BGB-Schuldrecht Allgemeiner Teil

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Teil I Grundlagen › § 3 Schuldrechtliche Pflichten – Einteilung und Abgrenzungen

§ 3 Schuldrechtliche Pflichten – Einteilung und Abgrenzungen

Inhaltsverzeichnis

I. Leistungspflichten (§ 241 Abs. 1)

II. Schutzpflichten (§ 241 Abs. 2)

III. „Schulden“ und „Haften“

IV. Naturalobligationen

V. Obliegenheiten

VI. Lösung Fall 7

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Fall 7:

A kauft für sein Studium in Münster das gebrauchte und individuell lackierte Hollandrad der B für 300 Euro (was dem Wert des Fahrrads entspricht). A zahlt sofort. B soll A das Fahrrad in einer Woche vorbeibringen. Am nächsten Tag lässt B das Fahrrad unabgeschlossen vor einem Buchladen stehen. Als B aus dem Laden kommt, ist das Fahrrad weg; ihre anschließende Suche hat keinen Erfolg. B hatte das Fahrrad versichern lassen und erhält die vereinbarte Versicherungssumme von 200 Euro.

Welche Ansprüche hat A gegen B? Lösung Rn 126

Fall 8:

T ist stolzer Besitzer eines Huskys mit dem Namen „Chuck“ und steht vor dem Antritt einer dreiwöchigen Urlaubsreise. Sein Bekannter S, der ebenfalls einen Husky namens „Trevor“ besitzt, erklärt sich bereit, Chuck während Ts Abwesenheit bei sich aufzunehmen. Der schusselige S lässt beide Huskys bei einem Spaziergang auf dem Waldweg an einer unübersichtlichen Stelle freilaufen, obwohl dort reger Radverkehr herrscht. Chuck wird beim Zusammenstoß mit einer E-Bike-Fahrerin verletzt.

Welche Ansprüche hat T gegen S?

Fall 9:

K kauft im Sportgeschäft der V ein Paar neue Sneaker des Herstellers N. Zwei Tage später erhält V ein Schreiben von N. Die Schuhe aus der aktuellen Charge sind mit einem gefährlichen Färbemittel in Kontakt gekommen, welches auch in geringen Dosen gesundheitsschädlich ist. Sie dürfen nicht weiterverkauft werden. V nimmt die Schuhe aus dem Sortiment. Allerdings ist sie sich nicht sicher, welche Verpflichtungen sie gegenüber K hat. V fragt ihre Tochter T, die im zweiten Semester Jura studiert, um Rat.

Was wird T antworten?

Fall 10:

A, B, C und D haben sich in der Vorlesung „Schuldrecht I“ kennen gelernt und treffen sich abends in einer Kneipe, um gemeinsam um Geld das Kartenspiel Doppelkopf zu spielen. Am Ende des langen Abends zeigen sich C und D als die großen Verlierer – beide schulden A und B jeweils 5 Euro.


a) C weigert sich von vornherein, zu zahlen. Schließlich wisse doch jeder, dass Spielschulden nur Ehrenschulden seien. Als A darauf hinweist, dass C doch eine vertragliche Verpflichtung treffe, erwidert C nur: „Verklag mich doch!“ Kann A mit Erfolg klagen?
b) D zahlt ihre Spielschulden unmittelbar an A und B. Dann bekommt sie deren Diskussion mit C mit. Auch D meint, sie habe in der Vorlesung davon gehört, dass Spielschulden Ehrenschulden seien. Nun verlangt sie das an A und B gezahlte Geld zurück – mit Recht?

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Es gibt verschiedene schuldrechtliche Pflichten, die es auseinanderzuhalten gilt. Die Unterscheidung ist kein Glasperlenspiel, sondern eine praktische Notwendigkeit: Wenn A von B Schadensersatz wegen einer Pflichtverletzung verlangt, müssen wir wissen, um welche Pflicht es geht: Gem. § 280 Abs. 3 kann Schadensersatz „statt der Leistung“ nur unter bestimmten zusätzlichen Voraussetzungen verlangt werden. Geht es um die Verletzung aus § 241 Abs. 2 ist beispielsweise § 282 einschlägig, nicht aber bei der Verletzung von Leistungspflichten aus § 241 Abs. 1, für die § 281 gilt. Die Maßstäbe der Normen sind aber unterschiedlich: Für § 282 ist entscheidend, ob die Leistung weiterhin zumutbar ist, während § 281 grundsätzlich den erfolglosen Ablauf einer Nachfrist voraussetzt.

Teil I Grundlagen › § 3 Schuldrechtliche Pflichten – Einteilung und Abgrenzungen › I. Leistungspflichten (§ 241 Abs. 1)

I. Leistungspflichten (§ 241 Abs. 1)

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Leistungspflichten entstehen, wie § 241 Abs. 1 sagt, aus einzelnen Schuldverhältnissen. Sie verwirklichen das Interesse des Gläubigers, das vertraglich Vereinbarte unmittelbar zu erhalten (Leistungsinteresse). Wenn ich ein Auto verkaufe, trifft mich die Leistungspflicht aus § 433 Abs. 1 S. 1: Ich muss das Auto dem Käufer übergeben und es ihm übereignen. Natürlich soll ich auch meinerseits das vertraglich Vereinbarte erhalten, also den Kaufpreis (§ 433 Abs. 2). Diese Leistungspflichten können auch durch Klage geltend gemacht und zwangsweise von Gerichten und Vollstreckungsbehörden durchgesetzt werden.[1]

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Dass Leistungspflichten als Zwangsrechte ausgestaltet sind, ist nicht selbstverständlich. Im englischen Recht sind Leistungspflichten nicht ohne Weiteres auch durch korrespondierende Klagerechte gestützt.[2] Ob der Gläubiger die Leistungspflicht selbst prozessual durchsetzen, also specific performance verlangen kann, oder ob er sich mit Schadensersatz begnügen muss, steht im Ermessen des Richters. In der Praxis unterscheiden sich englisches und deutsches Recht allerdings weniger, als es die unterschiedlichen Ausgangspunkte erwarten ließen.[3] Im deutschen Recht kann schon wegen verfahrensrechtlicher Grenzen oft nur Schadensersatz durchgesetzt werden, so etwa bei Dienstpflichten (vgl § 888 Abs. 3 ZPO). Umgekehrt gewähren auch englische Gerichte specific performance, wenn Schadensersatz nicht ausreicht, um das Gläubigerinteresse zu befriedigen. Wenn der Schuldner etwa eine einzigartige Sache liefern soll, für die sich kein Ersatz am Markt finden lässt, ist die Leistungspflicht auch im englischen Recht durchsetzbar.

1. Funktionen und Bedeutung

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Wenn die Vertragsparteien sich auf Augenhöhe begegnen, werden beide Leistungen häufig gleichwertig sein. Insofern kann man auch davon sprechen, dass Leistungspflichten das Äquivalenzinteresse befriedigen, also das Interesse daran, im Austausch für die eigene Leistung eine Leistung gleichen Wertes zu erhalten. Leistungspflichten zielen in der Regel auch darauf ab, die bestehende Güterverteilung zu verändern:[4] Wenn ich mein Auto gegen ein Pferd tausche, zielen die Leistungspflichten aus § 433 Abs. 1 S. 1 iVm § 480 darauf ab, dass Auto und Pferd den Eigentümer wechseln. Selbstverständlich ist das Trennungsprinzip zu beachten: Erst durch einen weiteren „dinglichen Vertrag“ (Verfügungsgeschäft) geht das Eigentum über und wird die Leistungspflicht iSd § 362 Abs. 1 erfüllt.

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Aus den jeweiligen Hauptleistungspflichten ergibt sich die Zuordnung zu den Vertragstypen. Wenn eine Sache gegen Geldzahlung (vgl § 433 Abs. 2) übergeben und übereignet werden soll (vgl § 433 Abs. 1 S. 1), liegt ein Kauf vor. Wird eine Sache gegen Übergabe und Übereignung einer anderen Sache übergeben und übereignet, haben wir es mit einem Tausch zu tun (§ 433 Abs. 1 S. 1 iVm § 480). Wenn der Gebrauch einer Sache gegen Geldzahlung (Miete, vgl § 535 Abs. 2) gewährt wird (vgl § 535 Abs. 1 S. 1), geht es um einen Mietvertrag. Ohne Einigung über die jeweiligen Hauptleistungspflichten kommt in der Regel kein Vertrag zustande, denn die Hauptleistungspflichten gehören ebenso wie die Vertragsparteien zu den essentialia negotii.[5] Davon gibt es allerdings Ausnahmen: Gelegentlich kann eine Leistung durch eine Partei oder einen Dritten bestimmt werden, so nach den §§ 315-317[6] und den §§ 612 Abs. 2, 632 Abs. 2.[7]

 

2. Nebenleistungspflichten

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Die Hauptleistungspflichten werden durch spezifische Nebenpflichten ergänzt, die dem Leistungsinteresse dienen. Man nennt diese Pflichten Nebenleistungspflichten oder leistungsbezogene Nebenpflichten.[8] Sie verwirklichen wie die Hauptleistungspflichten selbst das Äquivalenzinteresse. Es gibt ausdrücklich geregelte Nebenleistungspflichten, wie etwa die Auskunfts- und Rechenschaftspflicht in § 666 oder die Pflicht zur Abnahme der Kaufsache nach § 433 Abs. 2 Var. 2. Häufig folgen Nebenleistungspflichten aus der (ergänzenden) Vertragsauslegung (§§ 133, 157) und dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242). So ist beispielsweise der Verkäufer eines Elektrorollers verpflichtet, den Käufer auf Gefahren hinzuweisen und über die richtige Bedienung aufzuklären. Ob Pflichten im Einzelfall als Nebenleistungspflichten das Leistungsinteresse schützen, hängt bei Verträgen vom konkreten vertraglichen Leistungsprogramm ab.[9]

3. Primärleistungspflichten und Sekundärleistungspflichten

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In Prüfungsarbeiten muss zwischen Primärleistungspflichten und Sekundärleistungspflichten unterschieden werden. Das Schuldverhältnis ist in erster Linie auf Erfüllung der Primärleistungspflichten gerichtet – also der Hauptleistungspflichten und der sie begleitenden Nebenleistungspflichten (auch: leistungsbezogene Nebenpflichten). Durch bestimmte Ereignisse – oft nach Entstehung des Schuldverhältnisses – können aber Ereignisse eintreten, die die Pflichtenrichtung ändern. So kann sich, wenn sich das ursprünglich Vereinbarte wegen Unmöglichkeit (§ 275) nicht verwirklichen lässt, die Pflicht des Schuldners in eine Schadensersatzpflicht umwandeln.[10] Auch kann der Schuldner zur Ersatzherausgabe verpflichtet sein (§ 285). Solche Pflichten nennt man Sekundärleistungspflichten, weil sie gegenüber den Primärleistungspflichten erst „in zweiter Linie“ relevant werden. Ansprüche, die auf Verletzung von Sekundärleistungspflichten gerichtet sind, setzen anders als Primärleistungsansprüche regelmäßig Vertretenmüssen voraus (vgl § 280 Abs. 1 S. 2).

4. Tun und Unterlassen (§ 241 Abs. 1 S. 2)

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§ 194 Abs. 1 erfasst ein „Tun oder Unterlassen“ als Bezugspunkt des Forderungsrechts. Auch in § 241 Abs. 1 S. 2 ist die Unterlassung als möglicher Forderungsgegenstand einer Leistung eigens erwähnt. Wenn eine Ärztin ihre Praxis veräußert, kann der Erwerber beispielsweise vertraglich berechtigt sein, von der Ärztin die Unterlassung einer Praxisneueröffnung in der Nachbarschaft zu verlangen (vertraglich vereinbartes Wettbewerbsverbot). Auch kann beispielsweise der Käufer eines Pferdes kraft vertraglicher Vereinbarung mit dem Verkäufer verpflichtet sein, das Pferd nicht zu schlachten und zu verwursten.

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Die in § 241 Abs. 1 S. 2 geregelten Unterlassungspflichten werden auch als selbständige Unterlassungspflichten bezeichnet. In dem Begriff kommt zum Ausdruck, dass diese Pflichten ohne Weiteres selbständig eingeklagt werden können. Bei Unternehmenskäufen (§ 453) vereinbaren Käufer und Verkäufer in der Praxis häufig ausdrücklich ein Wettbewerbsverbot: Der Verkäufer soll dem Käufer des Unternehmens nach dem Verkauf keine Konkurrenz machen. Aus dieser Vereinbarung folgt eine (selbständige) Unterlassungspflicht des Verkäufers. Das gilt natürlich nur, soweit das Wettbewerbsverbot wirksam ist. Die Vereinbarung muss kartellrechtliche Regeln beachten; sie kann auch sittenwidrig iSd § 138 sein. Nach der Rechtsprechung des BGH ist beispielsweise ein zeitlich unbefristetes Wettbewerbsverbot wegen der damit verbundenen Einschränkung der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) sittenwidrig iSd § 138 Abs. 1.[11]

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Unterlassungspflichten können aber auch als Schutzpflichten iSd § 241 Abs. 2 entstehen. Dann spricht man auch von unselbständigen Unterlassungspflichten. Praktisch sind sie beispielsweise im Arbeitsrecht wichtig. In Arbeitsverträgen sind stark ausgeprägte Rücksicht- und Treuepflichten prägend. Arbeitnehmer dürfen zwar außerhalb ihrer Arbeitszeit anderen Tätigkeiten nachkommen. Allerdings müssen sie sich für die Interessen des Arbeitgebers und das Gedeihen des Betriebes einsetzen und deshalb alles unterlassen, was dem Arbeitgeber oder dem Betrieb abträglich ist. Dazu gehören insbesondere auch Tätigkeiten bei konkurrierenden Unternehmen.[12] Wenn ein wissenschaftlicher Mitarbeiter einer juristischen Fakultät gleichzeitig bei einem kommerziellen Repetitor arbeiten möchte, dürfte ihn seine Treuepflicht regelmäßig daran hindern – jedenfalls dann, wenn an seinem Lehrstuhl maßgeblich das uniinterne „Unirep“ betreut wird. Auch kann ein Vermieter von Gewerberäumen nach Treu und Glauben (§ 242) verpflichtet sein, den Mieter gegen Konkurrenz im selben Haus zu schützen.[13] Wie weit die jeweiligen Pflichten reichen, ist von den konkreten Einzelfallumständen abhängig.

Teil I Grundlagen › § 3 Schuldrechtliche Pflichten – Einteilung und Abgrenzungen › II. Schutzpflichten (§ 241 Abs. 2)

II. Schutzpflichten (§ 241 Abs. 2)

1. Begriff und Funktion

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Gem. § 241 Abs. 2 kann das Schuldverhältnis (im weiteren Sinne) „nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten.“ Solche Pflichten nennt man Schutzpflichten.[14] Anders als die in § 241 Abs. 1 geregelten Leistungspflichten zielen sie nicht auf einen bestimmten Erfolg oder die Vermögensmehrung des Gläubigers. Sie schützen ihn vielmehr in anderen Interessen und Rechten, so wie sie ganz unabhängig vom Leistungsaustausch bestehen. Der Gläubiger darf beispielsweise nicht in seinen Eigentumsrechten, in seiner körperlichen Integrität oder auch in seinen sonstigen Vermögensinteressen verletzt werden. Pflichten iSd § 241 Abs. 2 schützen in diesem Sinne das Integritätsinteresse des Gläubigers.

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Anders als die Leistungspflichten iSd § 241 Abs. 1 (einschließlich der Nebenleistungspflichten) sind Schutzpflichten iSd § 241 Abs. 2 nur unter bestimmten Voraussetzungen einklagbar.[15] Ihre Verletzung wird in erster Linie durch Schadensersatzansprüche sanktioniert (vgl § 280 Abs. 1 und §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 282). Schutzpflichtverletzungen können bei gegenseitigen Verträgen auch ein Rücktrittsrecht begründen (§ 324). Bei der eigenständigen Einklagbarkeit (etwa der Pflicht der Malermeisterin, mein Klavier nicht während des Streichens zu beschädigen) war die früher hM skeptisch: Nicht ausdrücklich geregelte Schutzpflichten wurden als nicht einklagbar angesehen.[16] Heute ist man zu Recht großzügiger: Schutzpflichten sind einklagbar, wenn eine Rechtsverletzung droht, die verletzte Pflicht inhaltlich hinreichend bestimmt ist und ein Schutzbedürfnis des Gläubigers besteht.[17]

2. Inhalt und Reichweite

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Inhalt und Reichweite konkreter Schutzpflichten ergeben sich aus dem jeweiligen Schuldverhältnis und den individuellen Umständen des Sachverhalts. Geleitet wird die Bestimmung von Schutzpflichten vom Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242). Bei Verträgen ist wiederum die (ergänzende) Vertragsauslegung (§§ 133, 157) ein wichtiges Begründungsinstrument. Die Begründung von Schutzpflichten lässt sich damit rechtfertigen, dass die Parteien durch das Schuldverhältnis in eine engere Verbindung zueinander getreten sind. Diese schuldrechtliche Sonderverbindung geht mit erhöhten Gefahren für die jeweiligen Rechte und Interessen der Parteien einher. Daher kann auch größere gegenseitige Rücksichtnahme eingefordert werden. Zugleich folgt daraus, dass es für die Intensität der jeweiligen Schutzpflichten auch auf die Intensität des jeweiligen Schuldverhältnisses ankommt: Bei langfristigen Bindungen (etwa bei Mietverträgen) sind weitergehende Schutzpflichten gerechtfertigt als bei punktuellen Austauschverträgen (etwa dem Kaufvertrag). Intensivere Schutzpflichten sind auch eher möglich, wenn ein Schuldverhältnis von persönlichen Pflichten geprägt ist (wie etwa bei Dienst- oder Werkverträgen).[18]

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Schutzpflichten können auf gegenseitige Fürsorge gerichtet sein, also beispielsweise darauf, Gefahren für Leben oder Gesundheit zu vermeiden.[19] Wer im Rahmen eines Schuldverhältnisses Sachen des anderen erhält, muss auf diese gut achten (Obhutspflichten): Wenn ich mein Fahrrad zur Reparatur gebe, muss die Werkstattinhaberin Sorge für mein Fahrrad tragen und darf es nicht etwa unverschlossen vor ihrer Werkstatt stehen lassen. Die Parteien können auch Aufklärungspflichten treffen, die jeweils andere Seite auf bestimmte Dinge hinzuweisen und über sie zu informieren. Unter welchen Voraussetzungen Aufklärungspflichten bestehen und welchen konkreten Inhalt sie haben, ist eine Frage des Einzelfalls und des jeweiligen ökonomischen Kontexts.[20] Die Interessenlage der Parteien, ihr jeweiliger Erfahrungsschatz, der ökonomische Hintergrund des Geschäfts und auch die Natur des Schuldverhältnisses sind relevant. So können Aufklärungspflichten eher bei Verträgen bestehen, in denen es (auch) um die Wahrung fremder Interessen geht (wie etwa dem Auftrag). Eine Partei kann auch wegen ihrer besonderen Fachkunde aufklärungspflichtig sein.

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Schutzpflichten können schon bestehen, bevor überhaupt ein Schuldverhältnis zustande gekommen ist. Das zeigt § 311 Abs. 2: Schutzpflichten aus § 241 Abs. 2 entstehen beispielsweise schon durch die Anbahnung eines Vertrages. Wenn A einen Klamottenladen betritt, treffen die Inhaberin des Ladens ihm gegenüber schon vor Vertragsschluss Schutzpflichten. Sie muss etwa den Boden rutschfrei und frei von Stolperfallen halten. Auch wenn die Leistungen ausgetauscht sind, können weiterhin Schutzpflichten bestehen: Etwa zur Warnung über Gefahren gekaufter Produkte. Solche Schutzpflichten nennt man auch nachwirkende Nebenpflichten oder nachwirkende Schutzpflichten. Zu ihnen gehören auch Pflichten zur Bereithaltung von Ersatzteilen oder zum Rückruf von Produkten.

 

So liegt es auch in Fall 9: Mit dem Austausch der Leistungen ist der Kaufvertrag vollzogen. Dennoch trifft V eine nachwirkende Schutzpflicht gegenüber K: Sie muss K darüber informieren, dass die von ihr gekauften Schuhe gesundheitsschädliche Substanzen enthalten. T wird ihr daher mitteilen, dass sie verpflichtet ist, K zu kontaktieren oder – wenn V keine Kontaktdaten besitzt – die Käufer durch öffentliche Bekanntmachung aufzuklären. Kommt V ihrer Schutzpflicht nicht nach, können hierdurch Ansprüche der K auf Schadensersatz aus §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2 entstehen.

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Soeben haben wir gesehen: Schutzpflichten bestehen vom Vorfeld der Entstehung über die Vertragsdurchführung bis hin zu der Zeit danach. Manche postulieren daher ein eigenständiges gesetzliches Vertrauensschuldverhältnis als Grundlage der Schutzpflichten.[21] Andere differenzieren: Das Gesetz sei Entstehungsgrund für die Schutzpflichten vor Entstehung (§ 311 Abs. 2), danach ergäben sich die Schutzpflichten aus dem jeweiligen Schuldverhältnis (bei Verträgen also aus dem Vertrag).[22] Der Gesetzgeber der Schuldrechtsreform 2002 hat diese Frage bewusst offengelassen.[23] In der praktischen Rechtsanwendung sowie in Klausuren spielt die Antwort auf sie kaum eine Rolle. Die Grundlage von Schutzpflichten lässt sich schlicht aus gesetzlichen Normen begründen: Wenn ein Vertrag vorliegt, lassen sich aus diesem Vertrag in Verbindung mit § 157 sowie § 242 Schutzpflichten begründen. Vor Vertragsbegründung gibt § 241 Abs. 2 unproblematisch eine Grundlage für die Schutzpflichten. Bei nichtigen Verträgen kann § 311 Abs. 2 Nr 3 („ähnlicher geschäftlicher Kontakt“) herangezogen werden, um Schutzpflichten zu begründen.[24] Nach Einschätzung des Gesetzgebers können solche Pflichten trotz der Nichtigkeit eines Vertrages bestehen.[25] Beim nachbarschaftlichen Gemeinschaftsverhältnis sind einzelne Rücksichtspflichten in der Rechtsprechung anerkannt, im Wesentlichen gelten aber die §§ 906 ff.[26]

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