Ich mag eher Katzen. Wir hatten eine pechschwarze Katze, aber sie hat ihre sieben Leben ziemlich zügig aufgebraucht. Zweimal erwischte sie der Nachbarshund und zerzauste sie, zweimal geriet sie unter ein Auto und zweimal hatte sie eine fast tödliche Infektion.
In New York hatten wir mal eine zugelaufene Katze. Wegen dieser schönen, alten Feuerleitern können Katzen sich in New York aussuchen, wo sie wohnen wollen. Wenn ich nach der Arbeit nach Hause kam, habe ich mir meinen Chillum angezündet und mein Six Pack of Schäfer ausgepackt. Dann hat sich die Katze neben mich gesetzt und an dem Chillum geschnuppert, direkt an der Glut. Ich habe in den Fernseher geglotzt, die Katze an die Wand, und beide sagten wir uns: »Too much, man, just too much, man.«
Rosa, die Tante von meinem Freund John, lebte auch in solch einem Haus in New York, sie hatte auch eine Katze. Sie glaubte allerdings, die Katze sei die Reinkarnation ihrer Mutter und hätschelte das Tier entsprechend.
Bei Reinkarnation fällt mir ein: Nachdem mein Bruder in Indien gestorben war, stellte seine Witwe in der Schweiz die Urne im Schlafzimmer auf den Kaminsims. Neben der Urne kroch ein Riesenkäfer umher, und sie dachte, das wäre ihr verstorbener Mann. Das ist natürlich albern. Wenn man schon als Riesenkäfer reinkarniert, warum soll man sich dann ausgerechnet neben seiner Urne aufhalten? Oder? Ich möchte doch nicht immer an meinen Tod erinnert werden. Apropos Käfer: Ich habe mal meine Stammtischschwester Anna Mikula, die Kulturchefin der wöchentlich erscheinenden Wochenzeitschrift Die Woche, ziemlich angefreakt. Wir unterhielten uns über einen damaligen Zeit-Redakteur, der nicht wußte, wer Gregor Samsa ist, und Anna sagte: »Stell dir mal vor, der ist Redakteur eines solchen Hirnblattes wie der Zeit und weiß nicht, wer Gregor Samsa ist.« Ich guckte etwas stumpf vor mich hin, und dann wurde Anna allmählich irre an mir und sagte: »Aber gell, Harry, du weißt schon, wer Gregor Samsa ist?« Darauf ich: »Na, erlaube mal, ich werde wohl wissen, wer Gregor Samsa ist. Den habe ich doch selbst noch in Berlin in der Hasenheide kämpfen sehen. Gregor Samsa staatenlos.« Da brach eine Welt für sie zusammen. Gregor Samsa ist die Hauptfigur der Erzählung »Die Verwandlung« von Franz Kafka. Der wacht eines Morgens auf und ist ein Käfer.
Das klingt natürlich sehr einleuchtend: »Gregor Samsa staatenlos, habe ich noch selbst in der Hasenheide kämpfen sehen.« Aber eigentlich haben wir ja von deiner Schulzeit gesprochen...
Nachdem meine Eltern geheiratet hatten, mußten wir ins Allgäu umziehen, weil Kurt W. Marek, besser bekannt unter dem Namen C.W. Ceram, »Götter, Gräber und Gelehrte«, nach Amerika zog. Er war in Woodstock, und zwar in dem Woodstock. In Amerika war er aber sehr unglücklich, weil er nicht bedacht hatte, daß es für ihn offenbar zu spät war, Fremdsprachen zu lernen. Er fühlte sich in seiner Eigenschaft als Herzens-Amerikaner in Amerika immer kreuzunwohl. Aber auf diese Weise stand sein Haus leer, und deshalb zogen meine Eltern mit mir ins Allgäu. Dort bin ich in die Zwergschule gegangen. Eigentlich war es keine Zwergschule. Es gab acht Klassen mit vier Lehrern, also wurden immer zwei Klassen zusammen unterrichtet. Da war ich zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben ein richtig guter Schüler. Das lag an folgendem: Haschi Marek sagte mal: »Du hast es besonders schwer als Briefmarkensammler und Rasselbandeleser.« Aber dadurch wußte man automatisch mehr als sogar der Lehrkörper. In der Rasselbande kamen Titelgeschichten wie »Fiesta in Cuzco« vor. Also wußte ich, wo Cuzco liegt und was Fiesta bedeutet.
Als Briefmarkensammler kommt man ja auch in der Welt herum.
Ich habe nie bedauert, daß ich mal Briefmarken gesammelt habe, weil ich selbst riesige Filmschinken, die man eigentlich nur im Kino sehen dürfte, auch auf einem kleinen Bildschirm mit großem Genuß angucke. Ich kann mir vorstellen, wie das auf einer großen Leinwand aussieht, weil ich als ehemaliger Briefmarkensammler die Kunstschätze dieser Welt längst im Briefmarkenformat genossen habe.
In Lindenberg wurde damals gerade eine Oberschule fertiggestellt. Da ging aber niemand hin. Ich bestand heimlich die Prüfung zur Oberschule. Na ja, es war halb heimlich. Mein Vater durfte es nicht wissen, weil sein Motto war: Raus aus der Schule, rinn ins Geschäft. In Hamburg hätte ich mir das nie zugetraut. In Hamburg war ich sogar in der Volksschule ein schlechter Schüler. Aber im Allgäu suchten sie händeringend nach Schülern, möglichst evangelischen, weil die klüger waren. Kaum hatte ich die Prüfung bestanden, zogen meine Eltern wieder nach Hamburg. Auf der Oberschule dort war ich sofort wieder ein schlechter Schüler, wie sich das gehörte. Außerdem begann in Bayern das Schuljahr im Herbst und in Hamburg im Frühjahr, so daß ich eine Lücke von einem halben Jahr hatte, die bis heute nicht gestopft wurde. In der Albert-Schweitzer-Schule, wo wir gerade den Bauernkrieg durchnahmen, schrieb ich meine erste Eins in Geschichte, weil endlich mal was kam, das mich interessierte, Thomas Müntzer. In der Walddörfer Schule in Hamburg-Volksdorf waren sie bereits beim Ersten Weltkrieg, so daß meine Lücke vom Bauernkrieg bis zum Ersten Weltkrieg reicht. Es ist alles nicht mehr zu stopfen.
Ich bin in Geschichte nie über das 19. Jahrhundert hinausgekommen. Immer, wenn wir das abgehandelt hatten, war das Schuljahr zu Ende, und danach fingen wir wieder bei den Römern an. Unglücklicherweise war unser Geschichtslehrer auch Lateinlehrer, und er fand es angemessen, das zu kombinieren. Er ließ uns die mittelalterlichen Urkunden aus dem Lateinischen übersetzen.
Ich war in Latein auf der Walddörfer Schule quasi unzensierbar und bekam die erste Sechs minus. Da war ich so stolz. Dann habe ich mich bis zu einer zwei in Latein gesteigert, die ich auch ins Abitur hinübergerettet habe.
Bei mir war es genau umgekehrt. Ich hatte mich jahrelang mit knappen Vieren gerettet, weil meine Interpretation des miserabel übersetzten Textes ganz in Ordnung war, aber im Abitur bekam ich eine Sechs in Latein, weil es keine Interpretationsfrage gab.
In der Walddörfer Schule gab es einen Lateinlehrer, Professor Dr. Gumpricht, den ich aber glücklicherweise nicht hatte. Bei dem hätte man in Latein eine Interpretation verfassen müssen. Ich konnte krankheitsbedingt an einer Klassenfahrt nicht teilnehmen und wurde deshalb eine Klasse höher zu Dr. Gumpricht gesteckt. Die sprachen Latein miteinander, dabei waren das sogenannte Musen, bildende Kunstmusen. Das fing schon damit an, daß man das Datum sagte, was nicht leicht ist: Am dritten Tag der Iden des September.
Ich weiß. Ich habe beim Versuch, das Datum zu nennen, einen Lachkrampf bei meinem Lehrer ausgelöst.
Vor ein paar Jahren hatte ich eine Lesung in Bad Oldesloe. Da kam Herr Dombrowski, den ich in der Walddörfer Schule in Latein hatte. In der Albert-Schweitzer-Schule ging es ein bißchen anthroposophisch zu, das heißt, man machte mit ungeheurem pädagogischen Aufwand nichts. Herr Dombrowski, bei dem ich es von unzensierbar bis zu einer Zwei geschafft hatte, hat sich, um mich zu überraschen, aus dem Sekretariat der Walddörfer Schule meinen Notendurchschnitt in der Oberstufe besorgt. Ich hab einen richtigen Schreck bekommen. Das war immer eine solide Zwei. Damit war’s mit dem Mythos vorbei, ich wäre ein schlechter Schüler gewesen. Ich hatte zwar im Abitur eine Fünf in Mathe, aber die habe ich durch eine Eins in Deutsch ausgebügelt. Tja, da ging er hin, der Mythos. Ich war kein schlechter Schüler. Furchtbar! Dabei gab es in der Walddörfer Schule eigentlich gar keine Einsen. Zwei war das absolut beste, das man kriegen konnte. In meiner Klasse gab es immerhin drei Einsen. Johann Ulrich Siems-Weisbach in Latein, der war aber vorher auf dem Johanneum gewesen und konnte außer Latein gar nichts. Stoffel Weber in Musik. Der war aber damals schon aktiver Komponist und legt heute in Bhagwan-Discos Platten auf.
Was für eine Karriere!
Ganz so schlimm ist es nicht. Er hat sich inzwischen gefangen und bringt in München Schauspielern das Singen bei, weil die doch manchmal in irgendeiner Rolle singen müssen, und sie das an normalen Schauspielschulen nicht lernen. Wenn Leute, die nicht singen können, aber musikalisch sind, plötzlich trotzdem singen müssen, ist das eigentlich viel schöner, als wenn Sänger gleich singen.
Singen kann ich auch nicht. Im Grunde habe ich alle Fächer auf dem Weg zum Abi mit Fünf abgegeben, aber die konnte ich immer mit Mathe ausgleichen. Meinen Abitur-Notendurchschnitt will ich gar nicht wissen. Eine Eins kommt darin jedenfalls nicht vor.
Für meinen Abituraufsatz habe ich nicht nur eine Eins bekommen, sondern sogar noch eine Urkunde für den besten Abituraufsatz von Hamburg, Nordniedersachsen und Holstein. Über Max Frisch: »Gedanken nach einem Fluge.« Ich erinnere mich noch an einen brillanten Satz aus diesem Deutschabitur: »Inzwischen bemüht man sich, ethnische Animositäten in geregeltere Bahnen zu lenken. In Aschenbahnen zumeist.« Ist das nicht brillant?
Doch. Sehr.
Wir hatten bisher immer alle fünf Jahre Klassentreffen, aber inzwischen machen wir das aus Angst alle drei Jahre. Nicht nur aus Angst um Herrn Glockauer, unseren Klassenlehrer, den wir immer noch so lieben wie damals, sondern weil wir selbst auch immer älter werden. Gestorben ist von uns seltsamerweise noch keiner. Das scheint eine sehr gesunde Klasse zu sein. Wenn ich bedenke, wie wir in der blöden Albert-Schweitzer-Schule beim Sportfest der Hamburger Oberschulen immer die Walddörfer-Schüler beneidet haben, weil die alle Pokale abräumten. Ich war in Sport eine ausgesprochene Flasche, und dann auch noch in der Albert-Schweitzer-Schule, die nie irgendwas gewann. Als ich später in der Walddörfer Schule war, traf ich meine alten Kumpels Kümmel und Seitz und Láczi Kurucz wieder. Die waren in Zivil und ich in Schulsportkleidung, weil ich nämlich Ersatzmann der Schulstaffel war. Aus dem Stand. Toll, was?
Ich bin beeindruckt.
Dennoch bin ich wegen einer Fünf in Sport sitzengeblieben. In Mathe und Physik hatte ich auch Fünfen, aber die konnte ich ausgleichen, doch dann habe ich noch eine in Sport draufgekriegt, was eine Gemeinheit gegenüber dem Schlußmann in der Schwedenstaffel und Ersatzmann in der Schulstaffel ist. Im Sport wurden lauter Sachen geturnt, bei denen man sich die Eier quetschen konnte. Beim Rennen kann man das nicht. Und ich lief gar nicht mal übermäßig schnell. Ich hatte nur die Gabe, jeden zu überholen, der vor mir war. Deshalb war ich ein beliebter Schlußmann. Dabei habe ich so kurze Beine. Das war offenbar der Triumph des Willens. Bloß weg hier.
Bei mir ist das genau umgekehrt: Zu kurzer Oberkörper und zu lange Beine. Ich bin ein Sitzzwerg.
Ich habe einen zu langen Oberkörper und zu lange Arme. Die Hornhaut an den Fingerknöcheln kommt vom Nachziehen. Damit konnte man beim Laufen offenbar gut rudern. Beim letzten Klassentreffen haben wir nochmal die Schwedenstaffel durchgehechelt, das ist die 400, 300, 200 und 100 Meter-Staffel, also immer schneller. Ich wußte noch, daß Naschke die 400 Meter lief, 300 Meter weiß ich nicht mehr, 200 Meter war Wongi Schriever. Und der sagte: »Du wirst dich doch noch dran erinnern, daß ich dir das Staffelholz übergeben habe.« Und ich sagte: »Wongi, du hast nichts kapiert. Ich drehe mich doch nicht um, um zu sehen, wer mir das Staffelholz überreicht. Da bin doch längst losgerannt.« Das hat er dann auch eingesehen. Unser Klassenlehrer, Herr Glockauer, hat es nach dem Abitur immer mit den zwei oder drei Schönen aus der Klasse getrieben. Aber immer erst danach, weil es ja sonst Unzucht mit Abhängigen gewesen wäre. Wir sind nach dem Abitur in die Heide gefahren. Da hat ihm Petra Dietz, mit der das eigentlich schon mehr oder weniger klar ging, die Ärmel- und Hosenbeine seines Pyjamas zusammengenäht. Außerdem entfernte sie das Mittelstück seiner dreiteiligen Matratze und zog das Laken schön straff. Wir anderen saßen zum größten Teil noch unten und soffen, da kam er plötzlich in seinem Pyjama mit den zusammengenähten Ärmeln und Hosenbeinen und hat strahlend gesagt: »Wer hat das zusammengenäht? Die Frau werde ich heiraten!«
Und hat er sie geheiratet?
Nein. Er war und ist sehr konservativ, und ich bin ein linker Spinner, was ich auch damals schon war. Bei einem Klassentreffen sagte er mal: »Wie kommt es eigentlich, daß wir uns immer so gut verstanden haben?« Darauf ich: »Das lag wohl an der Solidarität der Demokraten.« Weil er zwar sehr konservativ ist, aber doch ein großer Nazi-Fresser. Bei unserem ersten Klassentreffen hat er sich darüber gewundert, daß so viele von uns Lehrer geworden sind. Ich sagte: »An Ihnen hat man eben gemerkt, daß Pauker zu sein doch nicht so übel sein muß.« Damals haben wir ihn noch gesiezt, inzwischen sagen wir Horst oder Jürgen. Er heißt zwar Horst-Jürgen, aber einen der beiden Namen kann er nicht leiden, ich vergesse immer, welchen. Er sagte: »Ich hab nun lange genug deine spitzen Sprüche angehört, und nach dem Abitur habe ich keine Lust, mir die weiter anzuhören.« Ich sagte: »Das war kein spitzer Spruch, das hab ich ernst gemeint.« Da ging er ganz schnell aufs Klo und kam nach fünf Minuten mit roten Augen zurück.
Hast du dich auch in der Schulpolitik engagiert, oder gab es so etwas zu deinen Zeiten noch gar nicht?
Doch. Johann Ulrich Siems-Weisbach und ich wechselten uns immer als Klassensprecher ab. Er war mal Vorsitzender der Schülermitverantwortung, also in der Schulpolitik ein ausgewiesener Crack. Wir machten aus, daß wir bei der nächsten Klassensprecherwahl uns selbst wählen. Das habe ich vergessen und ihn gewählt. Mit meiner Stimme wurde er Klassensprecher. Das hat meine Klasse ziemlich schnell bedauert und mich danach gleich wieder gewählt, weil ich die Gabe hatte, von einer Schülerratssitzung, die zehn Minuten gedauert hatte, 45 Minuten lang zu berichten, und das möglichst, wenn eine Mathearbeit anstand. Das war ja unser Recht. Glücklicherweise hatte ich kurz vor den APO-Zeiten Abitur, denn da wurde es ziemlich grimmig. Diese wild gewordenen Schüler haben nämlich unseren wunderbaren Schulleiter Herrn Brühl mehr oder weniger in den Tod getrieben. Der war ein wirklich angenehmer Linksliberaler. Und den haben sie schlecht behandelt. Als die Schülermitverwaltung eingeführt wurde, hat er mich sogar mal in der Pause ins Lehrerzimmer gebeten und gesagt: »Ich möchte, daß du dich da engagierst. Ich will mal ein bißchen Opposition spüren.« Davon hat er dann eine Menge abbekommen. Ich war zwar nicht mehr dabei, aber ich kann mir vorstellen, wie unangenehm das war, denn es hat ja besonders die Linken erwischt. Das hat man ja bei den Scheißstudenten gesehen. Die haben sich eigentlich mehr gegen Linke gewandt als gegen Leute, die die Polizei geholt hätten. Herrn Brühl hatten wir in Geschichte und Gemeinschaftskunde, und da hat er einmal wunderschön mit verteilten Rollen eine pazifistische Veranstaltung im Curiohaus in der Rothenbaumchaussee vorgespielt, die von der SA gestürmt wird. Es kamen darin verschiedene SA-Redner vor und der Rot-Front-Kämpferbund, der der SA einen auf die Mütze haut, und ein kommunistischer Redner. Berühmt waren auch seine Führer-Reden. »Kameraden, wir haben vierzehn Jahre lang darum gekämpft, daß die deutsche Frau wieder Mutter werden kann. UND WIR HABEN ES GESCHAFFT!!!!« An dieser Stelle ging die Tür auf und ein deutscher Schäferhund kam herein. Der wollte sein Frauchen abholen, irrte durch die Gänge und hörte plötzlich die Stimme des Führers, und da wollte er natürlich gucken, was Herrchen will.
Blondi?
Ja. Teil des musischen Abiturs war »Biedermann und die Brandstifter«. Wir hatten zu viele Mädchen in der Klasse. Und »Biedermann und die Brandstifter« war ursprünglich – ähnlich wie »Unter dem Milchwald« von Dylan Thomas – kein Theaterstück, sondern ein Hörspiel. Um der Mädchenschwemme zu steuern, haben wir den Chor, der im Hörspiel vorkommt, wieder eingeführt, und zwar nach dem Friedhofsgärtnerprinzip. Wenn man einen Friedhofsgärtner mit einer Schubkarre sieht, ist noch nichts. Wenn man zwei Friedhofsgärtner mit einer Schubkarre sieht, ist immer noch nichts. Aber wenn man nacheinander drei Friedhofsgärtner mit einer Schubkarre sieht, nimmt man doch an, daß die was im Schilde führen. Wir haben die Mädchen in schwarze Body-Stockings, Schuhe mit Stilett-Absätzen und echte schwarze Feuerwehrhelme gesteckt. Wenn der Chor auftrat, kam die erste rein, wapps, dann die zweite, wapps, dann die dritte, wapps, dann die vierte, wapps, dann die fünfte, wapps, dann die sechste, wapps, so daß man dachte, das hört ja überhaupt nie wieder auf. Soviel knackige weibliche Feuerwehrleute. Wenn alle auf der Bühne waren, stellten sie sich auf, sagten »WEHE!« und gingen wieder weg. Auf diese Weise waren alle versorgt.
Was hast du denn im »Biedermann« gespielt?
Na, den Biedermann, und zwar mit dem Anzug meines Vaters, einem angeklebten Schnurrbart und einer grauen Perücke. Könnte ich mir heute alles schenken. Auch das Kissen unter dem Anzug. An der spannendsten Stelle ging immer der Schnurrbart ab. Hinter der Bühne saß ein echter Polizist in Unterwäsche und las Illustrierte, weil in »Biedermann« ja auch ein Polizist vorkommt. Anstatt uns einfach eine Uniform zu leihen, sagte er: »Nee, nachher geht ihr los und verhaftet Leute.« Lieber saß er in Unterwäsche und in Socken hinter der Bühne, bis seine Uniform nicht mehr gebraucht wurde.
Ich habe nur einmal Theater gespielt, und zwar im Schullandheim Iserhadsche in der Lüneburger Heide. Das Stück hieß »Betragen ungenügend«. Meine Mitschülerin, die doppelt so groß war wie ich und meine Mutter spielte, wollte die Sache etwas realistischer gestalten und vermöbelte mich auf der Bühne, so daß ich am Ende benommen auf den Brettern lag und meinen Text vergessen hatte. Bei euch ging es vermutlich friedlicher zu.
Nicht unbedingt. Naschke spielte den Ringer Eisenring. Laut Handlung mußte ich vor ihm Angst haben. Ich hatte aber keine Angst vor ihm. Wenn ich ihn laut Regieanweisung freundlich gestupst habe, fiel der nach links in die Soffitten. Und dann sollte man auch noch spielen, daß man Schiß vor ihm hat, wenn er sich gerade wieder aufrappelte. Naschke war regieanweisungsresistent. Da wurde ein Gänsebraten aufgetragen, und Naschke sollte sich kämmen und sagen: »Mmmh, wie das schon duftet!« Mit dem Duft war natürlich der Gänsebraten gemeint. Der hat das aber immer so gespielt, daß man den Eindruck hatte, der riecht an seinem Kamm, mit dem er sich durch die Haare fährt. »Mmmh, wie das schon duftet!« Das war ihm nicht auszutreiben. Aber wie unser Klassenlehrer Herr Glockauer, der sich gezielt professionelle Inszenierungen von »Biedermann und die Brandstifter« angesehen hat, zu recht sagte: »Ihr wart einfach besser.« Ich habe mal so eine abgefilmte Inszenierung im Fernsehen gesehen, schwarz-weiß mit richtigen Schau. Herr Glockauer hatte völlig recht. Wir waren einfach besser.
2. Tag
Lehrzeit
RALF SOTSCHECK: Wir haben gestern über deine Schulzeit gesprochen. Hast du danach gleich mit der Lehre angefangen?
HARRY ROWOHLT: Nee. Erstmal mußte ich bei meiner Mutter noch ein bißchen Händchen halten. Die spielte in Baden-Baden in einem Fernsehspiel mit und hatte Schiß davor. Ich meine, als Schauspielerin soll sie schauspielern oder es lassen, aber nicht herumzicken. Dann durfte ich endlich, weil ich Abitur hatte, alleine nach Paris. Das war sehr angenehm. In Paris habe ich Edmond Lutrand kennengelernt, Rowohlt-Vertreter und literarischer Agent. Obwohl das Wort Agent nicht zu ihm paßt, da stellt man sich etwas anderes vor. Er und seine Frau Rita waren Ansprechpartner und Beichtiger von Autoren. Ich habe Paris erlebt und fand das wunderbar. In der Rue des Rosiers hatte ich eine Stammkneipe namens San Juan-les-Pins. Die wurde von arabischen Juden betrieben, und ein Ballon de rouge ordinaire kostete einen Franc. Dazu gab es vier Untertassen mit Essen, weshalb man für fünf Franc bestens ernährt war und auch ganz leicht einen im Tee hatte. Außerdem gab es tolle arabische Musik.
Was hast du denn in Paris gemacht, außer die Kneipenszene zu studieren?
Ich habe die Gegend erkundet, und Edmond Lutrand erzählte, er hätte mal in den Hallen gearbeitet. Weil er ziemlich klein war, habe ich ihn etwas ungläubig angesehen. Er sagte: »Stellen Sie sich mal gerade hin.« Das habe ich gemacht, und dann hat er mich mit einem Arm um die Hüfte gefaßt und hochgehoben. »Sagen Sie Bescheid, wenn ich Sie wieder runter lassen soll.« Eddie war nämlich Spanienkämpfer und danach in Paris in der Résistance. Und zwar im Untergrund, was insofern etwas paradox klingt, weil er für die Dächer im Quartier Latin verantwortlich war. Damals war ich noch schwindelfrei, und er hat mich auf eine Tour über sein altes Wirkungsfeld mitgenommen. Wir sind über die Dächer gekraxelt, haben uns hin und wieder an einem Schornstein festgehalten und eine Zigarette geraucht. Er erzählte mir, daß er heute noch durchschnittlich zweimal die Woche schweißgebadet aufwacht, weil er vom Dach mal eine Granate auf einen Waffen-SS-Trupp runtergeschmissen hat, daß ihm deren Zähne um die Ohren geflogen sind. Damit ist er nicht fertig geworden. Ich hab ihm gesagt: »Eddie«, denn inzwischen duzten wir uns, »du spinnst doch. Du als Jude und Linker und Spanienkämpfer wärst doch zu allererst dran gewesen.« Und Eddie sagte: »Ja, aber das nützt mir nichts, daß ich das weiß.« Es hat ihn mitgenommen, daß er keinen von denen persönlich kannte, so daß er auch auf keinen einzelnen eine persönliche Wut hätte entwickeln können. Deshalb kam er sich als Massenmörder vor, was ja sehr für ihn spricht. Daß er in der Résistance gekämpft hatte, hielt er so geheim, als wäre er in der Waffen-SS gewesen, weil er Angst hatte, er würde sonst diesen kleinen roten Knopf von der Ehrenlegion verpaßt bekommen. Und er kannte viele Honoratioren, die mit diesem kleinen roten Knopf herumliefen und die er alle nicht leiden konnte. Zu dieser Sorte wollte er nicht gehören. Eddie war wirklich ein großer Held.
Weil wir immer nach Griechenland fuhren, hat er mal gefragt, ob es dort Esel gebe. Ich hab ihm gesagt: »Ja. Nicht viele, aber ein paar gibt es dort schon.« »Gut«, sagte er, »dann komme ich nicht.« Er hatte nämlich mit Hilfe von bis zu zehn Eseln immer Waffen und Munition über die Pyrenäen geschmuggelt. Und wenn dann unsere Landsleute von der Legion Condor ankamen, mußte er bis zu zehn Esel verstecken. Aber Esel machen ja bekanntlich, was sie wollen. Die sehen nicht ein, daß die Legion Condor kommt und man sich deshalb jetzt besser mal unter eine Platane begibt, wo man nicht gesehen werden kann, besonders wenn man mit Dynamit beladen ist.
Wo war denn der Rest der Familie, während du in Paris warst?
Meine Mutter war in Baden-Baden. Das war die Zeit, als sie von mir verlangte, daß ich ihr wegen des Fernsehspiels beistehe, was ich nun als Gipfel der Unprofessionalität empfand. Als ich gerade eine knappe Woche in Paris war, hat sie angerufen, ich solle sofort zurückkommen, was mir gar nicht paßte. Ich hatte mir nämlich kurz vor Ostern eine Eintrittskarte für ein Seder-Mahl gekauft, und zwar aus ethnologischem Interesse, ein sephardisches Seder-Mahl. Auf dem Plakat stand: »Orientalischer Ritus, für die Hausangestellten von Groß-Paris«, und da dachte ich, daß ich auf diese Weise an die ganzen schönen schwarzen Jemenitinnen und die äthiopischen Jüdinnen herankäme. Aber meine Mutter sagte: »In Baden-Baden gibt es doch auch eine Synagoge. Ich melde dich für das hiesige Seder-Mahl an.« Das war kein richtiger Ersatz, aber immerhin. In Baden-Baden habe ich kurz vor diesem Seder-Mahl noch Karl Marx besucht.
Ich dachte, der liegt in London?
Karl Marx war damals Herausgeber der Allgemeinen Wochenzeitung der Juden in Deutschland, die inzwischen umbenannt wurde. Sie heißt immer noch so ähnlich, bloß nicht mehr ganz so lang. Marx mußte aus gesundheitlichen Gründen ganz oben auf dem Berg wohnen und traute sich nur selten ins Tal nach Baden-Baden. Marx sagte: »Das mit dem Seder-Mahl interessiert mich sehr. Gleich danach müssen Sie mich mal anrufen. Der Wachsmann, der neue Gemeindeälteste, hat nämlich keine Ahnung.« Es wurde dann sehr schön. Alle fingen an zu essen, nur wir nicht. Wachsmann rief zu uns rüber: »Warum fangt ihr denn nicht an zu essen?« Sagt der Wieselmann zum Wachsmann: »Wir warten auf’s Gemiiese!« Sagt der Wachsmann zum Wieselmann: »Worauf wartet ihr? Auf’n Messias?« »Nein«, sagt der Wieselmann zum Wachsmann, »auf’s Gemüüüse!« Das fand ich sehr komisch, und als es vorbei war, habe ich den Marx angerufen und ihm alles erzählt. »Ja«, sagte Karl Marx, »der Wachsmann hat eben keine Ahnung.« Noch heute, wenn ich den Namen Wachsmann hör, denke ich: »Der Wachsmann hat eben keine Ahnung.«
Was hat der Wachsmann?
Keine Ahnung. Mit dem Namen Moskowitz ist das ähnlich, da gibt’s von Georg Kreisler ein Lied auf seiner LP »Nichtarische Arien«. Das Lied handelt von Onkel Joschi, der sich immer schlecht benimmt, und er kommt irgendwo herein und sagt: »Sind Sie nicht der Moskowitz, der Steuerschulden hat?« Und seitdem ist für mich klar, der Wachsmann hat keine Ahnung, und der Moskowitz hat Steuerschulden.
Und nach dem Seder-Mahl in Baden-Baden?
Danach bin ich in die Lehre gegangen, nach Frankfurt am Main. Suhrkamp und Insel hatten gerade fusioniert. Zunächst wohnte ich bei Frau Ruff in einem möblierten Zimmer zur Untermiete. Das war die Hölle. Sie wäre es zumindest gewesen, wenn ich es zuhause nicht immer so furchtbar gefunden hätte. Ich habe da morgens Nescafé getrunken und ungetoastetes Toastbrot mit Erdnußbutter gegessen, was zuhause undenkbar gewesen wäre. Das ist für mich heute noch der Geschmack der Freiheit: ungetoastetes Toastbrot mit Erdnußbutter und dazu Nescafé, durch den die Erdnußbutter am Gaumen schmilzt. Traumhaft. So war das bei der wahnsinnigen Frau Ruff.
Bei uns gab es einmal im Monat Erdnußbutter, dazu frisches Weißbrot. Ich erinnere mich noch daran, wie man stundenlang versuchte, das Zeug mit der Zunge vom Gaumen abzukratzen. Aber wie war denn deine Lehre, mal abgesehen von Erdnußbutter und der wahnsinnigen Frau Ruff?
Als Lehrling bin ich die logischen Stationen durchlaufen... oder habe ich sie durchlaufen?
Es ist transitiv.
Also habe ich sie durchlaufen. Praktisch wie ein Buch. Angefangen habe ich in der Herstellung, die schönste Abteilung, bei der man als Lehrling gleich zu Anfang am meisten zu lernen hat. Satzanweisungen schreiben, Druckanweisungen schreiben – dabei merkt man tatsächlich, daß man etwas lernt. Mein direkter Vorgesetzter, Gerd Stroucken, der sehr viel später mein Trauzeuge wurde, war vorher am Eigelstein hinter dem Kölner Hauptbahnhof Zuhälter und Schriftsetzer gewesen – mit der Begründung: »Eins wird immer gebraucht.« Der hat mich nach allen Regeln der Kunst ausgebildet. Unser Herstellungs- und Abteilungsleiter war glücklicherweise auch kein Frankfurter. Herr Bendixen kam aus Flensburg. Er war, wie alle Nordfriesen, nicht sehr überschwenglich. Wenn man etwas wirklich toll gemacht zu haben glaubte, sagte er: »Ja, das ist gar nicht mal so gut.« Er wurde später wegen Suffs gefeuert. Dabei hätten wir ihn in der Herstellung mit durchgefüttert, wenn er sich nicht so dämlich angestellt und immer gesagt hätte: »Ich habe Tabletten genommen.« Als er längst gefeuert war, ist er noch monatelang morgens von zuhause weggegangen, hat sich in eine Kneipe gegenüber vom Suhrkamp Verlag gesetzt und immer geguckt, wie wir morgens hinkamen und abends wieder weggingen. Das ist alles sehr traurig. Er lag zum Schluß nur noch vor dem Fernseher und ging seltsamerweise, was ich gar nicht verstehen kann, nur vom Bier kaputt. Er trank gar keinen Schnaps, er aß nicht, bewegtanderene sich nicht, trank nur ungeheuere Mengen Bier und rauchte.
Die Abteilungen waren auch sehr angenehm. Weil Suhrkamp mit Insel fusioniert hatte, kamen wir in den Genuß der Insel-Kantine. Dort kochte Frau Schiller im Keller. Ihr Hund Senta, ein Schäferhund, bellte immer von oben durchs offene Fenster in die Erbsensuppe hinein. Dieser Frau Schiller habe ich einen sehr schmeichelhaften Vorfall mit Walter Boehlich zu verdanken. Frau Schiller fragte mich, wie groß ich sei? Und ich sagte: »Laut Personalausweis, ein Meter sechsundachtzig.« Und Frau Schiller, die aus dem Sudetenland stammte, sagte: »Do hätt der Herr Rowohlt gut in die SS kenna«, woraufhin Boehlich gemein lachte. Ich meine, wenn er einem nicht mal das zutraut, ist das doch sehr schmeichelhaft.
Hattest du in dieser Zeit irgendwelche Hobbys?
Ja, Catchen. Ich habe mal gegen Vijay, einen Inder aus Frankfurt, gecatcht. Er wurde allgemein »Neescher Wischi« genannt, weil der Frankfurter Vijay nicht sagen kann. In Frankfurt gab es damals eine italienische Catchergruppe mit allerersten Kräften. Hinter dem Namen der Catcher stand in Klammern das Land, aus dem sie kamen. Bei Benito Galan, einem Bad Guy, stand in Klammern dahinter: »Echter römischer Gladiator.« Ein anderer fürchterlicher Bad Guy hieß Quasimodo, in Klammern Notre Dame, das war ein Glatzkopf, so daß das Frankfurter Publikum brüllen konnte: »Eierkopp, Eierkopp, Eierkopp!«
Das brüllt wirklich jedes Catchpublikum bei einem Glatzkopf.
Der jedenfalls hat in dem wunderbaren Italo-Western »Töte, Django« von Giulio Questi mit Tomas Milian in der Hauptrolle einen Bad Guy gespielt. Er hatte nicht nur eine Glatze, sondern auch einen Grützbeutel im Nacken, eine gutartige Geschwulst in Größe eines Hühnereis, und seine Widersacher haben daran immer rumgemacht, und dann wurde er zum Tier, was ich gut verstehen kann. Weitere herausragende Kräfte in dieser italienischen Catchertruppe waren El Gregor, in Klammern Griechenland, und ein Türke namens Mustafa Shikane, in Klammern Orient. Damals war eine meiner Stammkneipen das Hellas am Hauptbahnhof, und da diskutierten wir die Leistungen dieser Catchertruppe. Ich posaunte herum, El Gregor, Griechenland, gehe mir dermaßen auf den Wecker, weil er ein Strahlemann und Good Guy sei, und außerdem habe er hängende Schultern. Dann hörte ich plötzlich links über mir eine Stimme: »Das mußt du mir genau erklären.« Das war El Gregor, Griechenland. Er war tatsächlich Grieche, und er ging natürlich ins Hellas, um zu essen und zu saufen. Ich stotterte: »Na ja, ich meine, im Grunde ist der Charakter, den du verkörperst, schon eine ziemliche Lichtgestalt und...« Aber da Catcher notorisch gewaltlose Menschen sind, und Catchen der gewaltloseste Berufsstand ist, den man sich vorstellen kann, ging es glimpflich ab.