das alle übrigen „vereinheitlicht“, etwa die Soziologie im älteren oder die Physik im neueren Positivismus. Wenn das einheitsstiftende Moment in keiner Einheitswissenschaft, auch nicht in der Logik, liegt, muss die Einheit nicht eindimensional, sie kann selbst vielfach sein. Ich möchte drei Arten von Einheit unterscheiden, und danach werde ich zu zeigen versuchen, was die Einheit am Grund stiftet.

Wissenschaft ist zunächst eine operative Einheit – der Zusammenhang von Wissensdispositionen wie Wahrnehmen, Sprechen, Denken nebst zugehörigen Betätigungen, z. B. Experimentieren, Messen, Deuten, die Wissen hervorbringen und niemals getrennt, sondern nur vereinigt betätigt werden können. Da jedes wissenschaftliche Operieren der Kooperation mit anderen bedarf, ist sie ferner eine kommunikative Einheit – die Gesamtheit der Wissenschaftsinstitutionen, an denen Wissen „vermittelt“ und in Büchern, Zeitschriften, Apparaten usw. zusammenhängend [<<42] mitgeteilt wird. Und schließlich ist sie eine finale Einheit von Bedürfnissen und Erwartungen, die sich mit der Hervorbringung und Mitteilung von Wissen verbinden. Was die Wissenschaften betreiben, ist auf einen Zweck-Mittel-Zusammenhang bezogen, es muss, so lautet die bekannte Forderung, „relevant“ sein. Wir haben es jedes Mal mit Begriffen zu tun, die partielle Modi von Einheit stiften und gerade deshalb Totalisierungen ausgesetzt sind. Missverständnisse von Wissensdispositionen haben in der Vergangenheit die entgegengesetzten Wissenschaftstypen des Empirismus und Rationalismus veranlasst. Eine Folge erkennt man darin, wie missverständliche Ausdeutungen von kommunikativen Erfordernissen die Zwecke der Wissenschaften unmerklich mit gesellschaftlicher „Relevanz“ verwechseln lassen und beliebiger Finalisierung Raum geben. Operative Begriffe beschreiben, wie Wissen im Zusammenspiel verschiedener Dispositionen entsteht. Ihre Begrifflichkeit ist deskriptiv und interpretiert den Hervorbringungszusammenhang der Wissenschaften. Deskriptiv ist auch der Status kommunikativer Begriffe, die beschreiben, wie Wissen kooperativ hervorgebracht und zusammenhängend mitgeteilt wird. Es ist die Begrifflichkeit der Wissenschaftssoziologie, die primär dem Mitteilungszusammenhang der Wissenschaften angehört. Im Unterschied dazu besitzen finale Begriffe normative Funktionen. Sie schreiben vor, „wozu“ Wissen gebraucht werden soll, weshalb wir sie zum Relevanzzusammenhang der Wissenschaften rechnen können. Was das Wissen zur Wissenschaft macht, ist aber weder die Hervorbringung noch die Art der Mitteilung oder seine Relevanz, sondern der Begründungszusammenhang. Im Blick auf ihn gewinnen wir erst ein philosophisches Verständnis dessen, was die „Einheit“ des Wissens stiftet, das Urstiftende am Grunde der europäischen Wissenschaft. Das ist nicht zu allen Zeiten dasselbe, sondern eine Einheit, die sich in der Zeit wandelt, deren Urstiftung nach verschiedener Weise geschieht (Stiftung bedeutet lateinisch constitutio). Das Urstiftende am Grunde heißt traditionell „Vernunft“ (gr. nus, lat. ratio). „Vernunft“ kommt von „Vernehmen“; es ist ein aporetischer Titel, der Ausdruck einer Verlegenheit, in der sich das Denken in Begründungen, die apodiktisch strenge Wissenschaft, seit ihrer Entdeckung bei den Griechen befindet: dass alles Begründen an ein Ende kommt. Mit diesem Ende, das vom Anfang her da ist, hat es die Philosophie zu tun. [<<43]

Ich analysiere nun Entstehung und Wandel der Wissenschaft und damit den Aufbau ihrer Idee aus der Begrifflichkeit ihres Begründungszusammenhangs. Der Begriff der Wissenschaft baut sich im terminologischen Rahmen von „Theorie“ (a), „Lehre“ (b) und „System“ (c) her auf. Ihm erwächst ein je verschiedener Typus von Einheit, der „theoretisch“ (a), „doketisch“ (b) und „systematisch“ (c) genannt und in seiner idealtypischen Geschichtlichkeit dem klassisch griechischen, christlich mittelalterlichen und neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff zugeordnet sein soll. Ich erläutere diese drei Typen in wissenschaftsgeschichtlicher Reihenfolge, beginne also mit der Bestimmung des klassisch griechischen Wortes für Wissenschaft, das episteme heißt. Ihr ist der Begriff der Theorie zugeordnet, in der zuerst die Sache der Philosophie ins Spiel kommt.26

 

a) Als theoretische Einheit ist Wissenschaft der Zusammenhang wahrer, in einer Stufenfolge von Begründungen angeordneter Sätze über ein abgrenzbares Gebiet von Sachverhalten. Der explizit abgeleitete Begründungszusammenhang dieser Sätze formt die „Theorie“ des betreffenden Gebietes aus. Von „Wissenschaft“ wird nur dann gesprochen, wenn es um Begründung von Wissen und damit um Theorie geht.

Die Angleichung beider Begriffe im gegenwärtigen Sprachgebrauch und ihre Gleichsetzung mit einer wohlgeordneten Begründungsfolge von Sätzen verdeckt die ursprüngliche Begrifflichkeit von „Wissenschaft“ und „Theorie“. Episteme, der klassische Ausdruck für „Wissen“ und „Wissenschaft“, bezieht sich nicht primär auf eine Einheit von Sätzen, sondern auf eine menschliche „Habe“ (hexis), wie theoria nicht primär eine Sachverhaltseinheit, sondern eine Verhaltung (arete) meint. Ihr „Ort“ ist die Seele des Menschen. Was der Wissende „hat“, ist nach Aristoteles, der diesen Begriff von Platon her aufnimmt und analytisch durchreflektiert, die Fähigkeit, schlüssig abzuleiten oder zu beweisen: ἡ μὲν ἄρα ἐπιστήμη ἐστιν ἕξις ἀποδεικτική – eine Definition, die im christlich mittelalterlichen wie im frühneuzeitlichen [<<44] Aristotelismus in der Formulierung „Scientia est habitus conclusionum“ wiederkehrt.27 Die lateinische Version gibt sprachlich präzise an, dass Wissenschaft als Begriff in der Stufenfolge von Begründungen den Schlusssatz zur Grundlage hat. Episteme wie scientia bedeuten daher in der Regel „abgeleitetes und bewiesenes Wissen“, das der Mensch nur dann „haben“ kann, wenn er an Beweisgründen – dem Vorder- oder Grundsatz des Beweisverfahrens – teilhat, und dieses Gründe-Wissen ist nicht wiederum „wissenschaftlich“ ableit- und beweisbar. Es gehört zu jenen übergeordneten „Haben“, die Aristoteles nus und sophia, der christlich mittelalterliche Aristotelismus intellectus und sapientia nennt. Ihnen verdankt sich die Einsicht in Grundsätze (principia) der Wissenschaft und ihren Zusammenhang mit umfassenden Seins-Gründen (altissimas causas, quae sunt causae divinae).28 Wissenschaft, so lautet eine erste Implikation des klassischen Begriffs, ist Erkenntnis aus Prinzipien (cognitio ex principiis),29 die Prinzipienerkenntnis selbst aber ist nicht mehr Sache der Wissenschaft, sondern der Philosophie. Indem der Philosoph Begründungszusammenhänge untersucht, sieht er sich auf Prinzipien, die „ersten Gründe und Ursachen“ alles Seienden, verwiesen, die als für sich bestehende Sachverhalte lediglich anschauend hinzunehmen sind. Er verhält sich „theoretisch“ im Sinne von Anschauung, weil er Prinzipien nicht „erfinden“ und „aufstellen“, sondern nur finden oder entdecken kann.

Philosophie ist die theoretische Beschäftigung mit dem Gegenstandsbereich, der für die Wissenschaft letztlich grundlegend oder das „Erste“ ist, mit der Grundlegung des Wissens. Wie hängt dieses Erste, der Anfang des Denkens in Begründungsdingen, mit dem Ende zusammen? Ich verdeutliche das am klassischen Typus der empirischen Wissenschaft, der griechischen episteme. Wissenschaft, so haben wir gesagt, ist eine Einheit wahrer, begründeter Sätze. Wer Sätze als [<<45] wahr zu begründen sucht, muss sich, wie Platon und Aristoteles zuerst gesehen haben, auf Grundsätze zurückbeziehen. Der griechische Ausdruck für „Grundsatz“ ist arché (lat. principium). Dazu gehören Axiome (Sätze, die sich nicht weiter infrage stellen lassen), Thesen, die bezeichnen, was der Gegenstand einer Wissenschaft ist, und Hypothesen, die darauf verweisen, dass der Gegenstand Gegenstand einer Wissenschaft ist. Jede Wissenschaft – darin liegt ihr „axiomatischer“ Aufbau, den Aristoteles im Einzelnen durchanalysiert hat – besteht aus einer Folge von Begründungen, die sich in Grundsätze und begründete Sätze aufgliedert. Die begründeten Sätze heißen auch „abgeleitete“ oder „bewiesene“ Sätze, ihr Zusammenhang stellt dasjenige dar, was Aristoteles episteme nennt, also die Wissenschaft. Da die Grundsätze selbst nicht wissenschaftlich begründbar sind, müssen sie zuvor schon entdeckt, als solche zuvor gewusst und hinsichtlich ihrer Begründungsaufgabe verstanden sein. Dasselbe gilt von den in ihnen auftretenden Begriffen, den Grundbegriffen einer Wissenschaft, die nicht wiederum durch andere Begriffe definierbar sind. Als Grundbegriff müssen sie vielmehr schon zuvor gewusst und verständlich sein. Die Klärung der Grundsätze und Grundbegriffe, des Vor-Wissens, das wir vor aller Wissenschaft auf selbstverständliche Weise „haben“, ist Sache der Philosophie. Diese Unterscheidung bleibt bis hin zu Kant in Kraft. Wissenschaft ist Erkenntnis aus Prinzipien (also aus Sätzen); Philosophie ist Prinzipienerkenntnis.

b) Als doketische Einheit ist Wissenschaft der Inbegriff dessen, was gelehrt und gelernt werden kann – die Lehre. Ihr Problem ist die geordnete Mitteilung einzelner Lehrstücke, deren Zusammenhang untereinander und mit dem Lernen des Anfängers in einer Wissensdisziplin – der Mitteilungszusammenhang –, für den sich das Begründungsproblem ähnlich darzustellen scheint wie in der klassisch griechischen Wissenschaftsidee. Alles Lehren, so heißt es dazu wiederum bei Aristoteles, und alles Lernen geschieht aufgrund einer vorhergehenden Erkenntnis.30 Während diese Erkenntnis für die griechische episteme Sache der [<<46] theoria ist, wird sie in der christlich mittelalterlichen Wissenschaft, die scientia heißt, Sache des Glaubens.

Die doketische Einheit der Wissenschaft besteht in der geordneten Mitteilung des Wissens nach einzelnen Lehrstücken, ihrem lehrmäßigen Zusammenhang untereinander und mit dem Lernen des Anfängers in einer Disziplin. Bei Thomas von Aquin, dessen Begriffssprache als Beispiel für den christlich mittelalterlichen Wissenschaftsbegriff dienen mag, stellt sie sich in der Frage: Utrum sacra doctrina sit scientia, ob die Lehre der Heiligen Schrift eine Wissenschaft sei. Die Antwort erfolgt im Horizont des klassischen Begriffs von ihr, wonach alles Wissen eine aus Prinzipien bewiesene Erkenntnis ist, aber keine Wissenschaft diese selbst beweisen kann. Prinzipien, so lautet das nichtklassische Argument, werden nicht nur natürlich entdeckt, sie werden auf übernatürliche Weise geoffenbart. Was notwendig offenbart werden muss, sind die Prinzipien der sacra doctrina, die letztlich grundlegenden Sätze über das Dasein Gottes, die Erschaffung der Welt und die Sonderstellung des Menschen, deren Entdeckung nur wenigen Menschen möglich wäre, viel Zeit in Anspruch nähme und zudem mit Irrtum verbunden wäre.31 Die Gleichsetzung der heilsgeschichtlichen Prinzipien mit den Prinzipien der klassischen Wissenschaft, aus denen auf demonstrativem Weg weitere Sätze über das Verhältnis Gottes zum Menschen abgeleitet werden können, begegnet einem doppelten Einwand. Einmal geht die sacra doctrina nicht auf eine wie immer verstandene Philosophie, sondern auf Glaubensartikel zurück, die als solche nicht durch sich selbst einsichtig und deshalb auch nicht für alle Menschen annehmbar sind. Zum anderen handelt sie von einzelnen Ereignissen (singularia), etwa von den geschichtlich bezeugten Taten Abrahams, Isaaks, Jakobs und Ähnlichem, und vom Einzelnen gibt es keine Wissenschaft (scientia non est singularium).32 Beiden Einwänden begegnet Thomas mit der doketischen Einheitsthese. Die Wissenschaften sind untereinander so gegliedert, dass die einer höheren Wissenschaft untergeordnete Wissenschaft [<<47] keine durch sich selbst einsichtigen Prinzipien haben muss. Wie die Kunst der Perspektive oder der Musik ihre Prinzipien von der Geometrie und Arithmetik übernehmen, so die sacra doctrina von einer übergeordneten Wissenschaft, die Thomas scientia dei et beatorum nennt – die Wissenschaft Gottes und der Seligen, die dem Menschen durch die Offenbarung der Heiligen Schrift zuteilwird. Dass die Heilige Schrift Einzeldinge zum Gegenstand hat und in eine Vielheit von Geschichten zerfällt, stellt für Thomas keinen Einwand dar, weil sie davon nicht „principaliter“, also in der Weise von Grundsätzen, Gebrauch macht. Das Einzelne ist nur insofern Gegenstand der sacra doctrina, als es auf ein Allgemeines, das exemplum vitae in Geschichten hinzeigt (z. B. in der alttestamentarischen Geschichte von Joseph und seinen Brüdern) oder zum Erweis der Autorität jener Männer beiträgt, durch die dem Menschengeschlecht die göttliche Offenbarung zuteilgeworden ist.33 Die sacra doctrina heißt so mit Fug und Recht scientia – eine Wissenschaft, die ihre Prinzipien von anderswo übernimmt, nämlich vom Glauben an die göttliche Offenbarung, durch welche die letztlich grundlegenden Fragen, die der Mensch stellen kann, ein für alle Mal beantwortet sind.

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